Martin Walsers literarische Psychopathologie

Eine Erinnerung an seine früheren Romane und an Beziehungsmuster zwischen Literatur und Psychoanalyse

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Krankheitsmotive haben eine Schlüsselbedeutung für Walsers gesamtes Werk. Bei allen Wandlungen in der politischen Einstellung hat sich an seiner Vorliebe für den literarischen Figurentypus des in seinen Selbstwertgefühlen nachhaltig gekränkten, von realen oder eingebildeten Konkurrenz- und Machtkämpfen geschädigten ‚Verlierers‘ wenig geändert. In dem 1972 erschienene Roman „Die Gallistl´sche Krankheit“ des damals der DKP nahestehenden Autors stellt die Titelfigur die Frage: „Kann ein Sozialist gesund bleiben in einer kapitalistischen Gesellschaft?“ Der Roman hatte eine recht plakative Botschaft. Sie lautete: Kapitalismus macht krank, Sozialismus heilt. Walsers Botschaften haben zum Teil andere Inhalte bekommen, doch dem nachhaltigen Interesse an psychisch oder häufiger noch psychosomatisch erkrankten Figuren und an pathogenen Sozialkonstellationen ist der Autor zeitlebens treu geblieben. Schon in seiner frühen Erzählung „Das Flugzeug über dem Haus“ (1955) ist das Thema präsent. Die Familienwelt in der Kristlein-Trilogie („Halbzeit“ 1960, „Das Einhorn“ 1966, „Der Sturz“ 1973) besteht zu weiten Teilen aus hypochondrischen, kränkelnden oder ernsthaft kranken Figuren. Sogar ein Hund der Familie ist krank. Vor allem aber leidet der Protagonist. Das hat sich bis zu den Romanen der neunziger Jahre kaum verändert. Die Dominanz der Krankheitsmotive in „Ohne einander“ (1993) veranlasste Marcel Reich-Ranicki dazu, die nicht enden wollende Reihe der Personen vorzustellen, die einer psychiatrischen Behandlung bedürftig erscheinen. Dem Protagonisten in Walsers zwei Jahre zuvor erschienenem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ erscheint dies selber so; er erklärt seiner Mutter, er „habe sich entschlossen, einen Psychiater aufzusuchen.“ Jahre später begibt er sich in psychotherapeutische Behandlung.

Es blieb jedoch, was nicht weiter verwundert, einem Psychoanalytiker vorbehalten, Walsers literarische Psychopathologie erstmals genauer an einem Romanbeispiel zu untersuchen: Tilmann Moser in seinen 1985 erschienenen Studien „Romane als Krankengeschichten“. Es bleibt aus zwei Gründen lohnend, sich mit dieser psychoanalytischen Walser-Interpretation eingehender auseinanderzusetzen. Zum einen kann eine solche Auseinandersetzung exemplarische Anregungen zur literaturwissenschaftlichen Analyse eines zentralen Motivs in Walsers Gesamtwerk geben, zum anderen kann sie neben einigen typischen Vorzügen und Defiziten psychoanalytischer Textinterpretationen charakteristische Affinitäten wie Differenzen zwischen Literatur und Psychoanalyse sichtbar werden lassen.

Arbeitswelt verkrüppelt Subjekt, dargestellt anhand eines leidensfähigen Gemütes“ – diese Formel stellt, wie Moser kritisiert, in der Tat eine „unzulässige Verkürzung“ der Krankengeschichte dar, die Martin Walser in seinen Romanen „Jenseits der Liebe“ (1976) und „Brief an Lord Liszt“ (1982) erzählt. Das Unzulässige dieser Verkürzung liegt vor allem in der Banalisierung, wie sie jeder Rede von der krank machenden Gesellschaft anhaftet, die zu konkreteren und differenzierteren Aussagen über pathogene Mechanismen in der sozialen Wirklichkeit nicht in der Lage ist. Martin Walsers Romane vermögen solche Mechanismen bis in feinste psychische Details hinein zu veranschaulichen, und hierin vor allem liegt ihre von einigen Rezensenten damals verkannte Qualität.

Mosers Kritik meint freilich anderes. Die psychischen (und somatischen) Leiden des Angestellten Franz Horn, von denen Walser erzählt, lassen sich, so versucht der Psychoanalytiker zu zeigen, nicht in erster Linie aus der Arbeitswelt erklären, sondern „aus einem unglücklichen Kinderschicksal.“ Franz Horn sei „ein Mensch, der seit frühester Kindheit eine schwere psychische Störung mit sich herumträgt, die sich, in milderer Form, vermutlich bei vielen Menschen findet, die sich unter bestimmten Arbeitsbedingungen, die von solchen Individuen allerdings auch aufgesucht werden, vertieft, und die unter einer krisenhaften Verschärfung ihrer seelischen Situation zu Krankheit, Dekompensation, Zusammenbruch oder Selbstmord führen kann.“

Moser liefert gleich im Titel die Diagnose für jene psychische Störung, die der Roman genau beschreibt, die zu benennen er sich allerdings weigert: „Selbsttherapie einer schweren narzißtischen Störung“. Mit der so vielen psychoanalytischen Literaturinterpretationen eigenen Naivität diagnostiziert und analysiert er fiktive Figuren im Text, als ob es reale Patienten wären, und verkürzt die literarischen Krankheitsgeschichten seinerseits zu quasi psychopathologischen Fallbeschreibungen. Tilmann Moser kennt diese Einwände und setzt sich sogar ausdrücklich mit ihnen auseinander. Er vermag sie jedoch weder mit Argumenten noch mit seiner Analyse zu entkräften. Erst durch das „klinische Lesen“, so argumentiert er, werde „die dunkle und verworrene Logik eines leidvollen oder […] entsetzlichen Lebens […] zu der klareren Logik eines verstehbaren Krankheitsverlaufes.“ Mit anderen Worten: Die literarische Darstellung von Krankheitsverläufen lässt diese dunkel und verworren, also unverstanden; erst dem klinisch geschulten Blick offenbaren sie sich in ihrer logischen Klarheit. Künstler und Kliniker arbeiten demnach am gleichen Projekt, wenn sie sich „das Leiden des Menschen an sich und seiner Umwelt“ zum Thema machen, doch erst der Kliniker vermag auf den Begriff zu bringen, was die Autoren eher intuitiv erahnen und was ihren tiefenpsychologisch ungebildeten Lesern verborgen bleibt. Schon Freud hatte, nicht ohne Neid, aber durchaus mit Überlegenheitsansprüchen, wiederholt den intuitiven Erkenntnisleistungen der Literatur die wissenschaftliche Aufklärungsarbeit der Psychoanalyse im gemeinsamen Projekt der Erkundung des Seelenlebens gegenübergestellt.

Mosers Aufsatz ist die bislang wohl ausführlichste und gründlichste Analyse der Walserschen Krankheitsgeschichte, und es lässt sich kaum bestreiten, dass er zum Verständnis des Falles Franz Horn einen erhellenden Beitrag liefert. Der psychoanalytisch präformierte Blick auf den Text ist stark selektiv, aber dafür sehr genau in der Betrachtung einzelner Details. Die Analyse liefert indes hier kaum mehr als eine paraphrasierende Übersetzung literarischer Textteile in psychoanalytisches Vokabular. Dass diese Übersetzung zu weiten Teilen durchaus angemessen ist, ja dass der professionelle Psychoanalytiker sogar Merkmale eines gleichsam idealen Lesers in die Lektüre einbringen kann, liegt daran, dass in Walsers Romane wie in nahezu alle literarische Psychopathographien der Moderne psychoanalytisches Wissen eingegangen ist und dieses beim Leser zum adäquaten Verständnis der betreffenden Texte bis zu einem gewissen Grade auch vorausgesetzt wird. Doch anders als dem Psychoanalytiker kam es dem Schriftsteller nicht vorrangig darauf an, die erzählte Krankheitsgeschichte auf ein individuelles Kindheitsschicksal zurückzuführen. Überhaupt sind literarisch erzählte Krankheitsfälle, auch bei noch so ‚realistischer‘ Bemühung um psychopathologische Wahrscheinlichkeit und Authentizität, Artefakte, die nicht in Konkurrenz zur Psychoanalyse geschaffen wurden. Die Krankheitsfälle sind absichtsvoll konstruiert, und ihre Konstruktion ordnet sich anderen Absichten als nur diagnostischen unter.

Schon damit, dass Walser seine Geschichte über die psychosomatischen Deformationen Franz Horns mit einer deutlichen Anspielung auf den berühmten Anfangssatz von Kafkas „Verwandlung“ beginnen lässt, stilisiert er den erzählten Einzelfall ins Allgemeine. „Als Franz Horn aufwachte, waren seine Zähne aufeinandergebissen. Ober- und Unterkiefer spürte er als gewaltige Blöcke. Es war nicht das erste Mal, daß er sie so aufeinandergebissen fand. Aber der Druck war noch nie so stark gewesen.“ Von Gregor Samsa, der sich eines Morgens zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt „fand“, heißt es bei Kafka, dass er aus „unruhigen Träumen erwachte“; bei Franz Horn „hatte das Aufeinanderbeißen lange vor dem Aufwachen begonnen.“ Samsa hebt den Kopf ein wenig hoch; Horn „reckte den Kopf so weit als möglich nach oben.“ Die Anspielungen fordern dazu auf, Gemeinsamkeiten zwischen dem Fall Franz Horn und dem Fall Gregor Samsa auszumachen. Diese sind denn auch unschwer zu erkennen. Die Verwandlung des Angestellten und Handlungsreisenden Gregor Samsa hat etwas mit seinem ungeliebten und „anstrengenden Beruf“ zu tun, dem er nun nicht mehr nachgehen kann. Samsa deutet seine veränderte Stimme zunächst als „Berufskrankheit“; die seelischen und körperlichen Verkrampfungen des Angestellten und Handlungsreisenden Franz Horn stehen ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem „Druck“, dem er in seinem Berufsleben ausgesetzt ist. Die erste Person, der Samsas Gedanken nach der Verwandlung gelten, ist sein „Chef“; Franz Horns Gedanken sind, wie sich bald zeigt, unablässig und geradezu zwanghaft auf seinen Chef konzentriert. Dieser ‚besetzt‘ seine gesamte Existenz bis in sein Familienleben, sein Sexualverhalten und seine Träume hinein.

In Kafkas Werk bildet der Chef gemeinsam mit Vätern, Richtern oder Schlossherren eine Reihe bedeutungsäquivalenter Figuren, die Macht und Herrschaft repräsentieren. Ihnen steht die Reihe der ohnmächtigen, abhängigen und schwachen Figuren gegenüber, deren  Energien zwischen dem Begehren nach der Macht und dem Aufbegehren gegen sie, zwischen schuldbewussten Selbstdemütigungen, Anpassungsbemühungen und kämpferischen Selbstbehauptungsversuchen zirkulieren. Walser, der über Kafka promovierte, überträgt dessen literarisch und psychologisch komplexe Darstellungen von Machtmechanismen und Abhängigkeitsbeziehungen in die bundesrepublikanische Wirklichkeit der siebziger Jahre. Noch in der Wahl der Erzählperspektive zeigt er sich Kafka verpflichtet. „Jenseits der Liebe“ ist ganz aus der Optik des beschädigten Protagonisten erzählt, und der „Brief an Lord Liszt“ erinnert nicht nur mit dem Titel an Kafkas „Brief an den Vater“.

Beide Romane Walsers sind Beschreibungen eines Kampfes: in erster Linie des Kampfes Franz Horns mit seinem Kollegen Dr. Liszt um die Gunst des Mächtigen, des Chefs Thiele; daneben auch des Kampfes um Erfolg, in den Thieles Firma, die künstliche Zähne herstellt, in der Konkurrenz mit anderen Firmen zwangsläufig verwickelt ist. Zum Schauplatz dieser verbissenen Kämpfe wird nicht zuletzt die Seele selbst. Die als gewaltige Blöcke aufeinander drückenden Kiefer geben dafür ein wiederkehrendes Bild ab. „Als finde da ein Wettkampf statt, ob der Ober- oder der Unterkiefer stärker sei.“ Nicht primär ein individuelles Kinderschicksal, wie Moser interpretiert, sondern dieser Kampf ist es, der Franz Horns Krankheit vor allem anderen bedingt – eine Krankheit, die am Ende des ersten Romans nach einem Selbstmordversuch beinahe zum Tode führt.

Nicht alle Figuren leiden in diesem Kampf gleichermaßen und von vornherein. Die Leiden des alternden Horn beginnen erst eigentlich, als sich seine Niederlage abzeichnet. Die Krankheit setzt ein nach einer nachhaltigen Kränkung, die man durchaus als „narzisstisch“ bezeichnen kann, die der Roman jedoch einem Ereignis zuschreibt, das nicht dem Kind, sondern dem Erwachsenen widerfährt: Horn, lange Zeit die „rechte Hand“ des Chefs, bekommt einen fünfzehn Jahre jüngeren Nachfolger, der bald sein Vorgesetzter wird. Die Gunst Thieles, die bislang Horn genossen hatte, verschiebt sich ganz auf den erfolgreicheren Dr. Liszt. In dem Maße, in dem der Mächtige dem Protagonisten seine Liebe entzieht, wird dieser unfähig, sich selbst zu lieben. Der Prozess zunehmender Selbstverachtung kulminiert, wie es die Psychopathologie der Depression und des Selbstmords lehrt, im verzweifelten Akt der Selbstzerstörung.

Die Kämpfe zwischen Horn und seinem Konkurrenten bedienen sich subtilster Strategien, die auch noch das Privatleben mit einbeziehen. Hier werden unscheinbare Gesten und beiläufige Worte zu trefflich kränkenden Waffen, und aggressive Attacken tarnen sich hinter freundschaftlichen Liebenswürdigkeiten. Dem angeschlagenen Horn verwischen sich dabei mitunter die Grenzen zwischen Wahn und realitätsgerechter Wahrnehmung. Und weil seine Perspektive nicht durch einen überlegenen Erzähler korrigiert wird, weiß auch der Leser oft nicht zu entscheiden, wieweit er Horns Interpretationen des erzählten Geschehens glauben kann. Ihn jedoch mit seiner zuweilen ins Groteske verzerrten Wahrnehmung des übermächtigen Chefs und des an dieser Grandiosität teilhabenden Dr. Liszt als jemanden ins Unrecht zu setzen, der, wie Tilmann Mosers Deutung nahelegt, schon von Kindheit an zur Verrückung realitätsgerechter Perspektiven, Gefühle und Verhaltensweisen disponiert ist, verfehlt die Intentionen des Textes.

Über Kindheit und Elternhaus Horns erfahren wir relativ wenig, in „Jenseits der Liebe“ so gut wie nichts. Als eigenständiger, der Fortsetzung nicht bedürftiger Text liefert dieser Roman für Mosers psychoanalytischen Rekurs auf die pathogene Kindheit des Protagonisten keinen Ansatzpunkt. Erst dem „Brief an Lord Liszt“ ist „ausreichend viel“ zu entnehmen, „um“, so Moser wie über einen real existierenden Patienten, „eine erhebliche seelische Belastung als wahrscheinlich ansehen zu können.“ Als uneheliches Kind geboren, wuchs Franz Horn mit einem Vater auf, der nicht sein leiblicher ist. Über den leiblichen Vater weiß Horn nichts, er kann darüber nur phantasieren. Was der Autor den zu diesem Zeitpunkt im Prozess der Selbsterkenntnis schon weit fortgeschrittenen Protagonisten über seine Phantasien schreiben lässt, charakterisiert Horn als jemanden, der mit sarkastischer Distanz durchschaut, wie sehr er den sozialen Aufstiegsträumen seiner Mutter verhaftet ist: „Manchmal glaube ich, mein Vater werde mir verheimlicht, weil er ein Geistlicher war. Das sind so die Prinzenträume dieser Gegend. “ Der Stiefvater unterscheidet sich von dem Traumvater erheblich: „Willy Horn, magenkrank und Maurer, rauchte, trank, spielte am Samstag und am Sonntag Karten“. Der „Arbeiter“ entspricht nicht den sozialen Ansprüchen der Mutter, die ihn als „Ersatzmann“ behandelt, und erst recht nicht denen ihrer Verwandtschaft, die ihn und diese Ehe ächtet.

Dass dieses Familienmilieu mit Horns späterer Krankheitsgeschichte zu tun hat, legt der Roman selbst dem Leser nahe. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass der Sohn etwas von den Spannungen in der elterlichen Ehe „gespürt“ hat. Und gespürt hat er auch etwas von den sozialen Aufstiegswünschen der Mutter sowie den damit einhergehenden Auseinandersetzungen zwischen ihr und dem Vater. Franz Horn lernt in seiner Kindheit an der Art, wie man mit seinem Vater umgeht, was es heißt, als sozial minderwertig zu gelten, und wird durch die Mutter und ihre Verwandtschaft mit ehrgeizigen Wünschen konfrontiert, denen nicht zu genügen einer Katastrophe gleichkommt. Im Rückblick auf seinen Selbstmordversuch überlegt Horn denn auch: „Wahrscheinlich war das, was ihm passiert war, nur ein allerallerletztes Aufflackern irgend eines früheren, längst geisterhaften Ehrgeizes.“

Moser entdeckt weitere, eher versteckte Hinweise des Autors darauf, dass die Wahrnehmung und das Verhalten des erwachsenen Franz Horn von seinem Kindheitsschicksal mit geprägt werden. Der Psychoanalytiker baut die Andeutungen, die der Text selbst zur Beziehung zwischen Krankheits- und Kindheitsgeschichte macht, mit Hilfe der Narzissmustheorie Heinz Kohuts zu einer komplexen psychogenetische Interpretation aus. Sie erklärt die als „narzisstisch“ diagnostizierte Störung Horns vor allem aus der ihm versagten Möglichkeit zur Identifikation mit einem idealisierten Vater, die zur Ausbildung eines stabilen Selbst zeitweilig nötig gewesen wäre. Das unterentwickelte Selbstwertgefühl bleibe so zeitlebens in hohem Maße von der Anerkennung anderer abhängig, denen das Ich sich zwanghaft anzupassen versuche. Horn schwanke in seinem Verhalten gegenüber dem Chef und dem Konkurrenten ganz nach Art narzisstisch Gestörter zwischen dem regressiven Bedürfnis, ihm überlegene Personen wahnhaft zu gottähnlicher Größe zu idealisieren, um in der identifikatorischen Verschmelzung mit ihnen an ihrer Grandiosität teilzuhaben, sowie der Neigung, im Falle der Zurückweisung mit verbittertem Kleinheits- oder trotzigem Größenwahn, mit totalem Rückzug, heimlichen Rachephantasien oder der Anklammerung an neue Idealfiguren zu reagieren.

Damit sind in der Tat charakteristische Verhaltensmerkmale und Gefühlsambivalenzen des Protagonisten treffend beschrieben. Trotz einiger Unzulänglichkeiten gelingt es Moser, dem Leser etwas von der Logik des Krankheitsgeschehens begreiflich zu machen, die der Autor selbst der erzählten Geschichte unterlegt hat. Wem diese Logik entgeht, dem fehlen entscheidende Voraussetzungen nicht nur zum angemessenen Verständnis, sondern auch zur literaturkritischen Bewertung der Texte. Mosers Einwand gegen eine Rezension von Peter Demetz, dass über Texte der Moderne, „deren Helden offensichtlich schwer gestörte Menschen sind“, nicht mehr abschließend mit Kategorien wie „gelungen oder mißlungen“ und einem an den Normen der klassischen Ästhetik geschulten Blick geurteilt werden kann, ist berechtigt: „was dem nur literarisch Urteilenden wie mechanische Häufung, wie Kitsch oder falscher Pomp erscheint, muß sich auch literarisch anders würdigen lassen, wenn es die Stimmigkeit von ‚Symptommusik‘ erhält, das heißt, wenn Krankheitsbild und Äußerungsform plausibel zusammengehören und nicht mehr als Entgleisungen des Autors abgetan werden können.“

Die Fähigkeit, das Krankheitsgeschehen mit psychologisch und sprachlich subtiler Genauigkeit darzustellen, macht etwas von der Qualität dieser Texte aus, doch erschöpft sich darin nicht ihre Bedeutung. Denn diese Fähigkeit bleibt nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienst eines normativen Gehalts, der der psychoanalytischen Rekonstruktion des dargestellten Falls entgeht. Selbst noch die von Walser in den zweiten Roman eingefügte Kindheitsgeschichte hat nicht nur eine quasi psychoanalytische Funktion, sondern verlängert eine literarisch konstruierte Kette semantisch bedeutungsähnlicher Motive, die für den Textsinn konstitutiv ist. Stiefvater und Mutter Franz Horns sind, wie er selbst später und etliche andere Figuren im Text, Opfer sozialer Prestige- und Konkurrenzkämpfe sowie gesellschaftlicher Werte, die in Begriffen wie „Erfolg“, „Aufstieg“, „Macht“ und „Sieg“ sprachlich repräsentiert sind. Obwohl der Autor das Geschehen aus der Perspektive einer einzigen Person erzählt und das Leiden eines einzelnen Individuums ins Zentrum seiner Romane rückt, hat er das Erzählte so konstruiert, dass dem Einzelfall als einem unter vielen gleichartigen exemplarische Bedeutung zukommt. Der Figur Franz Horn hat Walser eine Reihe von Analogiefiguren zugeordnet, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind irgendwann in ihrem Leben zu Opfern der gleichen pathogenen Verhältnisse geworden.

„Jenseits der Liebe“ endet mit dem missglückten Selbstmordversuch Horns. Der „Brief an Lord Liszt“ beginnt mit einem ‚geglückten‘ Selbstmord. Der einzige Konkurrent Thieles in Süddeutschland hat seinen Betrieb angezündet und sich selbst erschossen, hat „kapituliert“ im Kampf gegen die vermeintliche Übermacht des Gegners. Ein „kranker Mann“ ist jener geschäftlich erfolglose Lizenzpartner Mr. Heath, zu dem Horn nach England reisen muss, um ihm die Verträge zu kündigen, und den er als Spiegelbild seiner eigenen Deformationen antrifft. Als „Degradierte“ und „Versagerin“ leidet jene Frau Brass, die von Thiele als Chefsekretärin entlassen und durch eine andere ersetzt wurde. „Erbittert“ und „grausam gescheitert“ ist jener Herr Ochs, der einmal stolz darauf war, „Thieles rechte Hand zu sein“, und den der dreizehn Jahre jüngere Franz Horn in der Firma so erfolgreich von seinem privilegierten Platz verdrängen konnte wie später Dr. Liszt ihn. In der „Foltermaschine, die wir gegeneinander betreiben müssen“, ist der Sieger von gestern der gekränkte Verlierer von heute, und der Mächtige von heute wird das ohnmächtige Opfer von morgen sein. Dr. Liszt geht es nicht anders als Franz Horn. Auch ihn ersetzt Thiele durch einen Jüngeren. Auch er trennt sich von seiner Familie, auch er wird zum Trinker. „Es heißt jetzt, Sie seien krank. Der Alkohol sei dabei, Sie zu ruinieren.“ Dr. Liszt ist in beiden Romanen das vorläufig letzte Glied einer Kette von nachhaltig gekränkten und beschädigten Figuren. Die Mutter Horns, die als „Bedienung“ für den leiblichen Vater Horns keine standesgemäße Ehefrau abgeben kann, und der Stiefvater Horns, der seinerseits als „Arbeiter“ der sozialen Ächtung durch seine Frau ausgesetzt ist, stehen am Anfang dieser Kette.

Entgegen der Interpretation Tilman Mosers kam es dem Autor also gerade nicht darauf an, eine individuelle Kindheits- und Krankengeschichte zu erzählen. Und auch die Neigung des psychoanalytischen Interpreten, den Kranken mit seiner zuweilen pathologisch verzerrten Wahrnehmung der Umwelt ins Unrecht zu setzen, entspricht der Intention des Textes keineswegs. Mosers psychoanalytischer Diskurs gleicht in seiner tendenziell abwertenden Haltung eher dem Rat des Dr. Liszt, Franz Horn solle sich einer Psychoanalyse unterziehen, ein Rat, der im Kontext des Romans eine Demütigung bedeutet. „Sie rieten zu einer Analyse! Mein Herr! Nur weil ich Ihnen am Beispiel Erfolg/ Mißerfolg einen Unterschied beweisen wollte zwischen dem Unternehmer und seinen Angestellten. Sie vermögen, glaube ich, den Sachlichkeitsrang meiner (vielleicht leidvollen) Erfahrung noch nicht einzuschätzen.“ Dies sagt zwar nicht der Autor, sondern der Protagonist in seinem Brief an Liszt, doch gewinnt der seine Lebensgeschichte reflexiv aufarbeitende Briefschreiber ein solches Maß an überlegener und befreiender Einsicht, dass seine Perspektive von der des Autors kaum noch zu unterscheiden ist.

Gegen Ende des Briefes finden die Erfahrungen Horns in sieben „Sätzen“ einer „Gesellschaftsphysik“ zu begrifflicher Bewusstheit. In ihnen ist der normative Gehalt beider Romane zusammengefasst. Einer der Sätze, der zentrale, lautet: „Zwischen Konkurrenten ist Freundschaft nicht möglich.“ Und der nächste: „Zwischen Chef und Abhängigen gibt es menschliche Beziehungen nur zum Schein.“ Die Sätze verweisen, wie auch schon der Titel „Jenseits der Liebe“, einmal mehr darauf, wovon diese Krankheitsgeschichte auch erzählt: nicht allein von pathogenen Konkurrenz- und Abhängigkeitsverhältnissen, unter denen des einen Misserfolg der Erfolg des anderen ist, sondern zugleich von der unerfüllbaren Sehnsucht nach Liebe oder Freundschaft. „Thiele wäre der Freund gewesen, den ich hätte haben können. Wenn er nicht zufällig mein Chef wäre. Sie wären ein Freund, wenn Sie nicht Konkurrent wären. Die einzigen zwei Männer, mit denen ich hätte befreundet sein können, kommen durch das, was den Ausschlag gibt, für Freundschaft nicht in Frage.“ In zwei Heiligenfiguren aus Holz, die zusammen aus dem Bodensee geborgen wurden, findet Horn etwas von dem Wert symbolisiert, der ihm (wie dem Autor) als ranghöchster gilt: „Sigisbert und Placidus beneidete ich. Wie harmonisch müssen die durch alles Unwetter geschwommen sein, daß sie beieinander blieben und miteinander gesehen und geborgen werden konnten. […] Abt Sigisbert, Sie und Placidus, ich … Aber mit jemandem, der einem zur Analyse rät, bleibt man ausgeschlossen von der Eintracht der Gebirgsheiligen.“

Die Kämpfe um den sozialen Aufstieg, die von faktisch geltenden Werten wie Erfolg, Macht und Prestige geleitet sind und die schon das Verhältnis zwischen Horns Mutter und seinen Vätern in einen Bereich jenseits der Liebe gedrängt haben, verhindern die Realisierung der von Walsers Romanen postulierten Werte. In diesen Kämpfen kann, wenigstens zeitweilig, nur jemand mit Fähigkeiten bestehen, wie sie Thiele in mustergültiger Weise entwickelt hat. „Finden Sie nicht auch“, schreibt Horn, „daß diese ganze Epoche täglich mehr à la Thiele wird? Seine Fähigkeit, an nichts glauben zu müssen als an sich selbst, ist inzwischen zur Lieblingstugend der Epoche geworden. Thiele war also in seiner vollkommenen Selbstbezogenheit seiner Zeit weit voraus.“ Thieles ‚Tugend‘ ist in jeder Hinsicht destruktiv. Und auch er ist hierin kein individueller Einzelfall, sondern ein Repräsentant „der Epoche“. Indem Horn dies erkennt, zeigt er sich dem Bewusstsein des Autors Walser nahe, der wiederholt die „Egomanie“ und den „Narzißmus“ seiner Zeitgenossen, gerade auch der schreibenden Kollegen, attackierte (z.B. in seinen 1981 gehaltenen Reden über Brecht und Büchner). „Ich beschwor ihn“, erzählt Horn, „vorsichtiger zu investieren, langsamer zu produzieren. Ich malte ihm abendelang aus, was passiere, wenn jeder immer noch mehr produzieren wolle als alle anderen! Thiele sagt: Man muß einen Tag länger produzieren können als die Konkurrenz, dann hat man es geschafft. Weniger als die Weltherrschaft darf da also keiner anstreben. Ich sah nur Katastrophen voraus. Die Ressourcen vergeudet, die Erde wieder wüst, aber voll, statt leer! Produktion als Vernichtung der Schöpfung!“ Die ökologischen Folgelasten der von Thiele repräsentierten Mentalität sind in den beiden Romanen weiter kein Thema. Doch zeigt der Autor mit dem Hinweis auf sie erneut, dass die psychische Last, die Franz Horn zu tragen hat, nicht als individuelles Krankheitsschicksal gelesen werden will, sondern als Exempel für das umfassendere Vernichtungspotential jener Verhältnisse und Werte, die der Autor unter anderem dadurch disqualifiziert, dass er sie als pathogen darstellt.

In Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ gehört eine Arbeitskollegin zu jenen Figuren, mit denen der Protagonist sich in ständige Kämpfe verstrickt sieht. Ihre Angriffe führt sie mit Hilfe der Psychoanalyse aus. Sie erklärt ihn „mit ihren Freud-Etiketten“ zum „Analerotiker“. Als ihr Geburtstag gefeiert wird, rächt er sich unter großem Beifall mit einem Gedicht, das mit den Versen endet: „Drum sei mein Rat – versehn mit Tusch -/ Statt Freud wählt lieber Wilhelm Busch.“ Witz und Komik scheinen auch dem Autor Walser näher als die Psychoanalyse, um befreiende Distanz zu den von ihm obsessiv dargestellten Kämpfen und Krankheiten zu finden. In der Kollegin Alfred Dorns wird die Psychoanalyse selbst zur komischen Karikatur. Aber es taucht da auch noch ein Psychotherapeut auf, der sich im Umgang mit Dorn als recht verständig erweist. Er trägt vielleicht nicht zufällig den Nachnamen Tilmann Mosers in sich. Er heißt Dr. Permoser. Sein therapeutisches Ziel trifft ins Zentrum der Leiden von Walsers Figuren. Er „wolle versuchen, zusammen mit Alfred Erlebnisweisen zu entwickeln, die Kampf überflüssig machten.“

Walser Figuren und die sozialen Strukturen, in denen sie leben, bleiben freilich gegenüber solchen therapeutischen Bemühungen resistent. Die Reihe der späteren Beispiele dafür reicht von „Finks Krieg“ (1996) bis hin zu „Ein liebender Mann“ (2008), „Ein sterbender Mann“ (2016) und seinem eben erst erschienenen „Roman“ „Statt etwas oder Der letzte Rank. Die Kränkungen, von denen diese erzählen, sind schon in den früheren Romanen Martin Walsers Obsession. Ihr verdanken wir sein Werk.

Hinweise: Der Beitrag basiert auf dem Aufsatz: Beschreibungen eines Kampfes. Martin Walsers literarische Psychopathologie. In: Text+Kritik VII (2000), H. 41/42: Martin Walser, S. 69-78, und ist angelehnt an Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989. S. 88-95. Mehrfach erwähnt und zitiert wird Tilmann Moser: Romane als Krankengeschichten. Über Handke, Meckel und Martin Walser. Frankfurt am Main 1985. Zur literaturkritischen Einschätzung von Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ vgl. Ursula Bessen: Martin Walser – „Jenseits der Liebe“. Anmerkungen zur Aufnahme des Romans bei der literarischen Kritik. In: Klaus Siblewski (Hg.): Martin Walser. Frankfurt am Main 1981. S.214-233. Kritiken zu Walsers „Brief an Lord Liszt“ referiert Moser. Zu Walsers früher Prosa und ihrer Beziehung zu Kafka vgl. Erhard Schütz: Von Kafka zu Kristlein. Zu Martin Walsers früher Prosa. In: Siblewski (siehe oben), S.59-73.