Eine Mutter, ihre drei Kinder und ihre schwierige Vergangenheit

„Marie“, Steven Uhlys beeindruckender Roman um eine besondere Familie

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer alleinerziehend ist oder aus nächster Nähe Alleinerziehende kennt und beobachtet, weiß, wie schwierig, komplex und kräftezehrend es ist, tagtäglich alleine für ein Kind oder mehrere Kinder verantwortlich zu sein, ihr einziger oder wichtigster Ansprechpartner, ihre alleinige Bezugsperson zu sein. Steven Uhly beschreibt in seinem neuen Roman Marie eine solche familiäre Situation.

Veronika Kelber ist seit über sechs Jahren von ihrem ehemaligen Mann getrennt, sie hat drei Kinder, die zehnjährige Mira, den zwölfjährigen Frido und die sechsjährige Chiara. Veronika arbeitet in einer Arztpraxis mit einer sehr verständnisvollen und fürsorglichen Chefin, trotzdem kommt sie mit den Aufgaben täglich an ihre Grenzen. Frido, der Älteste, hilft seiner Mutter sehr viel. Er lernt leicht, seine  schulischen Leistungen sind so gut, dass er Zeit für die Hausarbeit findet und seiner jüngsten Schwester bei ihren Schulaufgaben helfen kann. Zu essen gibt es fast immer Pizza oder andere Fertiggerichte, Veronika dämmert meist unter Zuhilfenahme von Schlaftabletten vor dem Fernseher ein. Trotz dieser eher schwierigen Umstände funktioniert das Zusammenleben einigermaßen, ab und zu sind die Kinder bei Leo, Veronikas Ex-Mann.

Die Balance schwindet, als Frido eines Abends der kleinen Chiara eine Gutenachtgeschichte erzählt, in der die Rede ist von einem Mann, der ein Baby geklaut hat. Chiara drängt ihren Bruder, der eine reale Geschichte für seine Schwester abgeändert hat, mehr zu erzählen, Frido kann sich dagegen kaum wehren. Chiara, aufgewühlt und sich mit dem Kind aus der Erzählung identifizierend, will nun Marie genannt werden. Aufgeregt erzählt sie ihrer Mutter davon, die davon dermaßen überrascht und überrumpelt ist, dass sie völlig unangemessen reagiert – sie ohrfeigt das kleine Mädchen. Ab diesem Moment ist in dem ohnedies von Zänkereien und täglichem Gemecker geprägten Haushalt nichts mehr wie vorher. Chiara versteht ihre Mutter nicht mehr, Frido hat Angst, mehr zu erzählen, Mira, die Mittlere, bekommt wegen erster Verliebtheit zwar nicht viel mit, bemerkt aber sehr wohl, dass sich etwas verändert hat. Vor allem Veronika, die Mutter, ist seit diesem Fehltritt völlig von der Rolle, vergisst das Essen, kann sich bei der Arbeit nicht konzentrieren, macht sich Vorwürfe, zweifelt an allem. An diesem Punkt muss man auf Steven Uhlys Erfolgsroman Glückskind verweisen, dessen Geschichte die Grundlage für Marie darstellt. Denn in Glückskind handelt es sich um diesselbe Veronika Kelber, die mit ihrem Mann Leo bereits zwei Kinder hatte und das dritte eben zur Welt gebracht hat, als sie erfährt, dass ihr Mann eine Affäre mit einer anderen Frau hat. In ihrer Verzweiflung und totalen Überforderung legte sie das Kind in die Mülltonne einer Wohnanlage, wo es von dem ziemlich heruntergekommenen Hans gefunden und aufgepäppelt wurde.

Glückskind fand enorm viel Zuspruch, wurde zu einem Bestseller, fürs Fernsehen verfilmt und von einigen Städten für deren „Eine Stadt liest ein Buch“-Aktionen erkoren. Das ist kein Wunder, denn der deutsch-bengalische Autor, der in München lebt, hat die Gabe, sehr gefühlvoll und nah an den Menschen zu schreiben, Glückskind und jetzt eben auch Marie machen vertraut mit den Milieus, zoomen die Lebenssituationen ihrer Protagonisten ganz nah heran und schaffen somit eine leicht verständliche und glaubhafte Atmosphäre.

Doch Uhly ist kein Verfasser von Sozialreportagen, seine Sprache macht unmissverständlich deutlich, dass es sich hier um Literatur handelt, um einen Roman, der seine Leser gefangen nimmt, sie beschäftigt und nachdenken lässt. Verblüffend detailliert beleuchtet der Autor den Alltag, zeigt vor allem Fridos Bemühungen, es allen recht zu machen, der Mutter etwas von ihrer Last zu nehmen, die Schwestern pünktlich an der Grundschule abzuliefern und selbst nicht allzu häufig zu spät in die Schule zu kommen. Eine besonders beklemmende Episode ist Fridos Geburtstag, den er beim Vater verbringt, der sich jedoch nicht gerade empathisch seines Sohnes annimmt, ihn zu einem Fußballspiel ins Stadion einlädt, obwohl Frido sich dafür gar nicht interessiert. In der Wohnung seines Vaters mit dessen neuer Familie fühlt er sich nicht wohl, denn er weiß, dass er dort nicht hingehört. Uhlys besonders Stärke ist die ungemein feine Beschreibung der kindlichen Gedanken und Gefühle, der eher instinktiv erfassten Situationen, der Blicke und Wahrnehmungen. Und damit macht er deutlich, denn das Buch ist ein starkes Plädoyer für den ehrlichen Umgang mit Kindern, wer im Mittelpunkt von Marie steht.

Wer nun auf eine schnelle und gute Lösung hofft, wird enttäuscht. Nach einem total missglückten Wochenende, tickt Veronika total aus, ihre Kinder werden auf eine noch härtere Probe als bisher gestellt, doch daraus zieht dieses Trio erstaunlicherweise Kraft und Ideen. Und der Autor hält noch eine Überraschung bereit.

Marie ist nicht einfach nur eine Fortsetzung der üblichen Art. Steven Uhly hat mit Marie ein kleines Wunder vollbracht, er hat einen Roman geschrieben, der hervorragend funktioniert ohne den Vorgänger, der aber gleichzeitig mit nuancierten Hinweisen die Figuren und die Handlung von Glückskind einbaut. Das ist Literatur, die etwas will, die verdeutlicht, dass man gesellschaftlich Stellung beziehen und ambitioniert schreiben kann. Es ist kein geringes Risiko, das Uhly und sein Verlag eingegangen sind, doch risikolose Literatur wäre uninteressant, langweilig und überflüssig.

Schließlich sollte die Gestaltung dieses Buches gesondert gewürdigt werden, ebenso die Tatsache, dass der Secession Verlag mit der FF Meta eine Schrift gewählt hat, die für Fließtext ungewohnt ist, aber bestens funktioniert.

Titelbild

Steven Uhly: Marie. Roman.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016.
272 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783905951875

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