Balkanmythen

Téa Obrehts Roman „Die Tigerfrau“ ist ein Dschungelbuch des Krieges

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Solange ein Kampf ein bestimmtes Ziel hat […], besteht immer die Hoffnung auf ein Ende. Wenn er jedoch nach Auflösung trachtet […], dann bleiben nichts als Hass und die lange, träge Prozession von Menschen, die Generation für Generation von ihm zehren. Dann ist der Kampf endlos, kehrt immer wieder.

Die 1985 in Belgrad geborene, heute in New York lebende, Schriftstellerin Téa Obreht verließ als Kind während der Balkankriege mit ihrer alleinerziehenden Mutter und den Großeltern das damalige Jugoslawien in Richtung Vereinigte Staaten. Die Tigerfrau, im Original eigentlich „Die Frau des Tigers“ (The Tigerʼs Wife) ist ihr Debütroman, der 2011 in Großbritannien den Orange Prize for Fiction gewann und zugleich Finalist für den US-amerikanischen National Book Award war.

Es ist die Geschichte der jungen Ärztin Natalia, die in einem namenlosen Land auf dem Balkan humanitäre Hilfe für Kinder leistet, „die die eigenen Soldaten zu Waisen gemacht hatten“. Sie wird geprägt vom Schicksal und den unglaublichen Erzählungen ihres Großvaters, die in Rückblenden die Kriege, deren Auswirkungen, Ursachen und die faszinierende Mythologie der Region nachzeichnen. Eigentlich will Natalia neben ihrem Arbeitseinsatz nur die Habseligkeiten des geliebten, verstorbenen Großvaters abholen, gerät dabei aber zwischen die beiden großen Geschichten seines Lebens.

Ob es je einen Mann gab, der nicht sterben konnte, oder ein aus dem Zoo ausgebrochener Tiger die Wälder des Balkangebirges durchstreifte, um nachts die taubstumme Frau eines Schlachters heimlich aufzusuchen, spielt keine Rolle. Obreht erzählt diese Fabeln so einfach, brutal und spannungsgeladen, wie Rudyard Kipling in Großvaters heiligem Schatz, seinem Dschungelbuch.

Auch die Vorkommnisse des Kriegs schildert sie einfühlsam, aber keineswegs verharmlosend, direkt und anklagend, aber stets imaginär und geografisch nicht exakt verortet: eine Stadt wird belagert, es gibt eine Küste, Inseln, Plünderungen und Paramilitärs, die „Leute“ werden in „nicht katholisch“ oder „nicht muslimisch“ eingeteilt, man sieht sich die Namen seiner Freunde und Nachbarn genau an, darf nichts Politisches oder Religiöses ansprechen, es gibt eine „neue Grenze“. Die Protagonisten ergreifen dabei nicht Partei, sondern fassen die Ohnmacht der in Aberglauben und Traditionen verwurzelten Zivilbevölkerung in Worte.

Wie schon Saša Stanišić (Wie der Soldat das Grammofon repariert) und Ismet Prcic (Scherben), die in ihren Debütromanen ihre Kriegs- und Fluchterfahrungen als Jugendliche literarisiert haben, verhandelt auch Obrecht den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens in der Literatur ihres Aufnahmelandes. Im Gegensatz zu ihren Schriftstellerkollegen präsentiert sie ihren Lesern, vor dem historischen Hintergrund der kindlichen Wahrnehmung und Vorstellungswelt, nahe stehende, lokale – oft schaurige oder grausame – Mythen. Das kann man faszinierend oder exotisierend finden, der Roman verblüfft und reißt mit.

Titelbild

Téa Obreht: Die Tigerfrau. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2012.
414 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347122

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