Von der Lust am Lamento
In ihrer Autofiktion „Aus dem Haus“ analysiert Miriam Böttger das Leben ihrer Eltern und die Stadt Kassel
Von Anne Amend-Söchting
Sie schreibe, „seit sie denken könne“; bis vor Kurzem habe sie aber keine Zeit gehabt, ihren Roman „bei einem Verlag unterzubringen“. Abgesehen von diesen knappen Informationen, erfährt man von Miriam Böttger nur, dass sie als Journalistin beim ZDF arbeitet. Das tendenzielle Verbergen der eigenen Person bleibt auch eine Konstante im Text – trotz der Autofiktionalität nimmt sich die Ich-Erzählerin gegenüber ihrer Familie, insbesondere ihrer Mutter, und gegenüber allen nicht belebten Akteur:innen zurück.
Nachdem sie einige Jahre im südhessischen Weinheim gelebt haben, kehren die Eltern mit der zehn Jahre alten Tochter in die Geburtsstadt der Mutter, Kassel, zurück. Sie wohnen zuerst in Baunatal, danach in einem „bonzenhaften“ Haus mit Swimmingpool am Waldrand, bevor sie ein Eigenheim in Kassel-Harleshausen erbauen lassen. Die Mutter, sich bis zu diesem Zeitpunkt durchweg glamourös nach der neuesten Mode kleidend und mit Make-up nicht sparend, beginnt, über finanzielle Belastungen und über das Haus als solches zu klagen. Diverse Wasserrohrbrüche tun ihr Übriges, um das Jammern zu potenzieren.
Als die Tochter schon längst aus Kassel weggezogen ist, erst zum Studium nach Freiburg, später, der Arbeitsstelle geschuldet, nach Berlin, beschließen die Eltern, ihr Haus zu verkaufen. Obwohl sie sich über mehr als 30 Jahre hinweg beschwert haben, erfinden sie nun ständig Ausreden, bis der Verkauf realisiert wird. Sehr schnell verlassen sie danach die kleine Wohnung, die „Gummizelle“, so die Mutter, in Kassel, um in die Nähe der Tochter nach Berlin zu ziehen. Nach einigen Jahren in der Hauptstadt erleidet der Vater einen Hinterwandinfarkt, an dem er stirbt.
Vordergründig erzählt Miriam Böttger die Geschichte eines Umzugs, mehrerer Umzüge genau genommen, erst von Weinheim nach Baunatal, dann nach Kassel in ein mondänes Haus, von dort aus in das selbstgebaute, weiter in eine kleine Wohnung ebendort und zu guter Letzt nach Berlin. Auf räumliche Extensionen und finanzielle Verpflichtungen folgt die Reduktion – von mehr als „dreihundert auf hundert Quadratmeter“, mit denen man sich irgendwie arrangieren müsse, so lamentiert die Mutter am Telefon.
Der Titel Aus dem Haus trifft in erster Linie diese Verkleinerung: vom Eigenheim, dem HAUS (im Text oft mit Majuskeln versehen), entfernt zu sein, heißt, nicht richtig zuhause zu sein, schutzlos und gleichermaßen ein bisschen „aus dem Häuschen“ – eine solche Diktion fasst die Befindlichkeit der Mutter zusammen und besitzt eine hochgradig bildliche Wertigkeit insofern, als mit „aus dem HAUS“ paradoxerweise eine seit Langem beschlossene und gewollte Trennung einhergeht und dennoch ein Objekt der Begierde benannt wird. Fortan wird es sich dem Zugriff entziehen – ihm gilt eine Sehnsucht, die ins Leere läuft.
Das Statische, das Immobile des Gebäudes, etwas Konstantes und Irreduzibles – so lässt sich das Haus in seiner Wertigkeit als Daseinsmetapher und gewissermaßen Akteur umschreiben. Betrachtet man es vor der Prämisse der diversen Wohnungswechsel, entpuppt es sich gleichermaßen als Symbol für Dynamik und Ergebnisoffenheit, etwas Versatiles, das sich in jedem Umzug spiegelt.
Schwer tut man sich in all dem mit der Gattungsbezeichnung „Roman“. Böttger schreibt mit akzeptablem narrativem Schwung und in einer angenehm zu lesenden Syntax. Nicht nur indem sie sich rar gewordener morphologischer Formen des Konjunktivs II bedient, brilliert sie mit einer Rhetorik, die sowohl leichte Inkohärenzen und eine stark im Vagen und Opaken verharrende erzählte Zeit zu kompensieren vermag. Packende und lebendige Dialoge erweisen sich indessen als Mangelware.
Sehr skurril wirken zu Beginn das „Oooh“ und das „Oh, huuuh“ des Vaters, imaginierte Reaktionen des Verstorbenen, weil die Tochter ihn auf dem Friedhof besucht. Daraus ergibt sich nicht nur ein gelungener Auftakt zur permanenten Klage der Mutter, sondern es handelt sich kurioserweise um einen der wenigen etwas elaborierteren Dialoge, an den das Ende anschließt. Eine solche Kreisstruktur wurde dem Roman vielleicht verpasst, um das mitunter Disparate zusammenzuhalten.
Ihr Schlusskapitel habe sie zweimal geschrieben, so Böttger in ebendiesem. Beim ersten Entwurf habe ihr Vater noch gelebt. Sie bemerkt zudem, dass sie „furchtbar schlecht bei Schlusssätzen“ sei, und ergänzt, „Es ist, wie es ist“.
In die Umzugsgeschichten hineinmontiert sind eine Reihe von Episoden zur Geschichte der Familie, zu den Großeltern sowie Urgroßeltern und zu einer Tante, die an einer bipolaren Störung leidet. All diese Menschen, nur bedingt als handelnde Figuren ausgearbeitet, formieren, so Böttger, eine „Sekte für sich, mit irgendeiner speziellen Idee oder Wahnvorstellung, um die alles kreist“. Die vortreffliche Bemerkung lässt sich unschwer verallgemeinern. Kaum etwas fasziniere sie mehr, betont die Autorin, „wie all die vertrackten Familien“, die „ihren kollektiven Dachschaden“ spazieren führten. Tolstois berühmter erster Satz aus Anna Karenina lässt grüßen. Der desillusionierte Blick auf die kleinste soziale Einheit und primäre Sozialisationsinstanz weitet sich durch die Integration des Umfelds, in dem sich die Familienmitglieder bewegen – durch eine Reihe mesosystemischer Relationen, denen die Mutter recht hilflos ausgeliefert zu sein scheint. Im Vergleich zu ihnen sind die nicht menschlichen Akteur:innen, mit denen die Mutter verstrickt ist – Kassel, das Haus, das Unglück, die Zeit und das allgegenwärtige Klagen – mindestens genauso eminente Bedeutungsträger:innen.
Zunächst löst Baunatal bei der Mutter Phasen akuten Heimwehs aus, was nicht verwundert, zumal sich die Öde der Vorstadt mit einem prononciert soziallegasthenischen Habitus der Zugezogenen paart. Nach dem Verlassen der Bergstraße seien die Eltern in die „Rolle der unglücklichen Außenseiter“ hineinkatapultiert worden, denen es schwergefallen sei, sich an den nordhessischen Zungenschlag, eine, „Sprache in Form ungeschlachter Brocken“, zu gewöhnen. Außerstande, andere Menschen zu „lesen“ und ihre Motive zu verstehen, hätten die Eltern alle sozialen Interaktionen auf sich selbst bezogen.
Mit den Worten, die Böttger ihrer Mutter in den Mund legt, outet sie diese als exzellente regionalgeografische Diagnostikerin mit leichtem Hang zur Bissigkeit:
Kassel bedeutet Untergang und Verdammnis, weil aber niemand diese Verdammnis erträgt, reagieren alle so, wie Leute immer reagieren, wenn eine Situation aussichtslos ist, sie stürzen sich erst recht hinein, tun so, als hätten sie sie frei gewählt, als wären sie womöglich noch stolz darauf. Sie rennen also zu all den Golfklub-Festen, Provinzrestaurant-Eröffnungen und Mercedes-Benz-Niederlassungsfeiern und attestieren dann einander, wie toll sie sich gegenseitig finden und dass sie sich keinen besseren Ort auf der ganzen Welt vorstellen können.
Kassel und das HAUS sind konkret zu verorten, nicht so das Unglück bzw. der „Unglücksmythos“, den die Mutter sich konstruiert habe und den sie immer wieder gern bemühe. Ihr Credo laute, dass sie und ihre Familie vom Unglück, einem „nicht zu bändigenden Feind“, verfolgt seien. Das HAUS sei ein „Unglückshaus“ und eigentlich habe das Leben sie schon „immer auf dem Kieker“ gehabt. Mit dem Unglück vereint sich die Zeit, die gnaden- und kompromisslose Vergänglichkeit, mit der sich die Mutter nicht arrangieren kann. In einer Schlüsselszene schaut sie mit ihrem Mann – während einer der Abendspaziergänge, die beide, oft einander anschweigend, in Kassel unternehmen – durch die Fenster eines Gemeindehauses, in dem sich meist ältere Menschen zu einer Chorprobe versammelt haben. Dort sei sie, so vertraut sie ihrer Tochter später an, zur „Empfängerin einer Epiphanie“ geworden. „Unverstellt“ und „in Quintessenz“ habe sie die „besondere Körperhaltung streng evangelischer Leute“ wahrgenommen und „diese protestantische Unbehaustheit im eigenen Körper“. Beim Anblick der probenden Senior:innen wird die Mutter von „akuter Zeitangst“ gepackt, von einer alles durchdringenden existenziellen Unbehaustheit.
Wenn die Union von Unglück und Zeit die Mutter nicht in Apathie versetzt, liebt sie es, das Haus auszufegen. Im Gegensatz zu anderen, die sich Dinge schönredeten, beherrsche ihre Mutter meisterhaft „die Disziplin des Sich-die-Dinge-Schlechtredens“. Beim Kehren gelange die Klage zum Paroxysmus und gerade dabei sei ihre Mutter „die beste und verführerischste Schwarzmalerin der Welt“. In diesem Paradoxon offenbart sich die Lust am Lamento. Zwar ist alles schlimm, aber indem man sich einer Art ‚Redekur‘ hingibt, findet man Erleichterung. Mit ihrem „Lied im Leid“, das für sie ein ontologischer Imperativ zu sein scheint, nähert sich die Mutter der traditionellen, in der antiken Temperamentenlehre verankerten, Konzeption von Melancholie als kreativitätsfördernder Stimmung des Traurig-Frohen, positioniert sie sich implizit im Kontext einer jahrhundertealten, immer wieder heraufbeschworenen Ambivalenz einer Melancholie, in deren Ausprägungen das Schwere und das Dunkle der Depression lauert, aber ebenso das Leichte und Helle des Schöpferischen. In der Balance eines kontinuierlichen Auf-der-Hut-sein-Müssens avanciert die Klage, das Sprechen und/oder Schreiben über alles Missliche, zu einem bewährten Remedium. Um dorthin zu gelangen, musste die Mutter gleich zwei Etappen des Pathologischen durchqueren: als Erstes ein Stadium der Depression – vier Wochen verbrachte sie allein in einem abgedunkelten Zimmer –, danach eine Zeit der Hypochondrie, wovon ihre zahlreichen Konsultationen von Ärzt:innen zeugen. Schließlich landet sie bei einer neuen Art von Humor, in dem Apathie und Zynismus verschmelzen. Nicht zuletzt das Umschreiben dieser Befindlichkeit prägt das Porträt einer Mutter, die sich immerwährend als Opfer stilisiert und an diesem Procedere wohl insgeheim ihre Freude hat.
Was bei ihr noch mehr wiegt, mehr den Status einer Panazee erlangt als ihre Klagelieder, ist ihr bedingungsloses Streben nach Schönheit. Ausgesuchte, ererbte Gegenstände – ein weißes Leinentischtuch und ein kleiner blauer Schuh aus Glas – symbolisieren dieses Verlangen. Genauso verhalte es sich mit „Klamotten“ und ganz besonders manifestiere sich Schönheit im Gesicht der Mutter, in dem kaum Spuren der Alterung auszumachen seien.
Doch das eigentliche Geheimnis der Jugendlichkeit, so sinniert Böttger, sei vielleicht auf die Verwunderung zurückzuführen, die ihre Eltern oft im Kontakt mit anderen Menschen hatten. Man könne sie als „lebenslange Debütanten“ etikettieren. Ein solches „Paralleluniversum“ besitzt die Macht, Chronologie zu konterkarieren, in ihm gelten die Regeln des Erwachsenseins nicht, in ihm tönt theatralisches und kindlich-unbefangenes Lamento in Dauerschleife, was in Böttgers Text insgesamt zu einem mitunter leicht irritierenden Basso continuo gerät. Es ist jedoch im besten Sinne humorvoll und nimmt dem Buch die Schwere der in ihm verhandelten geografischen und existenziellen Tragik. Aus der Redundanz resultiert die Distanz einer Ironie, die möglicherweise Gefahr läuft, unterzugehen und nicht nur von manchen „Kasselänern“, „Kasselanern“ oder sogar „Kasselern“ (was es damit auf sich hat, lässt sich googeln oder im Roman nachlesen) missverstanden zu werden. Alle anderen werden die Ambivalenz dieses Humors, die ihm immanente Union von Tragik und Leichtigkeit, zu schätzen wissen.
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