Schmecken, Genießen, Erkennen

Giorgio Agamben macht sich Gedanken über die Geschichte des Geschmacksbegriffs

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sor Juana Inés de la Cruz, die mexikanische Dichterin und Nonne aus dem 17. Jahrhundert, hat gelegentlich bemerkt, Aristoteles wäre wohl ein noch feinsinnigerer Philosoph geworden, hät­te er sich auch in der Küche, also in der Kunst der Speisenzubereitung, ausgekannt. In der Tat haben Erkennen, Wissen und Schmecken in den indogermanischen Sprachen eine gemeinsame sprachliche Wurzel. Das lateinische sapere bedeutet schmecken und erkennen oder wissen, und auch das griechische Wortfeld um sophia hat diese Herkunft.

Giorgio Agambens kleiner Text, zuerst 1979 als Artikel für die Enciclopedia Einaudi erschienen, wurde 2015 als gesonderte Publikation nachgedruckt und nun ins Deutsche übersetzt. Er geht von der Beobachtung aus, dass dieser Zusammenhang in der Geschichte der Philosophie lange nicht beachtet wurde und erst im 18. Jahrhundert mit den großen theoretischen Entwürfen zur Ästhetik, in denen der Geschmack eine leitende Kategorie ist, ins Bewusstsein gerückt wurde. Ästhetische Wahrnehmung und Erkenntnis ist über den Geschmack mit dem Genuss verbunden und eröffnet so dem Erkennen und Wissen eine neue Dimension.

Es gab allerdings eine lange Tradition der mittelalterlichen Theologie, die den gustus spiritualis theoretisch behandelt und die Erfahrung des Göttlichen als dulcedo gefasst hat; der Geschmack des Göttlichen ist süß. Der geistliche Geschmack war für die christlichen Theologen eine elementare Kategorie, weil ein Zugang zum Göttlichen durch das Essen in der eucharistischen Kommunion geschieht. Der eucharistische Komplex ist für die Ideengeschichte des Geschmacks noch weitgehend unerschlossen. Die Kommunion ist zudem ein Ereignis der Gemeinschaftsbildung; die Kommensalen bilden die Kommunität der Kirche. Das geht dann auch in die säkularisierte Konzeption des Geschmacks ein. Ehe er in der Ästhetik verhandelt wurde, war el buen gusto, der gute Geschmack in der frühen Neuzeit in Spanien, eine Kategorie für das angemessene Verhalten bei Hofe. Und auch Kant legt in der Kritik der Urteilskraft das Geschmacksurteil in Hinsicht auf seine allgemeine Zustimmung aus. Weil Geschmack ei­ne Kategorie des Sozialen ist, wird er als guter und nicht als schöner Geschmack gefasst. Gesellschaftlich ist das Schöne im Verhältnis zum Guten eine nebensächliche Kategorie. Der gu­te Geschmack betrifft – wie auch der Takt als die soziale Version des Gefühls – eine Ebene des Sozialen, die man mit dem griechischen Wort ethos als ethische Haltung bezeichnen kann. Der gemeinsam entwickelte und geteilte Geschmack – die Speisegewohnheiten, die Zusammenstellung und Zubereitung der Speisen – ist eine Form der Vergesellschaftung, die tiefer liegt als das Optische des Schönen etwa der Mode, der Kosmetik und der körperlichen Gestalt.

Ein kulturgeschichtliches Detail kann hier aufschlussreich sein. Kochbücher älterer Provenienz beschreiben, wie die Speisen zubereitet werden. Die wenigen Bilder sind instruktiv, nicht illustrativ. Beschrieben wird, wie die Zutaten in ihrer körperlichen Materialität verarbeitet werden, wie die Tiere auszunehmen und die einzelnen Teile zu verwenden sind, um gute Speisen zuzubereiten. Das Verhältnis von Bild und Text hat sich in diesen Büchern und Zeitschriften seit langem zu Gunsten der nur noch illustrativen Bilder umgekehrt. Das Optische ist das Leitmedium. Aber der Geschmack ist nicht optisch, sondern haptisch, er braucht die Sache selbst, nicht das Bild.

Agamben geht es nicht um eine Begriffsgeschichte des Geschmacks. Er bezieht sich auf einige große Namen und weitet seine Überlegungen am Ende auf Reflexionen zur Hermeneutik und zur Psychoanalyse aus. Begriffsgeschichtlich ist das unbefriedigend. Deshalb ist sein theoretischer Ansatz erhellender. Ihm geht es in erster Linie um den Verlust des Genießens im Erkennen, der durch die Trennung des Schmeckens vom Wissen geschehen ist. Spätestens mit der platonischen Konzeption von Erkenntnis, der zufolge die Wahrheit im Bereich der immateriellen Ideen liegt, von der die materielle Welt nur eine unzulängliche Kopie ist, geschieht eine radikale Trennung von Sinnlichkeit und Sinn, die außerdem, etwa im Höhlengleichnis, das Erkennen mit dem Komplex des Lichtes und des Sehens verbindet, sodass die Theorie als geistige Schau den Zugang zur Wahrheit der Ideen verschafft.

Das Schöne der Natur und der Kunst ist dann ebenfalls eine Sache des Sehens, das in einer Phänomenologie der Sinne der äußerste Fernsinn und so der am wenigsten körperliche Sinn ist. Es bildet den Übergang vom sinnlichen Sehen zur geistigen Schau, vom Optischen zum Theoretischen. Die auf das Wahre bezogene Erkenntnis ist ideal, die auf das Schöne bezogene Wahrnehmung ist imaginär, der auf das Gute bezogene Geschmack ist real. Sigmund Freud hat gelegentlich den Übergang vom Tier zum Menschen im Feld der Sinne als den von der Nase zum Auge als Leitsinn beschrieben. Das ist ein kleiner Weg im Bereich des Kopfes, aber ein gewaltiger Sprung in der Evolution. Geruch und Geschmack gehören zu den als niedrig gedeuteten Sinnen, weil sie unsere direkte Verbindung zum Animalischen sind.

Agambens Ausführungen, besonders seine, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, zeichentheoretischen Reflexionen zum Geschmack, können hier nicht im Einzelnen kommentiert wer­den. Der elementare Gedanke lässt sich so pointieren, dass das ästhetische Urteil als Geschmacksurteil sowohl Anteil am Sinnlichen wie am Geistigen hat. Die Wahrnehmung des Schönen führt nicht zu einer begrifflichen Erkenntnis, sondern geschieht als Genießen und Lust, die aber, weil das Geschmacksurteil eine gesellschaftliche Dimension hat, ein nicht­begriffliches Wissen bildet. Kant bezeichnet es als das „übersinnliche Substrat der Menschheit“. Dieses die sinnliche Wahrnehmung des Geschmacksurteils Übersteigende ist ein Überschuss der Einbildungskraft über den Verstand und seine Begriffe. Der Geschmack verbindet Erkenntnis und Lust, sodass Erkennen nicht als Begründen, sondern als Genießen geschieht. Das ist in der philosophischen Tradition getrennt worden in die genießende Lust der Sinnlichkeit und das begründende Wissen des Sinns und der Wahrheit. Erkennt­nis der Wahrheit geschieht ohne genießende Lust, und diese bleibt ohne Erkenntnis und Wahrheit. Diese Spaltung von Wissen und Wahrheit, Schönheit und Lust ist das platonische Erbe, das im 17. und 18. Jahrhundert in den Reflexionen zum Geschmack neu konfiguriert wird.

So zeichnet sich die Möglichkeit einer neuen Form des Erkennens, des Wissens und der Wahrheit ab, die weder rein körperlich-sinnlich noch rein übersinnlich-theoretisch ist, in der vielmehr die Lust und das Wissen verbunden sind. Das verändert auch die leitende Einstellung. Das Schöne als Objekt des Geschmacks wird nicht in erster Linie gewusst, sondern begehrt und geliebt. Das Verhältnis ist nicht Wissen als sophia, sondern Wunsch nach Wissen als philo-sophia. Auch Platon, so kommt Agamben am Ende auf die anfängliche Spaltung von Erkennen und Genießen zurück, hatte den Eros als Agenten eingeführt, der den Überschuss des Sinnlich-Phänomenalen zu retten versuchte, indem er ihn als Schönheit konzipierte: als das Sinnliche, das die wissende Erkenntnis übersteigt, sie dadurch aber nicht zerstört, sondern steigert. Die Philosophie als Liebe zum Wissen und Wissen der Liebe hätte eine andere Geschichte der Wahrheit ermöglicht, wenn sie die von Platon angedeutete Spur des Erotischen aufgenommen hätte. So sind es die Philologen und die Psychoanalytiker, sofern sie ihre Kunst richtig ausüben, die heute dieses Erbe einer philo-sophia antreten. Sie haben es beide und auf je eigene Weise mit dem Erkennen und Lieben zu tun.

Titelbild

Giorgio Agamben: Geschmack.
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko.
Merve Verlag, Leipzig 2020.
79 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783883963860

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