Grenzerfahrungen mit Welt und Werk Martin Walsers

Susanne Klingenstein spürt „Zauber und Wirklichkeit eines Schriftstellers“ nach

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh legte die an der Harvard MIT Division of Health Science and Technology lehrende Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein 2014 eine ebenso eindrucksvolle wie mehrschichtige Liebeserklärung vor: in erster Linie an „Mendele den Buchhändler“ und an die untergegangene Welt der jiddischen Literatur. Ergänzt und begleitet wurde die Wiederentdeckung Abramovitshs im deutschsprachigen Raum durch den dialogischen Essay Shmekendike Blumen von Martin Walser. Dabei gerät wohl – unwillkürlich – auch Walser und sein Werk zum Ausgangspunkt einer literarisch-literaturwissenschaftlichen Liebeserklärung Denn über ihr „Jahre hinweg“ dauerndes „literarisches Gespräch mit Martin Walser“ bemerkte Klingenstein:

Dieses Buch entstand als Teil unserer lebhaften Diskussion über Kafka und das jüdische Schreiben, in der wir beide dickköpfig auf unseren Ansichten bestanden. Das Buch entstand als Teil meiner Beweisführung zum jüdischen Schreiben und ganz bewusst auch als Gegenpol zu Martin Walsers Novelle Mein Jenseits, die so dicht konstruiert ist wie ein Text von Abramovitsh. Ohne Martin Walsers beharrliche und drängende Neugier, ohne sein intensives Interesse an der zerstörten jüdischen Welt hätte ich dieses Buch sehr wahrscheinlich nicht geschrieben, jedenfalls nicht in deutscher Sprache.

Diese intensive Zusammenarbeit mit dem Großschriftsteller Walser, ihre Voraussetzungen, ihr Ende, wie auch das Entstehen mehrerer Texte Walsers beschreibt Klingenstein in ihrem neuen Buch Wege mit Martin Walser als „Zusammenprall zweier Welten“. Es ist die Zeitspanne zwischen 2009 und 2014 (mit einem Epilog 2015), in der Klingenstein einen tieferen Einblick in die Welt und das Werk Walsers erhielt. Die Literaturwissenschaftlerin beschreibt – den subjektiv-emotionalen Zugang zu Walser bewusst reflektierend – „Zauber und Wirklichkeit eines Schriftstellers“, wie der Untertitel ihrer Erinnerungen an die Begegnungen lautet. Sie erzählt „von der Differenz zwischen Werk und Leben, zwischen Zauber und Wirklichkeit“, zugleich aber auch, wie sehr der Schriftsteller Walser „im Wesentlichen sein Werk“ ist.

Die sieben Kapitel – überschrieben mit „Wasserburger Wege“, „Im Jenseits von Nußdorf“, „Auftritte“, „Boten der Geschichte“, „Vorstellungen“, „Unterwegs“ und „Sage nicht Wasser, Wasser“ – fungieren als Brücken zu den „Grenzerfahrungen, denen der Zauberer Martin Walser jeden aussetzt, der sich ihm nähert. Er zieht an, hüllt ein, vernebelt, entwaffnet, weicht Widerstände auf, verwandelt die Seele seines Gegenübers in ein Empfindungsgewirr, das nur aufnehmen will.“

Besonders eindringlich führt Klingenstein anhand zentraler Passagen aus Ein springender Brunnen Walsers poetisches Verfahren der „Bewusstseinsbewegung“ vor. Die „aus der Tiefe der Empfindungen hervorgehobenen Rekonstruktionen einer Kindheit“ sind Erinnerungsfiktionen. Mit Blick auf den „diskreten Dialog“ des Autors mit Jean Améry über die Frage „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ analysiert Klingenstein präzise, dass der Vorwurf der Kritik, wonach in Walsers Erinnerungsbuch Auschwitz nicht vorkomme, am Kern dieses Textes wie auch des Walserʼschen Redens und Schreibens insgesamt vorbeigeht. Von hier aus macht sie deutlich: „Paulskirchenrede und Springender Brunnen gehören zusammen. Sie sind Unabhängigkeitserklärungen“ des Schriftstellers Martin Walser.

Neben Diskussionen auf der Walserʼschen Terrasse in Nußdorf über Literatur, neben öffentlichen Auftritten des geschickten Verkäufers, die bis ins Letzte geplant sind, neben dem Dialog über Mendele, den Buchhändler im Besonderen, die jiddische Literatur und Kultur im allgemeinen, neben der längeren gemeinsamen Lesereise durch Deutschland thematisiert Klingenstein auch immer wieder ihre persönliche Gefühlslage in der Begegnung mit Walser, etwa kleine Verletzungen und Kränkungen. Zugleich bietet sie aber auch wunderbar subtile Impressionen über Käthe Walser, wie etwa diese:

Käthe sitzt äußerlich ruhig am Tisch, sehr aufrecht, die Hände im Schoß, Martin gegenüber auf seine Sätze konzentriert, seine Worte auffangend, sie bedenkend. Ihre Stimme ist klar und sicher. […] Sie weiß, wer sie ist: die Gebende; er holt sich aus ihrer Erinnerung, was er braucht. […] Als er Käthe ein 85 Jahre altes Foto hinhält, das ihn als Dreijährigen zeigt, spiegelt sich in Walsers Gesicht das Aufgehobensein in einem anderen Menschen. 70 Jahre lang wissen, dass jemand für einen da ist, schafft einen Urgrund, der trägt. Dazu dürfen einem die Sätze aus dem Sterbenden Mann einfallen, die Theo Schadt an seine Frau Iris schreibt: „Wir ruhen innig ineinander, ohne Diskurs. Wir sind theorieabweisend […] In dir ist die Ruhe daheim […] Du bist das Asyl der Verlässlichkeit.“

Insofern ist es konsequent, dass Klingenstein, wie sie in einem Interview im Mai 2016 mit „Südkurier“-Redakteur Siegmund Kopitzki sagte, Käthes Geschichte wieder gestrichen habe, denn Diskretion sei Käthe das Wichtigste. Auch darin eben ein „Asyl der Verlässlichkeit“.

Klingensteins Wege mit Martin Walser ist ein gleichermaßen schillerndes wie faszinierendes Porträt des Zauberers Martin Walser und seines Umfelds. Es schreibt das Bild, das Jörg Magenau in seiner großen Dichterbiografie vom Entblößungs-Verbergungs-Künstler detail- und kenntnisreich gezeichnet hat, bis in die jüngste Gegenwart weiter. Dabei schärft Klingenstein literaturwissenschaftlich den Blick – insbesondere für Walsers autobiografisch grundierten Roman Ein springender Brunnen (1998), für Mein Jenseits (2010), Muttersohn (2011) und Über Rechtfertigung (2012) –, indem sie autobiografische und religiöse Bezüge im Werk Walsers benennt, dabei jedoch zugleich deutlich macht, dass nur die Werke selbst zu Walser führen.

Titelbild

Susanne Klingenstein: Wege mit Martin Walser. Zauber und Wirklichkeit eines Schriftstellers.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2016.
382 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783863371005

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch