Ein Königreich für Literaturliebhaber

Die Phantastische Bibliothek Wetzlar ist ein Dorado für Bewohner phantastischer Welten. Dabei bietet sie weit mehr als „nur“ Bücher

Von Katharina HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Hahn, Hannah Varinia SüßelbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Varinia Süßelbeck und Raphael AmmonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Raphael Ammon

Wetzlar ist als literarischer Ort weltberühmt. Der junge Johann Wolfgang Goethe arbeitete hier am Reichskammergericht, lernte Charlotte Buff kennen und erhielt Anregungen, die er in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers verarbeitete, dem ersten europaweiten Bestseller der deutschen Literatur. Das „Lottehaus“ ist noch immer ein beliebtes Ziel für Literatur-Touristen. Nur wenige hundert Meter entfernt, in einem schicken Wohnviertel in Wetzlar, findet sich relativ versteckt in der Turmstraße 20 die Phantastische Bibliothek. Von außen wirkt das Gebäude nicht besonders beeindruckend. Eher wie ein etwas zu groß geratenes Wohnhaus oder ein zu klein geratenes Schulgebäude. Laufkundschaft gibt es kaum. Zu weit weg ist die Bibliothek vom Bahnhof oder anderen zentralen Verkehrsknotenpunkten. Die Besucher müssen gezielt zum ehemaligen Staatsbauamt kommen, was nur möglich ist, wenn man ein besonderes und vielfältiges Programm bietet. Betrachtet man das Haus von außen, gibt der Drache auf dem Balkon einen ersten Hinweis darauf, was sich hinter der gewaltigen, dunkelbraunen Eingangstür verbirgt.

Innen herrscht an diesem Montagnachmittag Anfang Dezember viel Betrieb, als sich drei Studierende der Philipps-Universität Marburg mit Bibliotheksleiterin Bettina Twrsnick zum Gespräch treffen. Bei Kaffee und Gebäck gewinnen sie Einblicke in die Geschichte und die Aufgaben des Hauses. Dessen äußerer Eindruck täuscht gewaltig, denn hinter den gelblich gestrichenen Mauern verbergen sich auf 1.800 Quadratmetern aktuell 291.000 Bücher. Davon ist mindestens die Hälfte der Titel zweifach vorhanden, damit immer ein Exemplar vor Ort ist. Als größte öffentlich zugängliche phantastische Bibliothek der Welt hat sie eben auch Archivcharakter. „Die große Zahl an Büchern kommt vor allem deshalb zustande, weil wir keine Qualitätsunterschiede machen. Wir sammeln alles, was im Bereich Phantastik erscheint“, erklärt Twrsnick.

Der Vorteil, den die Spezialbibliothek gegenüber öffentlichen Büchereien und Universitätsbibliotheken hat, ist die schnelle Reaktionsfähigkeit. Soll ein bestimmtes Buch angeschafft werden, ist das ohne bürokratische Hürden möglich. Auch das Katalogisieren der Titel funktioniert beeindruckend simpel. Nachdem man die Masse der Bücher gesehen hat, ist es umso erstaunlicher, dass es nur zwei Menschen in der Bibliothek braucht, um sämtliche Neuerscheinungen zu erfassen und einzuordnen. Diese beiden beschließen nach eingehender Lektüre, ob ein Buch nach der bibliothekseigenen Definition zur phantastischen Literatur zählt. Diese lautet: „Solange Sie unsicher sind, ob etwas real oder nur eine Wahnvorstellung ist und wenn sich mindestens ein handlungsbestimmendes Element als nicht realistisch entpuppt, handelt es sich um phantastische Literatur. Im Zweifel zu sein genügt.“ Entspricht ein Buch dieser Klassifikation, wird es in den Bestand aufgenommen und in unterschiedlichen Genres systematisiert. Von der Bestellung bis zur Aufnahme in den Bestand vergeht darum meist weniger Zeit als etwa bei universitären Bibliotheken. Das kann sogar dazu führen, dass manche Bücher schneller in der Wetzlarer Phantastischen Bibliothek vorrätig sind, als im regulären Buchhandel. Angesichts eines so speziellen und besonderen Aufgabenbereichs stellt sich die Frage, warum sich die Bibliothek gerade in Wetzlar und nicht in Berlin, Hamburg oder München befindet. Schließlich ist sie eine von weltweit nur drei Spezialbibliotheken zum Thema Phantastik. Die anderen beiden befinden sich in den USA und in Kanada.

Wir schreiben das Jahr 1980. Thomas Le Blanc, heute Bibliotheksvorstand und seines Zeichens Mathematik- und Physiklehrer sowie Lektor, Verleger und Autor, lädt Science-Fiction-Schaffende aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in die mittelhessische Stadt ein. Schon bald erwachsen aus der jährlich stattfindenden Zusammenkunft die ‚Wetzlarer Phantastik Tage‘, die kurz darauf zu einer dreitägigen Tagung avancieren. „Ich bin 1987 hinzugestoßen. Vorher habe ich die Stadtbibliothek geleitet. Le Blanc hat seine Kontakte spielen lassen und allen erzählt, dass dort jetzt phantastische Literatur gesammelt wird. Nach drei Tagen hatten wir 10.000 Titel zusammen und die phantastische Abteilung war größer als der Rest der Stadtbibliothek“, erinnert sich die Bibliotheksleiterin. „Das Genre galt damals als verpönt, die Verlage haben uns ihre Bestände gerne überlassen.“ So etablierten Le Blanc und Twrsnick mit der Gründung 1987 und der Eröffnung 1989 die Phantastische Bibliothek Wetzlar.

Fragt man die Diplom-Bibliothekarin nach dem Bestand der Bibliothek und der Unterscheidung zwischen Fantasy und Phantastik, antwortet diese, dass in Zusammenhang mit der Bibliothek Fantasy schlicht als Untergenre der phantastischen Literatur angesehen wird. Dieser Prämisse folgt auch die Aufteilung der übrigen Untergenres. Los geht es mit Märchen, Sagen und Mythen. Diese gelten zusammen mit der Fantasy und ebenso wie Science-Fiction, Utopien und Horror als eigenständige Teilaspekte der Phantastik, die sich häufig untereinander erneut verzweigen. So finden sich bei den Utopien gesondert Staatsutopien, Dystopien, Eutopien und Steam-Punk sowie die Parahistorie. Horror ist begrenzt auf den phantastischen Horror und auch Krimis und Detektivromane sind hier nur dann archiviert, wenn ein übernatürlicher Akteur in der Geschichte auftaucht.

Doch wo kommen alle diese Bücher her? Nur Fach-, Kinder- und Bilderbücher müssen gekauft werden, und auch hier trifft das nicht auf alle Titel zu. Dank ihres Status als Spezialbibliothek bekommt die Wetzlarer Literatursammelstelle sämtliche Neuerscheinungen im Phantastik-Sektor von den Verlagen quasi als „freiwillige Pflichtabgabe“ in doppelter Ausführung zugeschickt. Selbstverständlich kostenfrei. Nicht nur deshalb verfolgt die Phantastische Bibliothek eine Politik des offenen Hauses und ist auch ansonsten erfrischend unbürokratisch. Es gibt keine Gebühren und keinen Zwang zu irgendeiner Mitgliedschaft. Stattdessen muss man lediglich einen Zettel mit Namen und Anschrift ausfüllen und erhält das gewünschte Buch für vier Wochen. Die Frist lässt sich dann bei Bedarf bequem per Telefon verlängern. Da schließt sich allerdings die Frage an, wie sich eine Institution, die relativ abgelegen in einer mittelgroßen Stadt ansässig ist und weder Leihgebühren noch Mitgliedsbeiträge verlangt, mit ihren zwanzig Mitarbeiter*innen finanziell über Wasser halten kann?

Die Phantastische Bibliothek Wetzlar ist nicht vom Staat oder der Stadt finanziert, sondern eine Stiftung. Da es momentan jedoch keine Zinsen vom Stiftungskapital gibt, mussten die Initiatoren auf alternative Standbeine zur Finanzierung vertrauen. So entstand beispielsweise das Projekt „Future Life“:  Dort lassen große Global Player, unter anderem Automobilkonzerne, Studien mit bestimmter Themenausrichtung in Wetzlar anfertigen. Mitarbeitende werden dafür bezahlt, die in der Science-Fiction-Literatur vorhandenen Ideen zu exzerpierten und zu systematisieren. Anhand derer wird dann unter Anleitung von Forschern versucht, Mutmaßungen und Prognosen zur tatsächlichen Zukunft zu treffen. Die Bibliotheksleiterin erklärt das ganz pragmatisch, denn diese Forschungsarbeit folgt der Prämisse: „Alles wurde irgendwo schon einmal beschrieben.“ Spracherkennungssoftwares und E-Mails sind heute längst Alltag. George Orwell erwähnte sie aber bereits 1949 in seinem bekanntesten Roman 1984. Auf der Homepage der Bibliothek heißt es dazu weiter: „Science-Fiction gibt an, was zukünftig erreicht werden könnte oder sollte (oder nicht sollte), und befasst sich auch mit den Folgen, Weiterentwicklungen und Anwendungsmöglichkeiten neuer Technologien.“ Future Life bildet heute die Haupteinnahmequelle der Bibliothek.

Neben diesem wissenschaftlichen Standbein finanziert sie sich außerdem über ihr soziales und pädagogisches Engagement. Es gehört zum Selbstverständnis der Bibliothek, dass sie sich als Kultur-, Wissenschafts- und Bildungszentrum sieht. Es werden Seminare, Vorträge und Symposien zu verschiedensten interdisziplinären Themen veranstaltet. Der Bildungsauftrag, den sie sich damit auferlegt hat, zeigt sich vor allem in ihrer offenen Zugänglichkeit, aber auch in ihrer Arbeit mit Geflüchteten. Ehrenamtliche Lehrkräfte bemühen sich um deren Integration und organisieren pro Woche zwölf Deutschkurse. Abgesehen davon werden aber auch Klavier- und Zeichenunterricht, Kurse im arabischen Schreiben und Mathe-Nachhilfe angeboten. „Hier ist sieben Tage die Woche Full House. Es ist wichtig für uns, möglichst alle Besucher zu begeisterten Lesern zu machen und ihnen generell Bildung zu ermöglichen“, erläutert die Bibliotheksleiterin. Sie ist außerdem durch ihre Fortbildung zur Multiplikatorin für Sprache und Literacy im hessischen Bildungsplan ausgebildet und als Referentin für ganz Hessen zuständig.

Beim Rundgang durch die Räumlichkeiten ist das Engagement in jedem Raum spürbar. Überall in den verwinkelten Gängen und Ecken wuseln Menschen umher. Im großen Saal haben bei voller Bestuhlung bis zu 200 Besucher Platz. Jetzt stehen die Tische in kleinen Gruppen zusammen. Trotzdem sind die meisten Stühle besetzt und der Saal erfüllt von gleichmäßigem Gemurmel. Links und rechts gehen Türen ab und führen in den noch weiter verwinkelten Innenbau. Streift man durch die Räume der Bibliothek, die sich scheinbar endlos aneinander reihen, fällt vor allem das unterschiedliche Publikum ins Auge. Auf die Frage, welche Zielgruppe hier angesprochen werden soll, antwortet Twrsnick wie selbstverständlich: „Alle!“ Seien es Eltern mit Kindern, Flüchtlinge oder ein akademisch-universitäres Publikum. Heute sind die Geflüchteten mit ihren Kindern in der Überzahl. So ist es durchaus möglich, dass inmitten tausender Bücher ein integrativer Sprachkurs abgehalten wird. Ein pensionierter Lehrer bringt dabei seinen Schülern, die den verschiedensten Altersklassen angehören, bei, Sätze mit dem Wort „Auto“ zu bilden. Alle scheinen voll konzentriert, stellen Fragen und diskutieren angeregt.

Aus den vielen Büroräumen des einstigen Amtsgebäudes wurden sämtliche nicht-tragende Wände herausgerissen, um offenere Räume zum Lesen und Stöbern zu schaffen. Der Effekt ist wahrlich verblüffend. Trotz seiner offenen Atmosphäre wirkt das Haus, gerade im Vergleich zu „gewöhnlichen“ Bibliotheken, noch immer verwinkelt und kleinteilig, fast wie ein Zauberlabyrinth. Obwohl es von außen scheint, als sei es zu klein für seinen Zweck, offenbart es im Innern seine gewaltigen Ausmaße. Von jedem Flur führen unzählige Türen ab. In jeder Ecke eröffnen sich Bücherregale bis hinauf zur Decke. „Gerade für die Kinder bieten sich so hervorragende Möglichkeiten zum Verstecken“, schmunzelt die Leiterin.

Jeder Raum ist thematisch den Büchern gewidmet, die sich in ihm befinden und wirkt vor allen dank seiner kreativen Sitzmöglichkeiten und liebevoller Requisiten außerordentlich einladend. Im Märchen-Raum gibt es einen königlichen Thron, uralte Ausgaben von Grimm und Andersen sowie Schneewittchens roten Apfel. Im Horror-Raum darf man sich in einem von Spinnweben umrankten Krallen-Stuhl niederlassen. Der Orient-Raum bietet hingegen weder Thron noch Stuhl, dafür aber große Sitzkissen, Schmuckausgaben von 1001 Nacht und Aladins Wunderlampe. Weitere Highlights: ein 120 Kilogramm schweres, speziell angefertigtes Buch aus der Universitätsbibliothek Erlangen und die Do-it-Yourself-Einrichtung im Science-Fiction-Raum. Dort ist der Durchgang ein Tor aus Büchern und auch die Sitzmöbel nebst Tisch und Ablage sind aus Romanen über den Weltraumhelden Perry Rhodan gefertigt. „Vor einigen Jahren bekamen wir diese und wollten sie sinnvoll nutzen. Unser Hausmeister hat uns daraus die Einrichtung für den Raum zusammengezimmert“, erklärt Twrsnick. Solche Details zeigen, dass es den Betreibenden der Bibliothek ein echtes Anliegen ist, Bücher und damit auch Bildung möglichst für jeden greifbar und zugänglich zu machen. Natürlich auch für jene, die sich auf professioneller und akademischer Ebene mit dem Thema Phantastik auseinandersetzen möchten. Dank eines umfangreichen Repertoires an historisch-kritischen Ausgaben und einschlägiger Sekundärliteratur betreuen die Mitarbeiter*innen der Bibliothek außerdem immer wieder auch Masterarbeiten oder gar Dissertationen. Nebenbei ist die Phantastische Bibliothek auch Treffpunkt der Goethe-, Karl-May- und Tolkien-Gesellschaft. 

Der liebevolle Umgang mit Literatur ist, für Experten und Laien gleichermaßen, im ganzen Haus mit Händen zu greifen. Es ist schön, einen derart ruhigen Ort zu besuchen, der gleichzeitig so voller Leben ist. Beeindruckt und auch ein wenig erschlagen, kehrt man aus den Untiefen des Hauses wieder auf und gelangt zu der Erkenntnis: Ein literarischer Ort ist Wetzlar nicht allein wegen Goethe, Lotte und Werther. Innerhalb dieses literarischen Ortes gibt es im unscheinbaren Haus in der Turmstraße unzählige phantastische Kontinente und Universen zu entdecken.

Hinweis: Diese Reportage enstand in der praxisorientierten Übung „Lehrredaktion“ im Wintersemester 2017/18 unter der Leitung von PD Dr. Manuel Bauer an der Philipps-Universität Marburg.