Ungute Familienbande

Katya Apekina erzählt in ihrem Roman „Je tiefer das Wasser“ die vielschichtige Coming-of-Age-Geschichte zweier Schwestern, die im Bannkreis ihrer manipulativen Eltern stehen

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt viele verborgene Kräfte, die in Familien wirksam sind, und diese sind nicht immer positiv. So auch in der Familie von Mae und Edie. Die 14- und 16-Jährige sind nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter Marianne in Louisiana aufgewachsen. Doch nun ist die Mutter wegen eines Suizidversuches in die Psychiatrie eingeliefert worden, weshalb die Töchter bei Vater Dennis Lomack in New York unterkommen. Während Edie den berühmten Schriftsteller ablehnt, da sie ihm die Schuld an Mariannes psychischer Misere gibt, freut sich Mae, in seiner Nähe zu sein. Zu belastend und unberechenbar war für sie das Leben mit der Mutter.

Warum die Beziehung der Eltern zerbrochen ist, ist nicht klar. Fakt ist jedenfalls, dass der Student Dennis seine spätere Frau bereits im Kindesalter kennenlernte, als er zu Bürgerrechtsprotesten in den Süden fuhr. Mariannes Vater half den verletzten Aktivisten, weißen Schlägertrupps zu entkommen, und nahm sie in seinem Haus auf. Die spätere Annäherung seiner Tochter zu dem wesentlich älteren Mann lehnte er ab, konnte sie aber nicht verhindern, da er früh starb. Auch andere in seinem Umfeld sehen Dennis kritisch: Alte Weggefährten fühlen sich als Romanvorlagen missbraucht und einige glauben, dass er seine lyrisch begabte Frau als Muse für sein Schaffen auspresste, bis nichts mehr übrig war. Seine Fans hingegen, wie seine Schwester Rose oder die Doktorandin Amanda, die unbedingt sein Herz gewinnen will, sehen in ihm das Opfer seiner psychisch gestörten Frau, vor der er die Flucht antreten musste.

Wo die Wahrheit genau liegt, bleibt ungewiss. Offensichtlich ist jedenfalls, dass sowohl Marianne als auch Dennis – sei es willentlich oder unbewusst – anderen Menschen einfach nicht guttun. Wie in einem antiken Drama spitzt sich dementsprechend die Lage zu, als sich Edie heimlich aufmacht, um die Mutter aus dem Krankenhaus zu befreien, und Mae in New York immer häufiger in die Rolle von Marianne schlüpft, um dem Vater nahe zu sein und dessen Schreibblockade zu lösen …

Katya Apekinas mitreißende Erzählweise zieht den Leser von Beginn an in den Bann. Nicht nur über unterschiedliche Zeitebenen, sondern auch über eine multiperspektivische Erzählweise kreiert sie in ihrem Coming-of-Age-Roman eine virtuose vielschichtige Collage, aus deren einzelnen Teilen sich nach und nach ein Gesamtbild zusammensetzt.

Während Edie den Löwenanteil des Erzählens übernimmt – sie berichtet im Präsens im Jahr 1997, inmitten der Ereignisse um den Suizidversuch – erzählt Mae als zweite Haupterzählerin im distanzierteren Präteritum rückblickend aus dem Jahr 2012. Da ist sie bereits eine bekannte Künstlerin und nutzt ihre schöpferische Arbeit, um mit der eigenen Geschichte einen Umgang zu finden.

Zudem kommt ein vielstimmiger Chor aus Nebenfiguren zu Wort: Ehemalige Geliebte, Nachbarn, frühere Freunde erzählen ihre Sicht der Dinge, die natürlich stets zutiefst subjektiv geprägt ist. Dennoch bietet das nicht nur stilistische Abwechslung im Erzählstrang. Geschickt nutzt Apekina deren Erinnerungen, zusammen mit Briefen, Tagebucheinträgen und Gedichten aus Dennis’ und Mariannes Hand, um dem Leser auch einiges aus der Vorgeschichte der beiden in den 1960er Jahren zu vermitteln. Zwischen diesen Momentaufnahmen und kurzen Einblicken bleiben aber große weiße Flecken im Gesamtbild. Das Ganze – einschließlich des offenen Endes – zu interpretieren und zu beurteilen, bleibt dem Leser selbst überlassen.

Apekina beweist mit diesem Debütroman, dass sie die Klaviatur der Romankomposition virtuos beherrscht. Man kann sich nur wünschen, dass bald weitere Titel von ihr folgen.

Titelbild

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
396 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429075

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