Das Versteckte offenlegen?

Martina Feichtenschlager bringt uns in der Überarbeitung ihrer Dissertationsschrift ‚Entblößung und Verhüllung‘ in der hochmittelalterlichen Literatur näher

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der gegenwärtigen Zeit, in der einerseits durchaus noch ernstzunehmende ‚Dress-Codes‘ existieren – und befolgt werden –, erscheinen zumindest in der westlich geprägten Hemisphäre Entblößung und Enthüllung als lediglich latente Antagonismen, sind wir doch ob ‚virtuell‘ oder real-körperlich nur zu oft geneigt, uns zu entblößen, während die Verhüllung zwar potentiell vorhanden ist, allerdings im Kontext eines permanenten (Sozial-)Exhibitionismus kaum mehr eine ernstzunehmende Option darstellt.

Gehen wir mit den Untersuchungen Martina Feichtenschlagers, die dies freilich nicht als erste thematisiert hat, so sah dies im Mittelalter umgekehrt proportional aus; auch dort, wo Entblößung erfolgte, wurde – zumindest im literarischen Duktus – verhüllt. Die Metapher für diesen Vorgang ist, wie die Autorin an etlichen Beispielen aus der höfischen Epik belegt, die Präsentation des weiblichen Körpers im fragilen Kleid, dem ‚hemde‘. Auf knapp 340 Seiten werden bekannte Protagonistinnen mittelalterlicher Dichtung auf eben diese entblößende Verhüllung hin untersucht und die Aspekte des Normbruchs verdeutlicht.

Zu Beginn in einer etwas über 20 Seiten umfassenden Einleitung wird der definitorische Rahmen gesteckt, unter dessen Fokus die literarischen Figuren gestellt auf erzwungene Fragilität und Verletzlichkeit hin untersucht werden. Dabei wird gleich zu Beginn eine wesentliche Feststellung getroffen: „‘Entblößung‘, ‚Verhüllung‘, ‚Fragilität‘, ‚Verletzbarkeit‘ – so lauten jene Schlagworte, die sich im Titel dieser Studie finden. Was sich auf den ersten Blick als Gegensatzpaar liest, nämlich ‚Entblößung‘ und ‚Verhüllung‘ liegt in der mittelalterlichen Literatur doch recht nahe beieinander, indem nämlich die ‚Entblößung‘ häufig die Inszenierung einer Figur im fragilen Hemd meint.“

Mit dieser Feststellung, die in gewisser Hinsicht programmatische Hinführung, aber bereits auch Ergebnissicherung darstellt, hebt Feichtenschlager zum einen auf die literarisch-stilistische Funktionalität dieses antagonistischen Begriffspaares ab, verweist daneben aber – zumindest subkutan – auch auf die soziologische Ebene als die eines ‚Positionsmarkers‘. Dabei wird der Bogen weit geschlagen, neben Verweisen auf die ‚Ilias‘ finden sich auch Hinweise auf traumatisierte Vietnamveteranen der sechziger und siebziger Jahre. All das, so die Auffassung der Autorin sei Beleg dafür, dass Ausnahmesituationen nicht nur anders erinnert werden, sondern sich bestimmte Parameter des Darstellungsansatzes zumindest ähneln, das heißt hier wird das Postulat erhoben, dass Gewalterfahrungen im Kriege und das – weitgehende – Exponieren des weiblichen Körpers mit analogen posttraumatischen Belastungsstörungen zu verbinden seien. Hier, so scheint mir, wird der oben angesprochene Bogen doch überspannt, zumal die untersuchten Darstellungen ja literarischer Herkunft sind, also anderen, eben auch funktional begründeten Gesetzen gehorchen, als das für informativ-beschreibende Texte der Fall ist.

Gleichwohl ist es anregend, wie Feichtenschlager etwa das ‚Meta-Paar‘ Herzeloyde und Condwirarmurs aus dem Parzival hinsichtlich ihrer ‚tatsächlichen‘ Entblößung und damit allgemeinen gesellschaftlichen Exponierung untersucht respektive beschreibt. Hier werden etwa Parallelen im Textaufbau verdeutlicht, die das Muster der entsprechenden Darstellung verdeutlichen helfen. Über einen einzelnen literarischen Text hinaus greift der Vergleich zwischen Jeschute und Enite, wobei die Entblößung Jeschutes nicht allein am Text Wolframs, sondern auch am Original Chrétiens untersucht wird. Gleiches gilt auch für die Enite-Figur, der neben dem Roman Hartmanns von Aue ebenfalls die französische Vorlage Chrétiens gegenübergestellt ist.

Aus dem mittelhochdeutschen Kontext weicht die eingeschobene Thematisierung des altfranzösischen Lai de Narcisse ab, der, auf der Grundlage des Texts von Ovid beruhend, insofern etwas aus dem Rahmen fällt, als zwar die Selbstentblößung der liebeskranken Daphne in den Kontext der Verbindung zwischen Entblößen und Leiden gehört; allerdings ist in diesem Fall auch der unglücklich liebende Narziss Opfer und als Getriebener eher Leidender als Handelnder. Verdienstvoll ist es in jedem Fall, einen zumindest im deutschen Sprachraum eher peripheren Text nahegebracht zu bekommen, der eben auch einen Beleg für die offensichtlich lange vorhandene Antikenrezeption im mittelalterlichen Europa darstellt.

Quasi ‚eingeklammert‘ von zwei Heldinnen des ‚Tristan‘, Isolde Weißhand und Brangäne, deren unglückliche Rollen in diesem Roman über das Sujet der Ent- und Verhüllung aus anderer Warte beleuchtet werden, thematisiert die Autorin unter der wunderbar alliterierenden Überschrift ‚Körper, Kleid und Krise‘ die Konkurrenzsituation Kriemhilds und Brünhilds im Nibelungenlied. Auch hier macht Feichtenschlager deutlich, inwieweit die von ihr gesetzten Parameter auch in einer der gewalttätigsten Konkurrenzsituationen der Literaturgeschichte zum Tragen kommen. Hier entwickeln sich die Rollenmuster umgekehrt proportional: der nach dem anfänglichen Selbstverständnis der starken Autonomie erniedrigenden und einengenden ‚Zähmung‘ und Entblößung Brünhilds in die Rolle einer höfischen ‚frouwe‘, steht die aus solchen Klischees ausbrechende und letztlich im Unmenschlichen endende Entwicklung Kriemhilds gegenüber; symbolisch auch an der entsprechenden Kleidung deutlich auszumachen. Mit einer weiteren ‚Grenzverletzerin‘, der Gyburg-Gestalt aus Wolframs ‚Willehalm‘ wird die vorliegende Untersuchung abgeschlossen. Auch hier werden auf teils bekannter Grundlage interessante Details und Entwicklungslinien aufgezeigt, die – und das gilt auch für die anderen hier untersuchten Protagonistinnen mittelalterlicher Literatur – zur weiteren Beschäftigung anregen.

Zweifellos lesen sich die ‚Entblößungen‘ recht kurzweilig, was zwar im kontinentalen Wissenschaftsbereich und dem deutschsprachigen zumal oft genug als zumindest irritierend angesehen wird, andererseits ja gerade den (Lese-)Reiz angelsächsischer Publikationen ausmacht. So gesehen ließe sich vielleicht von einem ‚anglo-österreichischen‘ Duktus sprechen. Die Argumentation erscheint stringent, manches Bekannte wird unter neuem Blickwinkel dargestellt, manches Überraschende ‚entblößt‘, das heißt aus altbekannten Interpretationskontexten herausgenommen. Die Eingängigkeit der Formulierungen, die stringente Argumentation, aber auch manche überraschende Konstellation machen das Buch lesenswert, es führt zum einen in das Themenfeld ein, regt zum anderen aber auch zum Weitermachen an. Gleichwohl gibt es immer auch Einschränkungen: Die Bibliographie hätte meines Erachtens etwas umfangreicher sein könne, und auch ein Register wäre wohl nicht von Schaden gewesen. Daneben gilt überdies: Dem gegenwärtigen, visuell ausgerichteten Zeitgeist folgend, wären außer dem Titelbild aus dem Codex Manesse noch mehr Abbildungen wünschenswert, was dann freilich den Preis nach oben gedrückt hätte.

Der Anschaffungspreis, der zwar kein wirkliches ‚Schnäppchen‘ verspricht, sich insgesamt gesehen jedoch im Rahmen hält, ist sicherlich ein weiteres Argument dafür, das Buch auch in die private Bibliothek aufzunehmen, zumal die erwähnten Vorzüge des Buches, insbesondere sein Aspekt eines ‚work-in-progress‘, eine solche Anschaffung nahelegen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Martina Feichtenschlager: Entblößung und Verhüllung. Inszenierungen weiblicher Fragilität und Verletzbarkeit in der mittelalterlichen Literatur.
V&R unipress, Göttingen 2016.
239 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847105633

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