Kafkas Lächeln

Kristine A. Thorsen überträgt Peter-A. Alts Biographie ins Amerikanische

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon mit dem von Marianne Jankowski gestalteten Umschlagmotiv signalisiert Kristin A. Thorsen, dass sie die Kafka-Biographie Peter André Alts nicht bloß übersetzt. Sie transkribiert und überträgt sie vielmehr ins Amerikanische. Ein anderes Kafka-Porträt als in der deutschsprachigen Fassung Franz Kafka – Der ewige Sohn blickt freundlich auf den Titel Franz Kafka, the Eternal Son hinab.

Peter André Alt eröffnet seine stilistisch brillante und fachlich kompetente Biographie mit einem „Ausschnitt aus dem Verlobungsfoto mit Felice Bauer“, das, dem Anlass entsprechend, auch schon einen heitereren Kafka zeigt als die meisten von ihm im Umlauf befindlichen Photographien. Das Buch erschien erstmals 2005, in zweiter Auflage 2008 und in dritter Auflage 2018 im Beck Verlag. Er wurde bereits in literaturkritik.de rezensiert.

Kristine A. Thorsen hat sich dagegen als Übersetzerin für einen offen lächelnden Kafka mit „Kreissäge“ entschieden. So heißt jener in den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr beliebte Sommerstrohhut, der die Leichtigkeit freier oder gar musischer Zeit zu versinnbildlichen mag.

Beide Photographien stammen aus dem Wagenbach-Archiv, das, wie der Verleger selbst, eine Art verlässliche Konstante und Anlaufstelle innerhalb der längst nicht mehr nur philologisch und germanistisch motivierten Kafka-Forschung geblieben ist. Die Photographie, die der Übersetzung vorangestellt ist, wurde im September 1913 im Wiener Prater aufgenommen. Sie zeigt den dreißigjährigen Kafka lächelnd, wenn nicht gar lachend. Das Porträt wird auch von Wagenbach selbst verwendet, und zwar innerhalb des von ihm unter dem Titel Ein Käfig ging einen Vogel suchen 2018 publizierten Bandes, der Kafka-Prosa aller Werkphasen zusammenstellt. Als eine Art Gegenspiel zu der „Schulweisheit vom dunklen Kafka“, die Wagenbach „seit je […] geärgert“ habe, bewährt sie sich auch in Form des Umschlagentwurfs der hier zu rezensierenden Übersetzung Thorsens. Kristine A. Thorsen studierte an der Universität von Chicago. Sie war dann mehrere Jahrzehnte lang Germanistin und Lektorin an der Northwestern University. Vor allem aufgrund ihres 2011 erschienenen Buches Poetry by American Women 1900-1975 ist sie international bekannt.

Vorangestellt bleibt auch der Fassung im amerikanischen Englisch als Motto ein Kafka-Zitat. Danach ist „der Ritt den wir den Ritt der Träume nennen […] unnachahmbar und [wird] immer noch gezeigt, obwohl der welcher ihn erfunden hat […] längst gestorben“ ist. Kafka notierte dies im Februar 1922. Diese Notiz kann als ein das Eigentümliche seiner Dichtung skizzierendes und reflektierendes poetologisches Statement verstanden werden. Der Ritt aber, so zeigen Alt und Thorsen auf je eigene Weise, findet zwar in der Nacht statt, an den Schreibtischen des Prager Dichters der Moderne; er durchtrabt aber zunehmend Topographien des Wachzustands, den Wirklichkeit zu nennen wir uns angewöhnt haben.

Das Koordinatensystem der Wirklichkeit kannte der promovierte Jurist Dr. Franz Kafka aus dem FF.  Er war im Versicherungssystem Österreichs und später der tschechischen Republik als höherer Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt tätig. In dieser Funktion schrieb er etwa Begutachtungen, entwarf Schutzvorrichtungen für Arbeiter in den holzverarbeitenden Fabriken und zeichnete sich durch Fürsorge aus, die über das Notwendige hinausreichte. Seinen Vorgesetzten war seine Sachkenntnis so wichtig, dass die Pensionierung des schwer lungenkranken Mitarbeiters immer wieder herausgezögert wurde. Die Wichtigkeit des juristischen Berufs, also des Kafka vermeintlich so verhassten Büros für die schriftstellerische Arbeit, konnte erst im Anschluss an die 2004 im Fischer Verlag von Klaus Hermsdorf und Benno Wagner herausgegebenen Amtliche[n] Schriften angemessen und im größeren Stil thematisiert werden. Dieser Aspekt der Lebensgeschichte spielt innerhalb der Biographie Alts und der Übersetzung Thorsens nur eine Nebenrolle, wird aber nicht ganz ausgespart. Doch vor allem geht es um den Schriftsteller, der sich an den Tagebüchern festhielt oder in die Novelle sprang, um überleben zu können. Es geht dann besonders auch um die Räume und Modi der Literatur, die oft lebensgeschichtlich verbriefte Tiefpunkte und Höhenflüge ihres Autors und der mit ihm eng assoziierten Freunde und Familienmitglieder vorwegnahm.

So wie der Titel The Eternal Son wortwörtlich den Titel des Originals Der ewige Sohn übersetzt, so hält sich Thorsen insgesamt strikt und stilistisch brillant an die Struktur und Argumentation André Alts. Sie übernimmt die Ordnung der zwanzig Kapitel, belässt es bei den Überschriften und rekonstruiert Leben und Literatur Franz Kafkas im Umfeld von Leben, Literatur, anthropologischen Theorien und Konzepten seiner Zeit. Die Illustrationen, die Alt sukzessive präsentiert, positioniert Thorsen in der Mitte der Biographie, so dass die Leserinnen und Leser sich zunächst ein Bild von Leben und Werk entwerfen können, bevor sie die Bilder sehen, die andere sich vor ihnen entwarfen und in die weitere Lektüre miteinbeziehen.

Beide, Alt und Thorsen, begründen allerdings keinesfalls, wie es gelegentlich zu lesen ist, Kafkas Autorschaft psychoanalytisch, wenngleich die Bedeutung der Psychoanalyse als Kontext berücksichtigt wird. Vielmehr lassen sie von Jean Paul bis hin zu Freud Literaten und Wissenschaftler zu Wort kommen, die sowohl für Kafkas Lebensgeschichte und für seine Werkphasen und Schreibweisen Bedeutung erlangten als auch die Erkundung des Unbewussten – als eigentlich nicht Erkundbares und Unergründliches – literarisch und wissenschaftlich anstrebten.

Die These, dass Franz Kafka ein ewiger Sohn sei, zielt mithin auch weniger auf psychologische Annäherung, die am Ende eine Regression und den nicht erfolgreich abgeschlossenen Ödipuskomplex diagnostizieren will. Sie zielt nicht einmal vorrangig auf die Rekonstruktion des vermeintlich sehr gestörten, ja traumatisierten Verhältnisses des biologischen Sohnes zu dem biologischen Vater. Doch wird dies ebenso wenig ausgespart wie gelegentliche psychoanalytische Analysen der Figuren, die allerdings lediglich in Bezug auf die Romane eine gewisse Bedeutung erlangen. So finden die despektierlichen Äußerungen des Vaters in Bezug auf Freundinnen und Freunde des Sohnes ebenso Erwähnung wie seine laute und unnachgiebige Art und seine Schwierigkeiten, der Schreibkunst seines Sohnes zügig Respekt zu zollen. Auch diesbezüglich gelingt es aber, eine Perspektive zu wählen, von der aus auch Anderes einsichtig wird.

Von dieser Perspektive aus betrachtet wird dann eben auch erkennbar, dass der sterbenskranke Sohn seinen schwerkranken Vater im Krankenhaus besucht, und  dann eben auch erzählbar, dass der schwerkranke Vater seinem sterbenden Sohn jede erdenkbare finanzielle Hilfe zuteilwerden lässt. Und endlich legt sie einen neuen Blick auf die Korrespondenz des todkranken Sohns mit seinen Eltern frei. Es bewegt zu lesen, wie minimalistisch und behutsam Franz Kafka kurz vor seinem Tod noch Angaben zu seinem beunruhigenden Gesundheitszustand macht, um die Eltern zu beruhigen. Es berührt zu erfahren, dass der schwerkranke Kafka einem Kind, das um den Verlust der Puppe weint, Briefe aus der Sicht eben dieser Puppe zukommen lässt, also lächelnd und leicht durch die eigene schwere Krankheit hindurch sich auch zum Schreibwerkzeug einer von ihm in den Tagebüchern skizzierten „kleinen Literatur“ macht.

Die Formel vom „ewigen Sohn“ zielt darüberhinaus aber vor allem auf die Beschreibung kulturell gegebener, undurchsichtiger Machtkonstellationen. Sie meint etwa die Bedeutung jüdischer Geschichte, die Franz Kafka gelegentlich gerne als etwas Verinnerlichtes, ihm Eigentümliches empfunden hätte und doch nur als Vermitteltes begriff, etwa durch das Erlernen der hebräischen Sprache. Sie symbolisiert auch jenen „Rest an Glauben“, den der Prager Jahrtausendschriftsteller mit einer Notiz im Tagebuch erwähnt. Er könnte es ihm ermöglichen, sich Gott Vater anzuvertrauen. Und die Formel meint, last but not least, den immerwährenden, also „ewigen“ Augenblick des Schreibens, ohne Plan und möglichst ohne Korrektur, der das ästhetische Ideal war.

Diese Schreibprozesse und die Prosa und Aphorismen, die sie schöpften, werden im Umfeld entsprechender Forschungsliteratur nach und nach auf eine Weise zu Wort gebeten, die die Biographie als Einstieg in eine Beschäftigung mit Kafkas Kunst ebenso empfiehlt wie als Begleitbuch fortgeschrittener Kafka-Kenner.

Von der ganz frühen, impressionistischen Prosa, über die noch zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen des Landarzt-Bandes, von den Korrespondenzen mit Felice Bauer, Milena Jesenská und Max Brod bis hin zu den Tagebuch-Aufzeichnungen und endlich von den drei Fragment gebliebenen Romanprojekten bis hin zu den späten Erzählungen Der Bau und Der Hungerkünstler berücksichtigt diese Übersetzung wie schon Alt selbst das literarische Schaffen dieses Ausnahmeschriftstellers.

Durch minimale Akzentsetzungen überträgt Thorsen das Spannungsverhältnis von Einbildungskraft (die an Einbildungsvermögen als Seeleninstanz erinnert), Seele und Psyche, in das Alt seine europäische Lektüre einer Künstler-Biographie einschreibt (mit Derrida), ins Amerikanische. Sie spricht etwa nicht von Einbildungskraft, sondern (pragmatischer) von Imagination, weniger von Seele und mehr von Psyche und Mind. Gelegentlich übersetzt sie Angst und ängstlich mit anxiety und anxious. Bei der Hochzeitsvorbereitung mit Felice aber belässt sie es, offensichtlich ganz gezielt, bei dem deutschen Begriff, der dann an die „German Angst“ gemahnen mag. Ein von Alt präsentiertes Zitat Kafkas, in dem er Felice Bauer gegenüber festhält, dass „ein Regen von Nervositäten […] ununterbrochen“ auf ihn herunterging, kürzt Thorsen auf den diesem Teil folgenden Abschnitt ein: „Was ich jetzt will, will ich nächstens nicht“. Möglicherwiese ist es intendiert, denn im amerikanischen Kulturraum versteht man unter einem „Regen von Nervositäten“ mit George Miller Beard, der 1881 sein Buch American Nervousness. Its Causes and Consequences in New York publizierte und Neurasthenie als typisch amerikanische Zivilisationskrankheit des Großstädters verstand, vielleicht doch etwas anderes als im europäischen Kulturraum mit Freud.

Gemessen an den schier nicht enden wollenden Forschungsbeiträgen zum Leben und Werk Franz Kafkas nehmen sich die biographischen Beiträge eher bescheiden aus. Die vorliegende Übersetzung eines deutschsprachigen Beitrags ins Amerikanische reiht sich in einen transatlantischen Forschungsaustausch ein, der seit Beginn der Kafka-Forschung im Nachkriegsdeutschland bis heute ergiebig ist. So erschien etwa Louis Begleys biographischer Essay zunächst unter dem Titel The tremendous World I Have Inside My Head in New York und dann 2009 in der deutschsprachigen Übersetzung Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Saul Friedländers Biographie Franz Kafka. Poet of Shame and Guilt erschien 2013 bei der Yale University Press und 2012 unter dem Titel Franz Kafka in München.

Im Falle von Alt und Thorsen, die Biographien vorlegen, die als Original und Übersetzung bezeichnen zu wollen, beiden nicht gerecht würde, ist der umgekehrte Weg von Deutschland nach Amerika eingeschlagen worden. Beide legen eine jeweils glänzend geschriebene, zugleich literarisch und wissenschaftlich ernst zu nehmende Künstlerbiographie vor. Beide Biographien sind gerade aufgrund des ganz persönlichen Blickes auf Leben und Werk des promovierten Juristen und Jahrtausendschriftstellers überaus lesenswert und bereichernd. Sie zeigen beide, wenn auch jeweils etwas anders, Kafkas Lächeln. Und auf den lächelnden, gar lachenden Franz Kafka, mit dem die Forschung langsam den dunklen überblendet, trifft sicher zu, was für den Erzähler und sein Volk einer seiner letzten Erzählungen, Josephine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, gilt: „Manchmal habe ich den Eindruck, das Volk fasse sein Verhältnis zu Josefine derart auf, dass sie, dieses zerbrechliche, schonungsbedürftige, irgendwie ausgezeichnete Wesen ihm anvertraut sei und es müsse für sie sorgen; der Grund dessen ist niemandem klar, nur die Tatsache scheint festzustehen. Über das, was einem anvertraut ist, lacht man nicht[…].“ Man lacht nur mit ihm.

Titelbild

Peter-André Alt: Franz Kafka, the Eternal Son. A Biography.
Translated from the German by Kristine A.Thorsen.
Northwestern University Press, Evanstone, Illinois 2018.
642 Seiten, 43 EUR.
ISBN-13: 9780810126077

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