Schandschnauzen unter sich

Peter Rühmkorfs Auseinandersetzung mit Walther von der Vogelweide in kommentierter Ausgabe

Von Martin SchubertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Schubert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Band mit dem bescheidenen Titel Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich von Peter Rühmkorf wurde im Jahr 1975 in den Feuilletons und am Buchmarkt begeistert aufgenommen. Rühmkorf bot hier persönlich gefärbte Essays zur Lyrik und zu zwei anderen Dichtern über die Zeitläufte hinweg, das Ganze mit eigenen Gedichten ergänzt. Gerade die persönliche Auseinandersetzung und Rühmkorfs Suche nach dem Dichter, der ‚Ich‘ sagt, brachten frischen Wind in die Debatte über Lyrik. Zumal einen mittelalterlichen Dichter wie Walther, dem sich Rühmkorf wegen der prekären Stellung und offensiven Selbstinszenierung geistesverwandt fühlte, wollte er aus der exklusiven Bearbeitung durch die Germanisten befreien. Auch im Fach erntete er durchaus Respekt – besonders für seine freien Nachdichtungen aus dem Mittelhochdeutschen, die als gereimte Texte und als Modernisierungen gleich doppelt gegen die Fachkonventionen standen. Mit ihrem besonderen Sound, der ganz rühmkorfisch und nach wie vor ganz modern klingt, zudem aber deutlich Walthers Stellungnahmen transportiert, öffnete er einen neuen Zugang. Ein Vers wie „Reinmar, fürwahr, dein Tod stimmt mich solenn“ ist klar und heutig und erweckt zugleich den Eindruck, dies sei genau das, was Walther mit „dû riuwes mich“ ausdrücken wollte.

Jetzt liegt als Edition der Arno Schmidt Stiftung, in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, der Band Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide vor, der eine historisch-kritische Ausgabe des Walther-Essays bietet und Rühmkorfs Beschäftigung mit dem Mittelalter detailliert aufarbeitet. Und der Band enthält vier Teile.

I. Die Walther-Nachdichtungen: Am Anfang wird ein Auszug der Nachdichtungen nebst den mittelhochdeutschen Vorlagen synoptisch nebeneinandergedruckt, während Rühmkorf die Vorlagen seinem Essay als Anhang nachstellte. Die mittelhochdeutschen Texte werden nach den Ausgaben zitiert, die Rühmkorf vorlagen; Verweise auf die aktuelle Walther-Ausgabe von Thomas Bein deuten an, wo man sich weiter informieren kann. Im Nebeneinander der Texte lässt sich die Arbeitsweise des Dichters gut nachvollziehen, zumal im Kommentarapparat auf die im Deutschen Literaturarchiv Marburg enthaltenen Materialien aus Rühmkorfs Nachlass verwiesen wird. Oft werden nur der Umfang der Skizzen und Entwürfe angegeben und nur ausgewählte Passagen zitiert, was aber bereits einen Eindruck von der mühevollen Arbeit gibt.

So erfährt man, dass zum Gedicht Uns irret einer hande diet 31 Seiten Material vorliegen – wovon aber dann nur eine Variante (‚mich‘ statt ‚uns‘) mitteilenswert ist. Wie sehr der Übersetzer sich abquälte, zeigt etwa die erste Zeile aus Ich bin nû sô rehte frô, zu der er 15 Alternativen ausprobiert. Auch sieht man, dass Rühmkorf zwar im Essay schlüssig erklärt, warum Walthers Vokalspiel wohl „für immer unübersetzbar“ bleibt; aus dem Nachlass geht aber hervor, dass er es immerhin vier Verse lang versucht hat.

Rühmkorf wollte eigentlich das gesamte Walther-Oeuvre übersetzen, was er aber unterließ, als er für solch ein Projekt keine Finanzierung fand. So gut wie alles, was er fertig hatte, arbeitete er offenbar in den Essay ein: Erstmals aus dem Nachlass gedruckt sind hier nur eine Übertragung (zu Ich hân dem Missenaere) und ein Versuch von neun Versen (zu Nieman kan mit gerten).

II. Der Walther-Essay: Im folgenden Abdruck des Essays, der natürlich die Übertragungen jetzt noch einmal enthält, wird der Walther-Teil aus dem Kontext des ersten Abdrucks herausgelöst. Das war unproblematisch, da die Teile zu Klopstock und zum ‚Ich‘ verschieden eng angeschlossen sind und Rühmkorf selbst Lesungen und Radiosendungen auf Walther konzentrierte. Der Abdruck folgt dem Erstdruck zeichengenau bis in die Kommafehler. Erläuternde Kommentare – vor allem zu Typoskriptvarianten und zu den erwähnten Personen – erleichtern die Handhabung sehr.

Rühmkorf bringt die Gedichte in eine biographische Reihe und destilliert daraus ein eigenes Bild von Walther, der als lyrischer, individualistischer Fein- und Freigeist seinem Übersetzer ähnelt. Explizit wirft Rühmkorf der Germanistik vor, nach der deutschnationalen Vereinnahmung mittelalterlicher Literatur außer „einem Scherbenhaufen von Fußnoten“ nichts mehr zustande gebracht zu haben; er wolle jetzt frischen Wind hineinbringen. Als ehemaliger Germanistikstudent, wenn auch ohne Abschluss, hatte er genügend fachliche Voraussetzungen, und er arbeitete sich geradezu berserkerhaft in die Fachliteratur ein.

Gerade dass er das Individuelle an Walther durch die unakademische Art der Anverwandlung sucht, macht seinen Text sympathisch. Zum fachlichen – und fachkritischen – Gehalt ist anzumerken, dass Rühmkorf hier den hergebrachten Biographismus nur um eine weitere Umdrehung dreht; also eigentlich genau dasjenige fortsetzt, von dem sich das Fach der Zeit zu lösen versuchte. Was den Germanisten wohl am meisten aufstieß, war der Gestus der Überlegenheit, mit dem Rühmkorf zu erkennen gab, dass ein Dichter den Dichter am besten versteht und daher auch in seinen Interpretationen einfach Recht haben muss.

III. Bislang Ungedrucktes: Ein Juwel sind die hier zum ersten Mal gedruckten Materialien, darunter der Briefwechsel mit dem Altgermanisten Peter Wapnewski, mit dem Rühmkorf sich beriet. Hier kann man der entstehenden Freundschaft zusehen, die unter anderem dazu führte, dass man sich gegenseitig rezensierte – wie im ebenfalls enthaltenen Nachdruck der Renzensionen erkennbar ist wohlwollend, aber nicht unkritisch. Der Dichter wandte sich an den Wissenschaftler, weil auch der sich den Texten im Gestus eigener Betroffenheit näherte, und der Wissenschaftler schätzt an jenem die poetische Aneignung, die sich an philologische Details nicht zu scheren braucht.

In diesem Austausch hatte Wapnewski nicht nur die Übersetzungen zu prüfen und den Sparringspartner für Rühmkorfs biographische Deutungen abzugeben, sondern er benannte auch wunde Punkte. Als ihm das komplette Typoskript des Bandes vorlag, führte er mit vielen Beteuerungen des Wohlwollens aus, dass es nicht zusammenpasse, die Philologen runterzuputzen und zugleich mit ihren Kategorien (wie Datierung, Zeitgeschichte; letztlich Rekonstruktion des Dichterlebens) weiterzuarbeiten – und das auch noch so selbstgewiss, als gäbe es keinen Deut des Zweifels.

Hatte der Wissenschaftler hier in der Tat „wohl das Gefühl, der fachfremde Dichter betrete allzu forsch germanistisches Hoheitsgebiet“, wie Ulrich Greiner in einer Rezension der kritischen Ausgabe mutmaßt? Wohl kaum. Rühmkorf tut das natürlich; aber Wapnewskis rät ihm, bei genauem Hinschauen, sich nicht ins Haifischbecken literaturwissenschaftlicher Haifischjagd zu begeben, sondern bei Hans Sachs‘ Leisten zu bleiben. Rühmkorf ist an dieser Stelle herrlich eingeschnappt; der Verlauf hat aber die Freundschaft nicht beeinträchtigt. Zum 80. Geburtstag im Jahr 2002 schickt er Wapnewski dann eine auf den Älteren zugeschnittene Parodie von Walthers Ich saz ûf eime steine, samt Zeichnung seiner selbst in der Dichterpose Walthers.

Diese Teile des Buchs bieten überhaupt manchen Beifang: Es ist herrlich, wie die beiden um die Frage schleichen, ob man sich duzen solle. Wapnewski geniert sich für seine 25 Jahre alte Doktorarbeit. Rühmkorf schreibt anerkennend im Mai 1974: „Die Übersetzungen von P. Hase in Ihrem Fischer-TB sind gar nicht schlecht“, worauf Wapnewski gesteht „Mein Schüler P. Hase ist mein frühstes und einziges Pseudonym“ – was Rühmkorf in einem Tagebucheintrag schon vermutet hatte, als er seinen Brief schrieb. In einem der Briefe Wapnewskis steht aber auch die Stelle „Ich werde nie der sein, der Dir in der Öffentlichkeit Fehler ankreidet“ – und jetzt wird doch alles publik.

IV. Erläuternder Essay: Ein kenntnisreicher Essay des Herausgebers Stephan Opitz rundet das Ganze ab. Der greift in die Vollen der unpublizierten Tagebuchauszüge und zeichnet ein gutes Bild von Rühmkorfs Weg ins Mittelalter. Der begann mit dem Plan einer – leider nie zustande gekommenen – Minnesänger-Oper und führte über die Auseinandersetzung mit Walther zu den Nachdichtungen und zu neuen eigenen Gedichten, nachdem Rühmkorf zehn Jahre lang keine Lyrik publiziert hatte. Der Essay kommentiert alles eingehend; Opitz hat viele Zeitzeugen befragt und Unmengen von Material ausgewertet. Gerade die Tagebuchnotizen zeichnen ein aufschlussreiches Bild von Rühmkorfs gnadenloser Auseinandersetzung mit der Materie, vom nächtelangen Kampf mit den Texten, nur unterstützt von Alkohol, Tabak und Cannabiszigaretten.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass der Band eine nahezu perfekte Edition ist, die einen Teil bekannten Materials zusammen mit schönen Neufunden aus dem Nachlass veröffentlicht. Es fällt auf, dass keiner der Bearbeiter Mediävist oder Altgermanist ist, was bei diesem Thema doch nahegelegen hätte. Die Kommentare sind zum Teil wählerisch; es kommen kaum Unwissenheitsmarkierungen vor. Was etwa meint das Scheltwort „Germanosophen“, die sogar auf der hinteren Klappe verewigt sind? Der Neologismus wäre auch erläuterungswürdig. Typographisch ist der Band hervorragend (Satz von Friedrich Forssman).

Zu Wapnewskis Geburtstagsgabe, der Nachdichtung von Ich saz ûf eime steine, hat Rühmkorf wieder zehn Seiten Skizzen verfertigt, die er dem Beschenkten stolz zuschickt. In einem der Fragmente kondensiert er seine übersetzerischen Intentionen ungemein treffend; er fragt sich

wie man drei Dinge schaffte,
das Lockre, das Geraffte
nebst insgeheimen Dingen
in
eine Form zu bringen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Rühmkorf: Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide.
Herausgegeben von Stephan Opitz unter Mitarbeit von Christoph Hilse.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
280 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835330399

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