Philosophieren statt funktionieren

Michael Andricks „Philosophie für die Arbeitswelt“ liefert das Handwerkszeug, sich in einem Geflecht der „Erfolgsleere“ zwischen Anerkennungssuche und atomisierter Mitschuld selbst zu erkennen und neu zu verorten

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich müsste Andricks Buch eher den Untertitel „Philosophie gegen die Arbeitswelt“ tragen, denn diese, als eine Art neuer Kosmos, in dem wir selbst uns Plätze suchen oder diese zugewiesen bekommen, erweist sich als diametraler Gegensatz zu Freiheit, Selbsterkenntnis und eigentlichem Leben.

Die Industrialisierung und Globalisierung und die Lebensweise bzw. die Konsumgewohnheiten der Menschen in den Industrienationen führen an den Rändern des Wohlstands und in den Ländern, aus denen wir unsere Bedarfe decken, zu Armut und Kriegen. Investmentbanker und Finanzstrategen wetten auf die Ernte in Schwellenländern und Folgen dieser Zockerei sind Elend und Tod. Unsere Produktionsweise vermüllt und überhitzt den Planeten. Wenngleich wir dies alles sehen, leben wir auf den Rücken der Ärmeren laut Michael Andrick mit einem Gefühl der vagen Schuldlosigkeit und gehen mit den variablen Wertvorstellungen unserer Lebens- und Arbeitswelt konform. Dieses Rätsel unserer Normalität gilt es zu lösen und hierfür schlägt Andrick einen weiten Bogen.

Mit Beginn der Neuzeit verliert der Mensch die durch den Glauben an den einen göttlichen Willen gestiftete Einheit der Welt. Er verliert die sichere Bindung an das Numinose, wird zum Maß aller Dinge und macht nunmehr seinen Willen zum Herrscher. Die europäische Aufklärung unterwirft alles dem Urteil der Vernunft und die damit einhergehende Analyse alles Bestehenden führt zur Erkenntnis, dass nur die vernünftige Rechtfertigung klar definierter Zwecke als Ordnungsprinzip einer Welt ohne Rückbindung an ein einheitliches Weltbild dienen kann. Die institutionalisierte Erfüllung dieser Zwecke ist Andrick zufolge „der zugleich historische und logische Grund für das Aufkommen der modernen Institutionen, in deren Arbeitswelten wir uns wiederfinden“.

Innerhalb dieser Arbeitswelten ist die Vernunft der reinen (Zweck-)Rationalität gewichen. Ordnung wird durch wechselseitige Anerkennung gestiftet und durch ständiges Abspüren der Erwartungen anderer uns gegenüber, durch deren Entsprechung wir uns wiederum der Anerkennung würdig erweisen und letztlich Erfolg haben. Wir passen uns den Erwartungen an und steigen ehrgeizig die Karriereleiter hinauf. Anerkennung und Ansehen gründen auf dem zentralen Begriff der Ehre, denn unter diesen Begriff wird alles gefasst, was nach dem Geist der jeweiligen Zeit zu loben oder auch zu verachten ist: „Ohne den Schluss-Stein des Ehrbegriffs würde das Gewölbe unserer Umgangsformen zusammenbrechen“.

Je mehr wir, motiviert durch die Aussicht auf ein Mehr der Droge Erfolg, dem Konformitätsdruck entsprechen, sterben wir als moralische Subjekte ab. Am Ende dieser Entwicklung steht der Funktionär. Wenn wir nurmehr ohne dies gedanklich zu hinterfragen im Dienste der Zwecksetzungen anderer und gleichsam gewohnheitsmäßig als Funktionär agieren, sind wir Zombies – lebend Tote, deren moralisches Selbst erloschen ist. Leben im eigentlichen Sinne ist für Andrick das Arbeiten an uns selbst im Licht unserer Erfahrungen. Philosophieren ist das Handwerk(-szeug) mit dem wir auf dem Wege des Nachdenkens über uns selbst unser Selbst bauen und pflegen. Dies ist der lebendige Gegensatz zum „wackeren, fraglosen Konformismus“ des in (Fach-)Idiotie abgestorbenen Funktionärs.

Diese – hier holzschnittartig vereinfachte – Analyse bringt Andrick jedoch nicht dazu, uns zum Verlassen unserer Arbeitswelten aufzufordern, er selbst ist als Führungsperson in einem Weltkonzern weitab vom Aussteigerleben. Er sensibilisiert, macht bewusst und zeigt die existentielle Notwendigkeit des steten Hinterfragens, der Philosophie auf. So gesehen ist sein Buch doch eine Philosophie für die Arbeitswelt, in der wir uns wiederfinden.

Wenn eine philosophische Publikation ohne eine einzige Fußnote daherkommt, ist dies zunächst einmal ein Charakteristikum sogenannter Populärwissenschaft. Man verfasst ein lesenswertes Buch ohne das starre Korsett akademischer Redlichkeit zu schnüren und zur Schau zu stellen und wendet sich dabei zugleich an einen ungleich größeren Kreis von Lesenden. So betrachtet kann man auch Michael Andricks Buch der Populärwissenschaft zuordnen, zumal die Adressaten mitnichten nur im Bereich der Philosophie zu finden sind. Es sind vielmehr alle, die bereit sind, die Anstrengung des Begriffs (Hegel) auf sich zu nehmen und ihr Mittun in der modernen globalen Arbeitswelt kritisch zu reflektieren. Wird hingegen, wie hierzulande im Vergleich zum anglo-amerikanischen Sprachraum meist der Fall, die Populärwissenschaft mit einem Mangel an gedanklicher Tiefe gleichgesetzt, ist Erfolgsleere kein Werk der Populärwissenschaft. Die Analysen sind konzise und tiefgründig und verlangen dem Lesenden ein aktives Nach- und Mitdenken ab. Auch wenn die Fußnoten fehlen, kommt Andrick auf seinem Denk-Weg zur Lösung des Rätsels unserer Normalität mit zahlreichen Philosophinnen und Philosophen, Literaten und Vertretern anderer Geisteswissenschaften ins Gespräch.

Kritisch anmerken lässt sich, dass die Arbeitswelt, auf die Andricks kritische Analysen abzielen, nur ein Teil dessen ist, was man unter diesen Begriff zu subsumieren geneigt ist. So erscheint es schwer, sich die Tätigkeit eines Öko-Landwirts oder Craft-Bier-Braumeisters als moralisch verstorbenes Dahinfunktionieren vorzustellen, in dem das einzig sinnstiftende Medium die anerkennende Mail eines COO oder anderer Vorgesetzter ist. Ähnliches lässt sich sicher auch von ganzen Berufsgruppen behaupten, e. g. den Heilberufen (wenn man den Assistenzarzt in einem riesigen Klinikbetrieb vielleicht außen vor lässt). Sinnvolles und sinnkonstituierendes Arbeiten ist ein wichtiger Schlüssel zu gelingendem Leben und verhindert Verzweiflung angesichts unlösbarer Fragen unseres Daseins (man denke an die Gartenarbeit am Ende von Voltaires schrecklich lustigem Candide). Umso wichtiger ist es, sich immer wieder zu fragen, ob das, was wir tun und wofür wir uns kämpfend einsetzen, das Richtige ist: „Ist meine Liebe gut oder schlecht? Meine Antwort stellt mich an den Anfangspunkt meines weiteren Lebens“.

Sprachlich bewegt sich Michael Andrick auf einem sehr hohen Niveau. Er vermag es, seine Gedanken hochgradig präzise in Worte zu fassen und dies merkt der Lesende mit dem Bleistift auch daran, dass es schwierig ist, einzelne herausragende Sätze zum Unterstreichen zu selektieren. Er formuliert klar und ohne bildungssprachlichen Tand. Ein weiterer Grund, seine Philosophie für die Arbeitswelt zu lesen.

Titelbild

Michael Andrick: Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2020.
208 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783495490969

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