Von Rohr-Krepierern im Ministerrang

Wolfgang Ainetters Polit-Thriller aus der Berliner Republik

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ausgerechnet seine Liebe zu Roland Kaiser, die dem Ministerialdirektor Hans-Joachim Lörr seinen feierlichen Abschied aus dem Amt verhagelt: „Ich habʼ gelogen“, tönt es aus den Lautsprechern, „ich habʼ betrogen/Du hast nichts gesagt.“

Warum war der Discjockey gerade auf diesen Schlager gestoßen, mag man sich fragen, dessen Liedtext ein Affront für alle Gäste der Gala bedeuten musste? War es ein Wink des Schicksals, oder verbirgt sich dahinter eine geheime Teleologie, die der Autor dem Geschehen eingeschrieben hat?

Wolfgang Ainetter erzählt in seinem Polit-Thriller die Geschichte des „Schattenministers“ Lörr, der wenige Tage vor seiner Pensionierung entführt wird – von wem, soll hier nicht verraten werden, zumal die Person auch weitgehend uninteressant ist.

Unter „Schattenminister“ wird hier nicht, wie üblich, ein Oppositionspolitiker im Wartestand der Regierungsübernahme verstanden, sondern der mächtige „zweite Mann“ im Schatten des Ministers, der die eigentlichen Fäden zieht und seinen Chef wie eine Marionette leitet. Der „Ministeriums-Krimi“ führt uns jedoch weniger die geheimen und offenbaren Machenschaften des ebenso intriganten wie skrupellosen Schatten- und Taschenspielers vor Augen als vielmehr dessen markantestes Merkmal – den Geiz, den er sich mit seiner Ehefrau Hiltrud teilt. Moment mal: Hiltrud? Gab es da nicht realiter Hillu, eine Ministersgattin gleichen Namens?

Diese Frage könnte uns André Franz „Diskretion“ Heidergott beantworten, ein österreichischer Kriminaler im deutschen Polizeidienst, der mit dem Entführungsfall betraut wird und nebenher den Diebstahl von Cem Özdemirs Fahrrad ermitteln soll. Der Kontaktbeamte des politischen Parketts mit dem kontradiktorischen Nachnamen, der entfernt an einen charismatischen Kärntner Landeshauptmann erinnern mag, führt, seit seine Ehe gescheitert ist, ein reduziertes Leben in karger Junggesellenwohnung. Heidergott ist quasi mit seinem Beruf verheiratet, verliebt sich aber in Caro Himmler (!), 35, die Büroleiterin des entführten Ministerialdirektors.

Das nicht näher spezifizierte Ministerium liegt in der, zumeist verstopften, „Versehrtenstraße“ (unweit des Invalidendoms?) und wurde von der Süddeutschen Zeitung schon als „Ort der Finsternis“ bezeichnet. Die Nebenstraße mit dem Haupteinlass heißt denn auch „Finsterweg“, und wer weiß, vielleicht wird dereinst Frauke Finsterwalder den Roman nach einem Drehbuch von Christian Kracht verfilmen. Hätte er das Niveau dazu? Hm!

Hier jedenfalls, „im hässlicheren Teil des politischen Berlins“, laufen alle wichtigen Fäden zusammen, auch die des ermittelnden Kommissars, der allerlei Figuren trifft, die – häufig blass und farblos – dem Leser gleich wieder entfallen. Selbst der – relativ spät eingeführte – cholerische Minister bleibt randständig und unerheblich. Ist dieser erzählerische Mangel vielleicht ein Merkmal des Genres allgemein?

Die Geschichte des Schlüsselromans kennt gute Gegenbeispiele, seit das Genre im frühen 20. Jahrhundert Konjunktur hatte und bevorzugt totalitäre Systeme begleitete. Man denke an Jewgenij Samjatins Roman Wir (1922), an Aldous Huxleys Brave New World (1932) oder an George Orwells Dystopie 1984 (1949). Aber auch moderne Demokratien kennen entsprechende Beispiele, darunter: Primary Colors (dt. Mit aller Macht) als die 1996 von Anonymus (id est Joe Klein) vorgelegte „Novel of Politics“ (so der Untertitel der amerikanischen Originalausgabe bei Random House): Sie konnte dank ihrer herausragenden Qualität zum internationalen Bestseller avancieren, verfilmt von Mike Nichols (in der Hauptrolle: John Travolta). Durch Verfilmung(en) weltberühmt wurde auch House of Cards (1989), der Polit-Thriller von Michael Dobbs.

Wie Klaus Manns Mephisto (1936) belegt, kennt das Genre anspruchsvolle, prominente Parabeln aus dem politischen Milieu im weitesten Sinne, darunter Arthur Koestlers Dystopie Sonnenfinsternis (1940) und Ernst Jüngers Erzählung Auf den Marmorklippen (1939). Parteifreunde von Wulf Schönbohm (1990) und Monrepos von Manfred Zach (1996) sind aufgrund intimer Einblicke ins Behördenhandeln ebenfalls lehrreich und lesenswert. Ihre Verfasser waren oft verdiente und ausgediente Politiker, die ihren persönlichen Rückblick auf die „Kälte der Macht“ in spannende Prosa zu fassen wussten. Auch ein Bundesminister war darunter, Horst Ehmke, der mit Global Players (1998) einen Kriminalroman um politische Verstrickungen in mafiöse Strukturen vorlegte. Und schon vor zwanzig Jahren erschien Boris Johnsons Seventy-Two Virgins (2004), der satirische „London-Roman“ des damaligen Journalisten und späteren Bürgermeisters und Premierministers, der ganz exzellent von einem Attentat arabischer Terroristen mitten im Parlamentsbezirk der britischen Hauptstadt erzählt. Von diesen politischen Genre-Krimis zu unterscheiden wären etwa Finks Krieg (1996) von Martin Walser oder Johann Holtrop (2012) von Rainald Goetz, die ebenfalls als Schlüsselromane gelesen werden können – der eine bezieht sich auf Alexander Gauland, der andere auf Thomas Middelhoff –, aber sich nicht darin erschöpfen: als Repräsentanten der Hochliteratur erfüllen sie noch viele weitere Erwartungen und Funktionen.

Wie viele seiner Schriftstellerkollegen kann auch Wolfgang Ainetter als intimer Kenner des politischen Raums gelten. Er war Kommunikationschef beim Bundesverkehrsminister und kann mit Sprache umgehen: Deutsches Idiom und Wiener Schmäh sind dem studierten Psychologen viele Beobachtungen und Bemerkungen wert. Ainetter witzelt permanent, und manches eingestreute Kapitel versammelt katalogartig aufgeführte Schenkelklopfer oder Auflistungen politischer Peinlichkeiten: Das Erzählen kommt hier zum Erliegen, und es wird aufzählungshaft abgearbeitet, was noch unterzubringen war. Manches davon ist historisch verbürgt, darunter die Filbinger-Affäre (von der auch Manfred Zach schon erzählte) oder die Entgleisungen Herbert Wehners im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, anderes dürfte wohlfeile Erfindung sein. Lobbyismus und Nepotismus bestimmen, teils satirisch überspitzt, den Alltag des Politikers, der dauernd Gefahr läuft, korrumpiert zu werden. Es gibt hier praktisch niemanden von Gewicht, der Politik aus Idealismus und als moralisches Geschäft betreiben würde (eine Lesart des Romans Primary Colors), sondern Geltungssucht ist die bestimmende Motivation, die den Berufspolitiker ins „Fegefeuer der Eitelkeiten“ führt. Ein entsprechendes Namensregister hat der Verfasser für alle jene angelegt, die sich „100-mal pro Tag selbst googeln“, von, womöglich, Annalena Baerbock bis Brigitte Zypries, von Philipp Amthor bis Kardinal Woelki. Andreas Scheuer übrigens kommt, im Gegensatz zu Alexander Dobrindt, nicht vor, zumindest nicht explizit. (Implizit schon, wird der dargestellte Minister doch als eitler Fatzke geschildert, der „mit seinen Entscheidungen hunderte Millionen Steuergeld versenkt“ haben soll: er trägt den sprechenden Namen Felix Rohr…)

Angesichts solcher Beispiele fragt man sich, ob Schlüsselromane oftmals Nachtretereien sind von Leuten, die mit der Politik abgeschlossen haben, oder ob es im Idealfall auch Bücher geben mag, die uns nützen. So eignet sich das – fast schon visionäre – erste Kapitel („Die Jalta-Rede“) von Wulf Schönbohms Roman Parteifreunde (bereits 1990 bei Econ erschienen!) wunderbar, die vor dem Hintergrund von Putins „militärischer Spezialoperation“ entstandene politische Unwucht in Osteuropa mit der Stalin-Note von 1953 und der deutschen Neutralitätsdebatte von 1989/90 zu verknüpfen. Letztere hatte durchaus prominente Fürsprecher (darunter Günter Grass): Die Neutralitätsofferte, damals wie heute als Finte gelesen, erwies freilich jene als politisch naiv, die ihr erlegen sind. Zu diesem Schluss dürften zumindest die Leser von Giuliano da Empolis Putin-Roman Der Magier im Kreml (dt. 2023) gelangen: Auch dies ein Buch, das mitten ins „Herz der Finsternis“ führt, in ein Reich des Bösen, wo Spindoktoren einen Kokon aus Abgrund, Intriganz und Zerstörung in ein „Imperium der Lüge“ verwandeln.

So weit führt uns Wolfgang Ainetter nicht – sein Sujet verbleibt im Milieu der Provinzposse. Zeit, sich Roland Kaiser zuzuwenden.

Titelbild

Wolfgang Ainetter: Geheimnisse, Lügen und andere Währungen. Ein Ministeriums-Krimi.
Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2024.
312 Seiten , 13,95 EUR.
ISBN-13: 9783709979600

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