Zum 70. DEFA-Geburtstag ein Plädoyer für eine überfällige Würdigung

Wanderinnen in Ost-Berlin: „Sabine Kleist, 7 Jahre“ und „Die Beunruhigung“

Von Stephan EhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Ehrig

Zum 70. Geburtstag der DEFA ist es Zeit, einige Werke der Deutschen Filmaktiengesellschaft (neu) zu entdecken, bevor sie völlig in Vergessenheit geraten. Mehr noch ist es nötig, die unzähligen Filme von manchen Kulturvorbehalten zu befreien und auch in Deutschland endlich vorurteilsfrei ästhetisch und historisch-kritisch zu würdigen, wie es vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien und Frankreich schon seit vielen Jahren geschieht. Als jemand, der zu jung ist, um die DDR noch mitbekommen zu haben, und der in seiner Kindheit höchsten mit den DEFA-Märchenfilmen in Berührung gekommen ist, wollte ich meinen Augen kaum trauen, als ich im Jahr 2015 bei einer Sommerakademie in Massachusetts eine Woche lang mit knapp vierzig begeisterten Germanistinnen Babelsberger Produktionen angesehen und analysiert und, neben einigem allenfalls historisch Interessantem, viele grandiose Filme gesehen habe, die fester Bestandteil des deutschen Filmkanons sein sollten –  auch weil sie nicht dem gängigen dichotomischen Narrativ von subversiv/ staatsstreu entsprechen. Vor allem im Bereich der sogenannten ‚Frauenfilme‘ sind Titel entstanden, die heute noch überraschen können. Diese Filme, die großen Anteil am weiblichen (Selbst-)Bewusstsein ostdeutscher Frauen hatten und seit den 1960er Jahren die Rolle der Frau in Ehe, Berufsleben, Freundschaft und als Mutter verhandelten, sind nicht nur aus dem Kontext der DDR heraus zu verstehen, sondern auch als transnationale Repräsentanten einer Filmästhetik, die weit über die kleine DDR hinausging, wie verschiedene druckfrische (freilich nicht deutschsprachige) Studien derzeit aufzeigen.

Zwei Filme möchte ich besonders hervorheben: Im Jahre 1982 feierten zwei DEFA-Produktionen Premiere, die zwei sehr unterschiedliche Frauenfiguren (im weitesten Sinne) durch Ost-Berlin wandern lassen, nachdem beide plötzlich aus ihrer Alltagsroutine geworfen werden: Helmut Dziubas Kinderfilm Sabine Kleist, 7 Jahre und Lothar Warnekes Die Beunruhigung. Auch wenn es sich bei beiden Protagonistinnen um zunächst sehr unterschiedliche Figuren handelt – das siebenjährige Waisenkind Sabine Kleist (Petra Lämmel) und die geschiedene Paartherapeutin und Enddreißigerin Inge Herold (Christine Schorn) – so gibt es verschiedene Ebenen, in denen sich ihre Schicksale treffen, sie zu ähnlichen Taten verleiten und ihre beiden Schicksale wie eine generationelle Rahmung in Beziehung setzen. Beide Filme können als Teil einer generellen thematischen Veränderung angesehen werden, bei der sich DEFA-Filme der 1980er Jahre nicht nur zunehmend, wie zumeist im DEFA-Gegenwartsfilm, mit Figuren am Rande der Gesellschaft, mit Aussteigern und Außenseitern beschäftigten, um kritisch und konstruktiv die Schicksale jener zur Debatte zu stellen, die vom Sozialismus nicht profitierten, sondern dies zunehmend im Privaten und Persönlichen thematisierten, abseits vom gesellschaftlichen Ganzen.

Am Anfang steht, dass beide Figuren durch plötzliche Ereignisse aus ihrem Alltag geworfen werden. Sabine, die ihre Eltern bei einem Autounfall verlor, erfährt von ihrer Erzieherin Edith, die als Ersatzmutter für sie fungiert, dass sie wegen ihrer Schwangerschaft ihre Arbeit aufgeben muss und nicht mehr für sie da sein wird. Edith selbst scheint wie in Schockstarre verfallen (ein gängiges Motiv: schwangere Frauen, die ihren Ausstand geben, werden in DEFA-Filmen oft als traurig dargestellt). Für Sabine ist dies eine existenzielle Katastrophe, und mit kindlich-egozentrischer Starrköpfigkeit beschließt sie, diese Schicksalswendung nicht einfach unwidersprochen hinzunehmen.

Inge Herold, die allein mit ihrem pubertierenden Sohn in einer modernen Wohnung am noch fast nagelneuen Forum am Fernsehturm wohnt und mehr oder minder passioniert den Ehestreitigkeiten ihrer Paartherapiepatienten lauscht, bekommt eine Brustkrebsdiagnose gestellt und wird mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Beide Figuren fallen daraufhin aus dem gesellschaftlichen Rahmen, werden zu Außenseiterinnen und Beobachterinnen. Der zeitweise Verlust ihres gesellschaftlichen Rückhalts ermöglicht ihnen, aus ihren Leben auszubrechen und auf eine Ost-Berliner Wanderschaft zu gehen, bei der sie sich verschiedene urbane Mikrokosmen aufschließen, die den Entwicklungsprozess ihres inneren Konflikts spiegeln.

Diese weibliche Wanderschaft macht sie zu Flaneurinnen wider Willen, und zu Flaneurinnen einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft, in einem urbanen Raum, in dem die grauen Überreste der Vorkriegsmetropole Berlin schroff auf die kühne stadtplanerische Moderne der Hauptstadt der DDR treffen, die ihre breiten Schneisen durch das Stadtgewebe schlägt. Sie werden Wanderinnen, doch nicht wie in Virginia Woolfs berühmten Aufsatz Street Haunting (1930), der ein Manifest dafür darstellt, dass Frauen sich jahrhundertelang anders durch die Städte bewegten als Männer – nämlich nie allein. Denn Woolf perspektiviert Londons Straßen als einen Raum, der Frauen eine gewisse Anonymität gewährt, die sie voller Genuss auskosten. In Ost-Berlin ist dies bereits Normalität.

Ost-Berlin ist zudem in beiden Filmen Sujet, und beide Flaneurinnen verhandeln nicht die Stadt, sondern über die Stadt sich selbst, und konstituieren dabei aber auch erst den urbanen Raum. Auch ist ihre Flânerie kein zielloses, beobachtendes Wandern. Beide Flaneurinnen haben ein existenzielles Ziel, das ihnen verschiedene Begegnungen verschafft: Inge Herold verfällt zunächst in völligen Überschwang. Man sieht sie, in einer der humoristischsten Szenen, exzessiv Sekt einkaufen (beinahe obszön in einer Mangelwirtschaft!), im Rathauscafé sitzend, wo sie grinsend den Redeschwall einer alten einsamen Frau über sich ergehen lässt, bevor sie sich schließlich vom Mann am Nachbartisch auf einen Schnaps einladen lässt. Dies wird kontrastiert mit Begegnungen im Krankenhaus, wo eine alte Frau neben ihr weint, weil sie ohne Brüste keine richtige Frau mehr sei, und wo eine junge Mutter, deren Körper von der Strahlentherapie völlig zerstört ist, Inge Herold Hoffnung machen will, dass man auch dies überstehe. Vor diesen Konfrontationen scheut sie zunächst zurück, trifft sich mit ihrer in West-Berlin lebenden Freundin im Berliner Ensemble, bis sich schließlich doch die Beunruhigung einstellt. Daraufhin verkehrt sie ihre Wanderungen in eine Korrektur ihrer Lebensentscheidungen. Vermeintlich totgeweiht (man weiß aus der Anfangsszene, dass sie überlebt), evaluiert sie den Status Quo ihres Lebens und bricht auf, sich verschiedene Stationen ihrer Vergangenheit wieder zu erschließen, die als Leerstellen zurückgeblieben waren. Sie stößt dabei in den verbliebenen Altbauvierteln auf allerlei Familienmodelle, die das beachtlich gefächerte soziale Spektrum des Arbeiter- und Bauernstaates abbilden.

Sabine und Inge bewegen sich durch Ost-Berlin im sozialistischen Film, und ihre aufgespürten Mikrokosmen haben verschiedene Funktionen, die wie zwei Enden derselben Geschichte anmuten: Sabine Kleist ist determiniert, dass sie in der großen Stadt eine Ersatzfamilie für ihre Zukunft finden wird, den Urzustand ihrer verlorenen Familie restaurierend. Sabine entdeckt ein Spektrum sowohl aus glücklichen Familien – am Badestrand, auf der Entbindungsstation, auf den Straßen, deren Altbauten gerade abgerissen werden – als auch Menschen, die in völliger Vereinzelung leben. Dabei erfährt sie die große Fremde der Großstadt. Es ist bemerkenswert und verstörend zugleich, wie mühelos sie sich in die Leben dieser Menschen kurzzeitig eingliedern kann, ohne dass ihnen bewusst wird, dass sie allein unterwegs ist, und dies vor dem Hintergrund eines Kindes, das verzweifelt jemanden zum bedingungslosen Liebhaben mit Alleinanspruch sucht. In herzzerreißenden Szenen bietet sie sich Wildfremden, die genau so einsam sind wie sie selbst, als Tochter, Schwester und Freundin an. Zugleich verzaubert ihr kindlicher Blick die Stadtszenen mit ihren Beerdigungen, FDJ-Friedenssängern und Zirkusgruppen, wenn sie wie eine Prinzessin auf einem Pferd über die Karl-Marx-Allee reitet und Bauarbeiter und Hochzeitsgesellschaften sich vor ihr verneigen. Inge trifft auf verschiedenste Familienmuster und Formen menschlicher Solidarität, die sie unverhohlen aufnehmen und muss schließlich auswählen, welchen Weg sie selbst beschreiten will.

Das Intime und Private verschmilzt so mit dem öffentlichen Raum, da das eigentliche Zuhause keinen Schutz bietet. Es sind urbane Schlupflöcher, über die beide Figuren ihre Konflikte verhandeln müssen, die wie Walter Benjamins Passagen-Werk das Wohnzimmer des Kollektivs sind: „Das Kollektivum ist ein ewig waches, ein bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände.“ In beiden Filmen sehen wir diese Annahme verschränkt, beide Sphären existieren nicht mehr getrennt voneinander. Die um ihre Existenz Wandernden kreieren Ost-Berlin, im Sinne des Geographen Yi-Fu Tuans, als bedeutungsvollen Raum, weil beide sich durch ihn bewegen und durch diese Bewegung mit einer persönlichen Bedeutung versehen, die erfahren, verstanden und empfunden werden muss. Mit dieser Psychogeographie wird die Stadt, wie man sie in beiden Filmen repräsentiert sieht, zu einem Spielplatz der Möglichkeiten, der beiden Figuren aber auch wieder nur Einsamkeit beschert, und die Vergewisserung ihres eigenen Platzes im Gesellschaftsgefüge.

In dieser Ausgestaltung sind beide Filme ganz klar dem sozialistischen Kulturauftrag verpflichtet. In ihnen sieht man anschaulich das hegelianisch-marxistische Zu-sich-selber-Kommen des Menschen, das die DDR-Kultur die gesamten 40 Jahre beschäftigte, relativ konservativ repräsentiert: Sabine Kleist wird nicht erfolgreich sein, bleibt aber selbstbestimmt. Sie muss einsehen, dass sie noch nicht in der Lage ist, ihr Leben allein zu gestalten und kehrt erhobenen Hauptes in die staatlich organisierte Ersatzfamilie des Waisenhauses zurück. Inge Herolds Leben wird durch ihre melancholische Wanderschaft völlig umgekrempelt, allerdings ist sie durch die Krankheit „zu sich selber gekommen“, hier auch in recht konservativem Sinne: Sie muss, als alleinerziehende Mutter, feststellen, dass sie im Moment der Krise in ihrem im Film mehrfach kritisierten Lotterleben völlig isoliert ist, und am Ende sehen wir sie in ein harmonisches Beziehungsleben integriert, das sogar zwei halbe Familien vereint und Fehlentscheidungen der Vergangenheit korrigiert. Erstaunlich sind die Filme dennoch vor allem durch die progressive Darstellung von Krankheit, Isolation und weiblicher Selbstbestimmtheit. Sie ergänzen sich, da Sabine noch als junge Entdeckerin sich die verschiedenen Facetten der Großstadt aus kindlicher, zukunftsgewandter Perspektive zu eigen macht, während Inge angesichts ihrer eigenen Sterblichkeit an emotionale Orte ihrer Vergangenheit zurückkehren musste, um eine Zukunft zu haben. Sie ergänzen sich auch, weil Sabine aus der Kinderperspektive beobachtet, welche Probleme Erwachsene wie Inge haben. Inge kocht am Ende für ihren Sohn ein Festmahl, und wirft sich dafür wieder in ihren eigenen jugendlichen Punk-Look, wie um zu verstehen, was er gerade durchmacht. Durch den Tod ihrer Eltern muss Sabine als Kind schon lernen, für sich selbst zu sorgen, und über ihrer Wanderung einsehen, wie Benita Blessing 2014 argumentierte, dass die Erwachsenen um sie herum ihr kaum dabei helfen können, einen sicheren Halt im Leben zu finden, weil sie selbst alle in den verschiedenen Verantwortlichkeiten ihres eigenen Lebens gefangen sind. Kinder und Erwachsene müssen, zumal in der Großstadt, lernen, sich mit den Möglichkeiten und Unabwägbarkeiten des Lebens abzufinden, denn auch der Sozialismus kann sie vor Einsamkeit und Isolation nicht schützen. Beide Filme sind dadurch zutiefst melancholisch und gleichzeitig voller humoristischer Szenen, und werden dabei vor allem durch das eindringliche und intensive Spiel von Christine Schorn und Petra Lämmel getragen, was sie allein schon sehenswert macht. Die Konflikte, die beide Filme tragen, sind universell, ihr Kontext eine DDR, die vielen unbekannt ist.

Das Anschauen lohnt sich zudem, weil die Filme Einblicke in ein Berlin ermöglichen, das heute verloren ist. Beide Filme wurden an authentischen Orten gedreht und sind dadurch spannende Zeitdokumente. Die Beunruhigung, eine der kommerziell erfolgreichsten DEFA-Produktionen, war zudem ein Low-Budget-Film und lässt dadurch fiktionale und dokumentarische Ebenen verschwimmen: Die Straßenszenen wurden ohne Statisten einfach mitten im Ost-Berliner Alltag, die Krankenhausszenen ungeskriptet mit echten Ärzten gedreht, die auf Schorns Spiel wie mit echten Patienten reagieren sollten. Inges Wohnung ist die echte Wohnung der Drehbuchautorin Helga Schubert. Sabine lebt mit echten Waisenkindern am Stadtrand.

Auch die DDR-Stadtplanung, die heute etwas aus der Zeit gefallen wirkt, weil ihr das gesellschaftliche und wirtschaftliche Sinngefüge fehlt, kann besser nachvollzogen werden. Die größtenteils noch neuen Großprojekte um den Fernsehturm und Alexanderplatz wirken gigantisch, stimmig und metropolenhaft, wenn auch nur als Kontrast zu der völlig verlorenen Inge Herold in den zugigen Weiten zwischen den Hochhäusern. Für Sabine sind diese Orte der Ausgangspunkt für soziale Interaktion, weil sich dort die Menschen versammeln, und niemand mitbekommt, dass sie allein unterwegs ist.

Es gibt also viele Gründe, einen erneuten oder ganz unbedarft unverhohlenen Blick auf beide Filme wie auch auf Schwesterproduktionen wie Egon Günthers Der Dritte (1972), Konrad Wolfs Solo Sunny (1980) oder die Verfilmung von Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand, Unser kurzes Leben (1981, ebenfalls von Lothar Warneke) zu werfen. Die Zeit ist reif!

Sabine Kleist, 7 Jahre
DDR 1982
Regie: Helmut Dziuba
Darstellerin: Petra Lämmel
Länge: 73 Minuten

Die Beunruhigung
DDR 1982
Regie: Lothar Warneke
Darstellerin: Christine Schorn
Länge: 99 Minuten

Beide Filme sind erschienen in der DVD-Box:
„Parallelwelt: Film. Ein Einblick in die DEFA“.
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2007.
25,00 EUR.

Weiterführende Literatur

Michael Wedel u.a. (Hg.): DEFA international. Grenzüberschreitende Filmbeziehungen vor und nach dem Mauerbau. Wiesbaden 2013.
Marc Silberman/Henning Wrage (Hg.): DEFA at the Crossroads of East German and International Film Culture. A Companion. Berlin/Boston 2014.
Seán Allen/Sebastian Heiduschke (Hg.): Re-Imagining Defa: East German Cinema in its National and Transnational Contexts. New York/Oxford 2016.
Jennifer L. Creech: Mothers, Comrades and Outcasts in East German Women’s Films. Bloomington 2016.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen