Missgeschicke und Lichtblicke

Gustave Flauberts „Bouvard und Pécuchet“ erscheint in einem Werkkomplex

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Jahre seines Lebens verbrachte Gustave Flaubert mit seinem Romanprojekt Bouvard et Pécuchet, ohne dass er es vor seinem Tod im Mai 1880 zu einem Ende bringen konnte. In der Interpretation Jean-Paul Sartres verlor sich Flaubert bei der Schöpfung seines „Werkkomplexes“ mit „manischer Besessenheit“ in einem „Wahnsinnsunternehmen“, das nicht zu vollenden war. Für spätere Kommentatoren wie Hanjo Kesting gelang Flaubert trotz allen Scheiterns der Fertigstellung eine „höhnische Enzyklopädie der Dummheit“.

Nach den Erinnerungen seines langjährigen Freundes Maxime du Camp (deren historische Zuverlässigkeit suspekt ist) habe Flaubert bereits 1843 die Geschichte zweier Expedienten entworfen, die nach einer unverhofften Erbschaft der Stadt den Rücken kehrten und ihr Heil im Landleben suchten. Tatsächlich nahmen die beiden „Kellerasseln“ (wie Flaubert seine beiden Figuren zu nennen begann) erst in den 1870er Jahren Gestalt an. Für sein manisches Projekt habe er, schrieb er im Januar 1880, mehr als 1500 Bücher „absorbiert“, sein Ordner mit Notizen verfüge mittlerweile über eine Höhe von acht Zoll. Antriebskraft war die „Dummheit“, „diese anonyme unpersönliche Substanz“ (wie sie Sartre charakterisierte). „Die Unerträglichkeit der menschlichen Dummheit ist bei mir zur Krankheit geworden“, konzedierte Flaubert kurze Zeit vor seinem Tod, „und dieses Wort ist noch schwach. Fast alle Sterblichen haben die Gabe, mich im höchsten Grade aufzubringen, und ich atme nur in der Wüste frei.“

In der anfänglichen Konzeption waren die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet als Medien der satirischen Desillusion gedacht, die sich nach ihrer Stadtflucht mit Gartenbau, Chemie und Medizin, Psychologie, Geologie und Archäologie, Geschichte, Literatur, Politik, Magnetismus und Okkultismus, Esoterik, Religion und Pädagogik beschäftigen, ohne je einen befriedigenden Erfolg verbuchen zu können. Auf jedem Gebiet scheitern die beiden Autodidakten, die schließlich nach ihren diversen Misserfolgen und Fehlschlägen sich vom Landleben verabschieden und zu ihrer alten Profession – der Reproduktion vorhandener Texte – zurückkehren: Über das Stadium der Kopisten kommen sie am Ende nicht hinaus. Im Laufe der Zeit schien Flaubert jedoch, wie Hanjo Kesting schrieb, „eine gewisse Sympathie für seine beiden Biedermänner“ entwickelt zu haben: Sollten Bouvard und Pécuchet anfangs die menschliche Dummheit verkörpern, wandelten sie sich später zu deren Kritikern, zu „Agenten einer intellektuellen Aufklärung“.  Dass die beiden „bis zu einem gewissen Grad das Sprachrohr Flauberts“ wurden (wie Raymond Queneau in einer Einleitung zu einer belgischen Ausgabe des Romans 1947 schrieb), ist nicht nur im Kapitel über ihre literarischen Versuche zu sehen, in dem die beiden Urteile über Walter Scott, Alexandre Dumas und Honoré de Balzac und die Kritik an der „Wiederholung der immer gleichen Effekte“ einer sich herausbildenden industriellen Kultur aus dem Munde Flauberts übernehmen.

Auch wenn ihre Exploration und Anwendung verschiedener Sparten der Wissenschaften nicht den gewünschten Erfolg zeitigen, woraufhin das einmal erworbene Wissen strikt verworfen wird, ist ihr Scheitern nicht allein auf die „Unzulänglichkeit ihres Dilettierens“ zurückzuführen (wie Gisela Elsner in ihrer Hörspielfassung des Romans aus dem Jahre 1976 unterstellte), sondern auf die schlichte Alltagsuntauglichkeit von Teilen der „wissenschaftlichen Errungenschaften“, die Autoren wie Elsner verabsolutieren. Wie Peter Burke in seiner Social History of Knowledge (2012) herausstellt, werden wissenschaftliche Ideen oder Paradigmen, die allein auf Grund ihrer technischen Realisierbarkeit möglich, aber einer verantwortlichen Nachhaltigkeit diametral entgegengesetzt sind, mit Recht verworfen. In ihrer schlichten Art unterziehen Bouvard und Pécuchet die gängigen Ideen einem Realitätstest, ohne sich einer obskuren wissenschaftlichen Autorität zu beugen, und wägen ab, ob das jeweilige Projekt von „ordinary men“ (denn Frauen erweisen sich für ihren kleinen Kosmos als permanent destruktiv) zu bewerkstelligen ist. Flauberts Agenten entwickelten, heißt es im Roman, „eine beklagenswerte geistige Fähigkeit: nämlich die Dummheit wahrzunehmen und sie einfach nicht mehr zu ertragen“.

Angesichts der Entstehungsgeschichte des unvollendeten Romans müssen die Konvolute einbezogen werden, die Flaubert während des Schreibens „absorbierte“. Dies erschien jedoch Flauberts „Nachlassverwalter“ Guy de Maupassant eine kaum zu lösende Aufgabe. „Diese Sammlung menschlicher Dummheit“, schrieb er 1884, „bildete einen Berg von Aufzeichnungen, die zu sehr verstreut und zu ungeordnet sind, als daß sie jemals als Ganzes veröffentlicht werden könnten.“ Für den Übersetzer und Herausgeber Hans-Horst Henschen (1937–2016) war dies jedoch Ansporn, den „Werkkomplex“ Bouvard et Pécuchet in Buchform herauszubringen. Zwischen 2003 und 2005 veröffentlichte er bei Eichborn neben der Übersetzung des Romans auch eine Übertragung der Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit sowie des Wörterbuches der gemeinen Phrasen. Im Wallstein-Verlag erschien nun – ein Jahr nach dem Tod Henschens – eine erweiterte Ausgabe des „Bouvard-und-Pécuchet-Werkkomplexes“, die sich im Rahmen eines monomanischen Unterfangens einer „bouvard-und-pécuchetischen Exegese“ (um einen Begriff Raymond Queneaus zu verwenden) widmet.

Im Vergleich zu anderen Übersetzungen wirkt Henschens Übertragung stellenweise stark altertümelnd, wenn er beispielsweise Begriffe wie „Verdauungsmoleste“, eines seiner Lieblingsworte „spornstreichs“ (für das es kein Äquivalent im Originaltext aufzufinden ist) oder Sätze wie „Die Kerze blakte auf dem Fußboden“ verwendet. Das französische „Parbleu“ meint er mit einem kräftigen „Sapperment“ eindeutschen zu müssen. Daher ist Katharina Rutschkys Urteil aus dem Jahre 2003, Henschens Übersetzung zeichne sich durch einen „resolut modernen“ Charakter aus, angesichts der zeitgemäßen Übertragung Caroline Vollmanns mit Vorsicht zu betrachten. Darüber hinaus fügte Henschen dem Roman nicht nur einen ausgedehnten Anmerkungsapparat hinzu, sondern fühlte sich auch bemüßigt, Flaubert der Schludrigkeit in seinen Exzerpten zu überführen: „Wer das wohl war, Miss Opy?“, um in den Anmerkungen das scheinbare Rätsel aufzulösen – es handele sich um Amelia Opie, die zweite Frau des englischen Porträt- und Historienmalers John Opie. (In der französischen Folio-Ausgabe wird der Familienname der Malergattin korrekt wiedergegeben.)

Vor allem im Komplex der Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit (auch als Sottisier bezeichnet) und des „Phrasendiktionärs“ (wie Jean Améry das Wörterbuch der gemeinen Phrasen nannte) versteigt sich Henschen zu einer reaktionären Variante der „bouvard-und-pécuchetischen Exegese“. Nach Sartre ist das Sottisier „zwangsläufig eine Rumpelkammer“, da Flaubert in seinem zur Schau gestellten Hass auf den Gemeinplatz sich im Akt des Niederschreibens und der Dokumentation der Dummheit an der Phrase delektierte. „Flaubert ist“, doziert Sartre im dritten Teil seines „Monumental-Torsos“ Der Idiot der Familie, „ein Mensch des Ressentiments geblieben, der die großen Werke durchforstet, um Schwächen darin zu finden, die es einem erlauben, deren Autor herunterzumachen.“ Dabei fiel Flaubert nicht allein über die „großen Werke“ her, sondern auch jene, die für ihn Machwerke der Mediokrität waren. Im gleichen Furor fühlte sich Henschen berufen, den Werkkomplex des Meisters um einen detaillierten Anmerkungsapparat zu erweitern.

In seinem monomanischen Unterfangen verfolgte Henschen offenbar das Ziel, Flaubert nachzueifern und am Ende zu übertreffen. Gegen akademische Generalstäbe und digitale Technik wollte sich der Privatgelehrte als solitäres Individuum behaupten. So echauffierte sich Henschen gegen das von Stéphanie Dord-Crouslé geleitete Projekt der Édition électronique des Dossiers de Bouvard et Pécuchet, das an der Universität von Rouen den Bouvard-Pécuchet-Werkkomplex in Form digitalisierter Manuskript-Faksimiles den Entstehungsprozess des Romans nachvollziehbar macht. In den Augen Henschens war die „offene“, „elektronische“ Editionsarbeit jedoch lediglich ein Unternehmen des „ideologischen Staatsapparates Universität“ im Sinne Louis Althussers. Die digitale Repräsentation des Flaubertʼschen Manuskripts gehörte in seinen Augen zur „heimlichen technokratischen Machtergreifung“. Erschaudernd zog sich der Privatgelehrte vor diesen Entwicklungen zurück und verabschiedete sich mit einer Predigt, in der er das Buch als Ingenium der Totalität verabsolutierte. So endete der Archivspezialist als Techniker des eingefrorenen Wissens.

Bezeichnenderweise bestückt der Verlag seinen Werkkomplex mit einem Zitat des konservativen Autors Martin Mosebach, der dem Herausgeber Henschen eine „verzweiflungsvolle Aufgabe“ attestiert. Dabei geht jedoch verloren – wie Peter Brooks in seiner glänzenden Studie Flaubert in the Ruins of Paris (2017) unterstreicht –, dass Flaubert, dessen Bibliothek 1870 von preußischen Truppen  heimgesucht wurde, sich von der konservativen Vereinnahmung distanzierte: Er war ein „Libertärer“, der sich sowohl gegen den jakobinischen als auch den imperialen Autoritarismus wandte. „Ich fühle eine heillose Barbarei aus dem Boden aufsteigen“, schrieb er im November 1872 an Iwan Turgenjew. Und diese Barbarei trug die deutsche Signatur.

Titelbild

Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Der Werkkomplex.
Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt, annotiert und mit einem Nachwort versehen von Hans-Horst Henschen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
2080 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783835331082

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