Das tönerne Pferd

Die indische Autorin Anuradha Roy lässt ein Pferd aus Terrakotta nicht als „Ton für die Götter“, sondern als Liebesbeweis formen

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ich-Erzählerin Sara erlebt in England zum ersten Mal einen Herbst – daheim in Indien kam mit dem Monsun ein milder Winter. Ihr Stipendium einer Stiftung für muslimische Mädchen ist knapp genug, „Tugenden durch Entsagung zu stärken“. Abends hat sie freien Zutritt zu einer Töpferwerkstatt für Studenten. In der Fremde braucht sie die vertraute Arbeit mit dem Ton „wie andere Leute Essen und Trinken.“

Denn zu Hause gab es Elango, mit zwei Töpferscheiben in einem Schuppen in Kummarapet, unweit vom Buschland in Südindien. Der englische Originaltitel The Earthspinner verweist auf zwei Elemente seines Berufs: die Erde (Terrakotta = „gekochte Erde“) und die sich drehenden Töpferscheiben. Das frühere Dorf, nun ein vergessenes Viertel, hat seinen Namen von den Töpfern – den Kummara. Elangos Vorfahren gehörten zu ihnen.

Von Elango wird in der dritten Person erzählt. Trotz guter Schulbildung wollte er immer Töpfer werden, verdiente aber mit Alltagsgeschirr nicht genug und benutzte seine Autorikscha als „Schulbus“, auch für Sara. Als er sie aus Blumenerde eine Ente formen sah, beschloss er, sie auszubilden. Im Schicksalsjahr 1977, als Indira Gandhi die Wahl verlor, töpferte Sara ihre erste Schale. Noch wichtiger aber war für sie ein junger Hund, den Elango im Wald fand.

Aus auktorialer Sicht erfährt man, wie ein Hund bei einem Überfall auf der Schnellstraße von seinen Besitzern getrennt wird. Saras Mutter, die Zeitungsreporterin, hat diesen Vorfall geschildert.

Im nächsten Unterkapitel steht ein Pferd in Flammen, streift durch den Ozean und atmet Feuer. Dieses aus der Hindu-Mythologie stammende heilige Pferd erscheint Elango im Traum, den er so deutet, dass die junge Muslima Zorah ihm gehören wird, wenn er hart genug dafür arbeitet. Die Enkelin eines Kalligrafen hat ihm bei einer Begegnung auf dem Wochenmarkt trotz ihres Gehfehlers „in eine Spirale aus Sehnsucht und Lust gesogen“.

Liebe über Religionsgrenzen hinweg ist hoffnungslos. „In diesem Land können allein Filmstars und Cricketspieler heiraten, wen sie wollen.“ Doch Träumen ist erlaubt, und Elango will das tönerne Pferd formen. Zorahs Großvater soll Worte in Urdu, in Indien als Moslem-Sprache betrachtet, in den Ton schneiden, so dass als Liebesbeweis für Zorah ein ihre Sprache sprechendes Pferd entsteht.

Tief im Wald, wo Elango den Ton aus einem Teich ausgräbt, findet er einen jungen Hunderüden, den er Chinna nennt. Mit seiner kreatürlichen Nähe verändert Chinna das Leben Elangos entscheidend. „Die Wüste war zu einem Garten geworden.“ Doch als es Ärger mit Mitbewohnern gibt, muss Chinna bei Saras Familie unterkommen, obwohl Elango sich ohne ihn verloren fühlt.

Ein weiterer Spannungsbogen entsteht, als Saras Mutter einen Leserbrief von der Frau erhält, die auf der Schnellstraße ihren Hund eingebüßt hat und unentwegt nach ihm sucht. Später folgen weitere Briefe – die Frau kommt ihrem Hund immer näher.

Sara geht heimlich zum Teich und hilft Elango bei der Herstellung des Pferdes. Eindringlich und detailreich werden die schweißtreibenden Mühen und beglückenden Freuden künstlerischen Schaffens geschildert. Da war es von Vorteil, dass die Autorin selbst töpfern kann. Hier wie im gesamten Roman bewährt sich die akkurate und einfühlsame Übersetzung ins Deutsche durch Werner Löcher-Lawrence.

Das Pferd wird fertig und trägt eine Inschrift, die sich über den hinduistischen Veda und den muslimischen Koran erhebt. Zunächst wird das Kunstwerk bestaunt, und Elango ist naiv beseligt. Dann aber finden die Hindus das Pferd durch ‚die Sprache der Mullahs‘ entweiht, und der Mob folgt der Aufforderung einer notorischen Hetzerin: „Ein jeder schlage darauf ein – Gott wird mit euch sein, Gott wird mit euch sein!“ Elango kommt verletzt mit dem Leben davon und verschwindet aus der Gegend, ohne sich von Chinna zu verabschieden. In einem Interview sagte die Autorin, Künstler überall auf der Welt könnten heute aufgeputschten Mobs zum Opfer fallen.

In England sehen sich Elango und Sara nach vielen Jahren wieder. Elango, nun angesehener Künstler, unterrichtet Schüler in einer Londoner Galerie und plagt die, bei denen er Talent sieht, mit bissigen Bemerkungen und hohem Anspruch. Er hat Schweres durchgemacht und musste mit seiner Frau Zohra immer wieder umziehen. „Einige dachten, wir essen Schweinefleisch, andere, wir würden Rindfleisch kochen.“ Elango war Hilfskraft in einer großen Werkstatt in Delhi, Zorah verdiente in einem Buchladen mehr als er. Ihr Sohn, da sind sie sich einig, soll Atheist werden – und keinesfalls Töpfer. Elango stimmt zu, dass Sara seine Geschichte aufschreibt.

Und Chinna? Anuradha Roy lässt am Ende der für die Beurteilung der Hauptfiguren so wichtigen Nebenhandlung noch einmal die literarische Meisterschaft aufscheinen, mit einfachen Worten tiefsten Regungen nachzuspüren. Auch wird abermals die anrührende Menschlichkeit deutlich, die diesen wunderbaren Roman prägt. Die Autorin hat übrigens streunende Hunde bei sich aufgenommen. Chinnas ehemalige Besitzerin findet den Hund und nennt ihn „Tashi“. Irgendwo in ihm rührt sich da etwas, doch er geht langsam davon, um von einem wuschelköpfigen Mann zu träumen, der ihn mit Bissen aus dem eigenen Mund gefüttert hatte.

Titelbild

Anuradha Roy: Ton für die Götter.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Luchterhand Literaturverlag, München 2023.
288 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877204

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