Gewissen in Dosen

Über Andrea Köhlers Beitrag zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit Scham

Von Tanja Angela KunzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Angela Kunz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Scham ist eine unintendierte Bekenntnisform. Aus philosophischer Sicht bedarf das Aufkommen von Scham des Auftretens von Personen, sofern unter „Personen“ sich wechselseitig anerkennende soziale Wesen verstanden werden, die sich gegenseitig im Licht von Normen und Idealen wahrnehmen (Maria-Sibylla Lotter). Entwicklungspsychologisch ist Scham eine Emotion, die sich – anders als beispielsweise Angst oder Ärger – erst mit der zunehmenden Bewusstheit der eigenen Individualität entwickelt (Werner Stangl). Denn mit dieser Erkenntnis entsteht auch ein Bewusstsein des wertenden Blicks des Anderen, wie Jean-Paul Sartre Scham definiert. Im Kontext der Alterität wird Scham damit zu einer körperlichen Bekenntnisform, die sich im unwillkürlichen Erröten zeigt. Während jene Reaktion flüchtig bleibt, erweisen sich die dahinter liegenden Demütigungen häufig als beständiger. Die Machtlosigkeit über das Sichtbarwerden der Scham drängt so nicht selten zum Erzählen als geistiger Bekenntnisform, dem wiederum subjektkonstituierende Funktion zukommt. Scham changiert auf diese Weisen zwischen konstituierender und peinigender Exposition.

Es mag an dieser paradoxen Struktur der Scham liegen, dass sie, wie Andrea Köhler in ihrem Essay über Scham. Vom Paradies zum Dschungelcamp anmerkt, „nicht fass-, nur einkreisbar“ ist. Mit dieser Prämisse stellt die Verfasserin die Weichen für ein schweifendes Erzählen schambehafteter Momentaufnahmen, die nicht den Anspruch auf vollständige Durchleuchtung dieses komplexen menschlichen Phänomens erheben, auch nicht ein umfassendes kritisches Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse zu liefern oder gar dem „genuinen Geheimnis“ der Scham näherzukommen trachten.

Gleichwohl konzentriert sich Köhler im Wesentlichen auf Themen, die für den Zeitraum ihrer eigenen Lebens- und Erfahrungsspanne bis dato von Bedeutung sind und stellt fallweise historische Bezüge her. Dies begründet sie damit, dass Scham „an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft“ stehe und als „Unterhändlerin zwischen dem Ich und der Norm“ diene. Die Autorin zeigt dabei, wie fest eingewoben fehlgeleitete Schamstrukturen in die globalisierte, kapitalistisch regierte Welt sind.

Scham entsteht im Grenzbereich zwischenmenschlicher Begegnung – mit der einzigen Ausnahme der Scham vor sich selbst, bei der, wie Köhler hervorhebt, demütigende Blicke von anderen internalisiert wurden. In diesem Fall können die herrschenden Regelkodizes zum „unsichtbaren Schamkorsett“ werden. Doch auch hier ereignet sich Scham stets im Täter-Opfer-Modus zwischen Macht und Ohnmacht, Herrschaftsausübung und Unterwerfungsreflex. Das Schamgefühl verbindet so letztlich Täter und Opfer und kratzt bei beiden das Selbstverständnis an. Wer also macht sich lächerlicher: der Beschämte oder der Beschämende?

Unter Rekurs auf Zivilisationstheoretiker wie Norbert Elias, Kulturhistoriker wie Georg Simmel, Psychoanalytiker der Scham wie Léon Wurmser oder Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Emmanuel Levinas oder Peter Sloterdijk führt Köhlers Text in die Vielfältigkeit des Schamgefühls ein. Sie lässt dabei auch das weitreichende Gefahrenpotenzial von Scham nicht außer Acht und legt anhand verschiedener Beispiele schlüssig dar, dass Scham „einer der häufigsten Auslöser von Gewalt“ ist. Während Schamangst potenziell zur gefährlichen Überkompensation tendiert, zeigt die Verfasserin auch das schöpferische Potenzial, das sie unter anderem in einer in der Literatur produktiv gewendeten Sprachscham findet – so zum Beispiel in Werken von Peter Handke und Robert Walser. Der Leser erfährt darüber hinaus viel über die Alltagsmechanismen der Scham und über verdeckt schammotivierte Handlungen: darunter fallen Reality-Shows ebenso wie Internet-Plattformen oder werbepropagierte Schönheitsideale bis hin zur Schamlosigkeit im Umgang mit Verfehlungen in Politik und Ökonomie.

Da Scham angstgrundiert ist, sind die Mechanismen der Kompensation in einer Gesellschaft der Starken so reichhaltig wie das Phänomen der Angst selbst. Schamlosigkeit wird dabei zum einen als Werteverfall, zum anderen als Kennzeichen für schamgrundierte Defizite verstanden, die dialektisch umgeschlagen sind in die Verachtung des Selbst und anderer, in Rache, Gewalt, reine Selbstbezüglichkeit oder die „Immunisierung gegen jede Verantwortlichkeit“. Diese Motive deckt die Verfasserin innerhalb der Grundfesten der westlichen Zivilisation auf. Schamlosigkeit erscheint bei Köhler zuletzt als organisierender Unterbau der Gesellschaft, in der wir leben. Der Scham selbst käme im Umkehrschluss subversive Macht zu, ein Aspekt von Scham als Quelle der Rebellion, auf den der Essay ebenfalls eingeht.

Obgleich die Autorin über die grundlegende Beschaffenheit von Scham nicht zu neuen Ergebnissen kommt, liegt die Stärke ihres vorgelegten Texts stattdessen in der von ihr abgedeckten Bandbreite: Sie führt unter anderem Beispiele aus Kunst, Philosophie, Soziologie, Politik, Pädagogik und Kriminologie an. Vom Dschungelcamp ist darin – glücklicherweise – nur am Rand die Rede. Dafür sind in die Texte kürzere Alltagsintermezzi eingestreut, bestehend aus allseits bekannten und doch schnell vergessenen Situationen, in denen Scham auftritt, entsteht und stets eben auch zugefügt wird. Damit ruft Köhler implizit den eingangs erwähnten Bezug der Scham zur Person, die hier der Leser ist, permanent in Erinnerung.

Wie maßgebend Scham als Herrschaftsinstrument in der Vergangenheit war, zeigte in diesem Jahr eine Sonderausstellung mit dem Titel Scham. 100 Gründe, rot zu werden im Hygiene-Museum in Dresden (vom 26.11.2016 bis 05.06.2017) an exemplarischen Beispielen aus der Geschichte. Köhlers Buch, das etwa zeitgleich zur Kuration der Ausstellung entstanden sein muss, wird durch diese und den zugehörigen Katalog jedoch nicht obsolet, vielmehr stellt es durch seinen Aktualitätsbezug auf feinsinnige Weise eine – man möchte sagen, notwendige – Ergänzung dar.

Köhlers Essay lässt sich als ein durch und durch engagierter verstehen. Die Autorin scheut das Urteil nicht. So beklagt sie – um nur einige Beispiele anzuführen – den fehlenden Anstand und angemessenen Abstand zueinander und konstatiertet einen Mangel an Höflichkeit. Jene drohe „inzwischen mehr und mehr auf der Gerümpelhalde ausgemusterter Etikette zu landen“. Anstand und Ehre seien zu Anachronismen geworden, weshalb in der westlichen Kultur ein „Autismus der Schamlosigkeit“ vorherrschend sei. Köhler kritisiert unter anderem die medial inszenierte Beichte als therapeutisches Ritual, das zur Aufhebung der „Grenze zwischen Reue und Ruhmsucht“ führe. Sie handelt von der Strapazierung der privaten Grenzen durch die neuen Technologien, die allzu oft selbst verschuldet wird: durch die bereitwillige Preisgabe persönlichster Daten im Netz ebenso wie beim intimen Handygespräch an der Kasse des Supermarkts. Im unausgesprochenen Zentrum von Köhlers Essays steht so letztlich die Sorge um das Personsein in der heutigen Gesellschaft.

Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, weshalb Köhler letztlich für Scham plädiert und zwar in ihrer Funktion „als schmerzhaftes Korrektiv“ und „Regulativ“. Als solches werde Scham zur „Schildwache unserer Integrität“. Denn ohne Scham zu leben, das zeigt die Autorin, ist utopisch. Mit einem spezifischen Verständnis von Scham ließe sich jedoch das mit ihr zusammenhängende Personsein wiedergewinnen oder erhalten.

Köhlers Text muss daher verstanden werden als ein Bekenntnis zu sozialen Übereinkünften sowie als ein Bekenntnis zum Personsein. Das Verständnis von einer nützlichen Form von Scham, das Köhler zuletzt entwirft, dient der Konstituierung des Einzelnen als Person im eingangs ausgeführten Sinn: nämlich als anerkennbares Kollektivwesen. Ernst gemeinte und ernst genommene Scham in Maßen ist sodann unverzichtbar für den bruchlosen Selbsterhalt im Kontext ethisch-moralischer Integrität. Oder anders formuliert: Scham ist unser externalisiertes Gewissen in Dosen.

Titelbild

Andrea Köhler: Scham. Vom Paradies zum Dschungelcamp.
Reihe zu Klampen Essay. Herausgegeben von Anne Hamilton.
zu Klampen Verlag, Springe 2017.
152 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783866745513

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