Und es bewegte sich doch!

Der Sammelband „Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit“ erforscht Dynamiken vormodernen Wissens

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den Teilprojekten der derzeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten 267 Sonderforschungsprojekte finden sich einige wenige, die im Anschluss an Dilthey neben dem systematischen Interesse an ihrem Gegenstandsfeld auch ein historisches Interesse an demselben geltend machen.

Das trifft gleich doppelt  auf den Sonderforschungsbereich (SFB) 980 zu, in dem unter dem Obertitel Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit seit 2012 interdisziplinäre Forschungen an bereits zum Teil länger bekanntem Material mit neuen Zugängen koordiniert werden. Ziel des nun in die zweite Bewilligungsphase übergegangenen SFB, die bis 2020 andauern wird und zu der nicht unwesentlich die Ergebnisse des hier zu besprechenden Bandes Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit beitrugen, ist eine „grundsätzliche Neuorientierung der wissensgeschichtlichen Forschung zur Vormoderne“, wie es im Buch heißt. Dort wird auch der für die Forschungsgemeinschaft wichtige Begriff „Episteme“ erläutert.

Wissen wird stets als Auszuhandelndes verstanden. Dadurch werden Kenntnisse und Erkenntnisse einerseits gesichert und anerkannt, systematisiert und autorisiert, andererseits aber auch substituiert, verabschiedet und verworfen. Drei große Projektbereiche, die unter den allgemeinen Überschriften „Sagen“, „Zeigen“ und „Handeln“ auf jeweils ganz eigene Weise die Fragen an das untersuchte Material motivieren, versammeln insgesamt gut 22 Teilprojekte, die zum Teil dem Institut für Griechische und Lateinische Philologie oder dem für Deutsche und Niederländische Philologie zugeordnet werden können. Beteiligt sind aber auch das Institut für Altorientalistik, Iranistik und Ägyptologie, für Sinologie und Koreastudien und andere mehr.

Die überwiegende Zahl der Teilprojekte werden von Professoren und Professorinnen der Freien Universität Berlin geleitet und koordiniert, einige aber auch von jenen der Humboldt Universität Berlin und, beispielsweise das Projekt „Epistemische Dissonanzen. Wissensobjekte und Werkzeuge frühneuzeitlicher Akustik“, vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, das ebenfalls in Berlin ansässig ist.

Zudem gibt es ein Gastprojekt, das unter dem dynamischen Titel „Handschriften in Bewegung“ an der technischen Universität Darmstadt beheimatet ist. Außerdem werden auf der anschaulich und informativ gestalteten Homepage des SFB 980 noch weitere Projekte aufgezählt, die ganz offensichtlich nicht problemlos in die dominante Struktur-Trias von „Sagen“, „Zeigen“ und „Handeln“ einzugliedern waren. Erwähnenswert ist diesbezüglich sicherlich einerseits das Projekt „Bücher auf Reisen. Informationstechnologische Erschließung von Wissensbewegungen in vormodernen Kulturen“ sowie das Projekt „Öffentlichkeitsarbeit“, das erst mit der angelaufenen zweiten Bewilligungsphase integriert werden konnte.

Auf diese Weise der interdisziplinären und detaillierten Forschung zu Einzelfragen werden hinter der vermeintlichen Statik einer insgesamt auf Harmonie mikrokosmischer und makrokosmischer Prozesse eingestellten Ordo-Welt, die der Aufklärung verpflichtete Rekonstruktionen und Archivierungen antiker und mittelalterlicher respektive frühneuzeitlicher Wissens-Kosmen noch mit und nach Michel Foucault postulieren, Prozesse des Austauschs und der Divergenzen, Emergenzen und Kontroversen sichtbar.

Ein Ziel des Sammelbandes Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber, über das die von Peter-André Alt, Jutta Eming, Tilo Renz und Volkhard Wels verfasste Einleitung informiert, ist es sicherlich, auch einer so wirkmächtigen wie bedenklichen Foucault-Rezeption Paroli zu bieten, nach der zwar nicht systematisch, wohl aber historisch die Wissensakkumulation, ganz im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels, irgendwann einmal ohne Rest und Irritation sowie ohne Fehllektüren abgeschlossen werden könne. Denn der positivistische Traum von objektiv ermittelbaren Daten, die mit der Ermittlung zugleich dem Wissenschaftler respektive der Wissenschaftlerin universalgültige Entschlüsselungskompetenzen ihrer selbst mitteilten könnten und die ganz ohne Willkür auskäme, ist zu gefährlich, als dass man ihn unwidersprochen jene träumen lassen könnte, die ihn eben träumen wollen.

Foucault, der gemeinsame Ausgangspunkt der auf die Einleitung folgenden 17 Beiträge, hat mit seiner Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften möglicherweise eben nicht die „Signatur der ganzen Epoche, sondern einer besonderen Diskurskonstellation“ rekonstruiert. Das heißt natürlich nicht, dass jeder der Beiträge gegen Foucaults „überaus folgenreiches Werk“ polemisierte. Über diesen kleinsten gemeinsamen Nenner hinaus, dass Foucaults Ansicht der Ordnung der Dinge nur eine Teilansicht sein kann, dem Beschriebenen selbst mehr verpflichtet als einer Objektivität, versammelt der Band durchaus kontroverse und gar sich zueinander – gemäß eines bestimmten Begriffs von Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte – kontradiktorisch verhaltende Beiträge.

Es gilt ja, die Tragweite der Begriffe „Episteme“ und  „Transfer“, fernab von rein formallogischen Kriterien, in Bezug auf ihre Tauglichkeit für neue wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven auf Althergebrachtes zu erproben, ohne vorab zu starke Ausschlusskriterien zu formulieren.

Berücksichtigt werden in den Beiträgen Reiserouten des Wissens zwischen Europa, Arabien und Asien. Sie werden von vorchristlicher Zeit aus bis hin zu nachreformatorischen universitären und nicht-universitären Räumen des Wissens, Könnens und Glaubens befragt und kommentiert, wobei sie systematisch und nicht chronologisch angeordnet sind. Beispielsweise führt der vorletzte und nicht der letzte Beitrag ins 18. Jahrhundert, während der letzte zu frühneuzeitlichen Debatten um Wünschelruten gleichsam mit seinem Gegenstandsfeld chronologisch zurückspringt.

Almut-Barbara Renger beginnt in ihrem den Band eröffnenden Beitrag ihre textuelle Exkursion bei dem Vorsokratiker Pythagoras (570 bis 510 v. Chr.), um von dort aus, noch weiter in die Vergangenheit und noch deutlicher in den arabischen Kulturkreis blickend, das Gegenstandsfeld nach Konstruktionen langer Halbwertzeiten des Wissens zu befragen. Dies impliziert bereits der Titel: „Von Pythagoras zur arabischen Alchemie? Über Longue-Durée-Konstruktionen und Wissensbewegungen im Mittelmeerraum“.

Harald Haferland beschäftigt sich dagegen mit der Theoriegeschichte der Alchemie vor allem am Beispiel zweier ihrer Exponenten, des Übersetzers Johannes Kunckel und des Verfassers der Arte vetraia, Antonio Neri; er springt somit aus Amsterdam um 1703 zurück nach Florenz zwischen 1576 und 1614.

Die Germanisten und Germanistinnen werden wahrscheinlich die Beiträge von Jutta Eming zu Parzival oder von Tobias Bulang zu den Schreibweisen im Werk Johann Fischarts, schließlich auch den Beitrag von Stefanie Stockhorst zur satirischen Erbauungsalchemie und die Ausführungen von Simon Zeisberg zur Funktion des Wunderbaren bei Grimmelshausen mit Gewinn lesen.

Doch auch diejenigen Beiträge, die poetischen Verfahren in neulateinischen Gedichten nachspüren wie etwa derjenige Jost Eickmeyers oder die sich magischen und alchemistischen Figurationen außerhalb von Literatur im engeren Wortsinne widmen, was Marina Münkler tut, sind auf alle Fälle innovativ für gegenwärtige literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Überlegungen, wenngleich Münklers Beitrag zu einer interdisziplinären Wissenschaftsgeschichte sicherlich nicht in erster Linie auf Leser und Leserinnen aus diesem Spektrum zugeschrieben ist.

So erscheinen etwa J.K. Rowlings Harry Potter-Romane von ganz anderer und tieferer Bedeutung und Qualität, sie stehen William Shakespeares Texten ästhetisch in nichts mehr nach, sondern überholen sie gewisser Hinsicht, liest man sie vor dem Hintergrund des hier versammelten Wissens um vormoderne Wissensprozesse und Wissensdynamiken.

Das Erzählen von Geheimwissen, wie wir es etwa im Parzival unter anderen Werken inszeniert sehen, wird in der Gattungsgrenzen mittlerweile dekonstruierenden Harry Potter-Welt nicht nur im posttolkinschen Modus persifliert, sondern tatsächlich detailliert in modernes, aktuell angemessenes Erzählen des Nicht-Erzählbaren übersetzt: Derart komponiert Rowling aus der Geschichte des vormodernen Wissensaustausches zwischen Magie, Alchemie und Poesie Geschichten, die einen aktuellen Lebensweltbezug genau damit herstellen, dass sie Wissensgeschichte der Vormoderne als innerhalb des Mainstreams unsichtbar gemachte Parallel-Geschichten zu aktuellen Wissensgeschichten erzählen.

Es überzeugt, Alchemie, Magie und Poesie als aufeinander bezogene und wechselseitig sich bedingende Schreibweisen verstehen zu wollen (also als ko-evolutionär entstandene Verfahren einzustufen), die in Mittelalter und Früher Neuzeit bereits ihre Wirkmächtigkeit eben nicht daraus zogen, dass zu jeder Zeit, an jedem Ort und von jedem Gelehrten das Gleiche darunter verstanden worden ist, sondern aus der Offenheit dessen, was mit ihnen jeweils gemeint sein mochte.

Hat man erst einmal sein Wissen begrifflich geordnet, beginnt tatsächlich die wissenschaftliche Arbeit erst so recht, indem der Blick auf die einzelnen Texte und Gegenstandsfelder gelenkt wird, die ansonsten die Begriffe verstellten. Das gelingt den Beiträgen in ihrer Gesamt-Komposition und in ihrem Zusammenwirken durchaus. Es glückt gerade dadurch, dass Magie gelegentlich als eine auf Harmonie von Mikrokosmos und Makrokosmos verpflichtete Weltanschauung erscheint, Alchemie als ein Verfahren, um diese Weltansicht mittels differenter Techniken (Destillation, Sublimation, Calcination et cetera) zu plausibilisieren und als wahr erfahrbar zu machen, und Poesie als literarische Schreibweise, die, in Analogie zur Alchemie, mittels rhetorischer Figuren dichtend operiert. Ebenso wird herausgestellt, dass diese Begriffstrias in dieser Art nicht angemessen zur Rekonstruktion und Beobachtung des Gegenstandsfeldes angewendet werden kann.

Leser und Leserinnen müssen sich auf die Komplexität und Gegenläufigkeit einlassen wollen. Dann ist dieses Buch auch außerhalb wissenschaftlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Kreise eine kluge und bereichernde Lektüre. Die den Beiträgen angefügten Farbabbildungen helfen den Lesern und Leserinnen, die ferne Fremde als Anderes, als Alterität wahrzunehmen und zu befragen, ohne sie jemals auch nur annähernd entschlüsseln zu können.

Titelbild

Peter-André Alt / Jutta Eming / Tilo Renz / Volkhard Wels (Hg.): Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2015.
447 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783447104951

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