Ein Blick in die Zukunft – und zurück
Margaret Atwood zeigt in zwei Romanen ihre Stärken
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit dem Namen Margaret Atwood verbindet meine Generation nach wie vor den Roman Report der Magd, dieser einzigartige Blick in eine Zukunft, die wir damals, 1985, in weiter Ferne wähnten und heute, auch nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten eines Besseren belehrt, schon beinahe als „normal“ betrachten. Wie aktuell der Roman ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er nach den US-Wahlen plötzlich an der Spitze der Amazon-Verkaufscharts stand. Mit dazu beigetragen hat die neue Verfilmung von Atwoods Roman – The Handmaid’s Tale stieß in den USA auf große Resonanz. In den wichtigen Feuilletons waren Essays zu lesen, die die Serie ausnahmslos als warnenden Kommentar zur aktuellen politischen Lage des Landes bezeichneten. Atwood selbst beschäftigte sich in einem aktuellen Essay mit der Frage, ob ihr Roman als Prognose zu lesen sei. Sie schreibt: „Nein, es ist eine Antiprognose. Wenn man diese Zukunft so detailgenau beschreiben kann, dann wird sie vielleicht nicht kommen. Aber auch auf solches Wunschdenken kann man sich nicht verlassen.“
Ob auch jene Zukunftsgesellschaft, die Atwood in ihrem neuesten Roman Das Herz kommt zuletzt entwickelt, nie Realität werden wird, sei dahingestellt. Unrealistisch jedenfalls scheint sie nicht. Stan und Charmaine sind ein nettes verliebtes Paar. Als sie sich kennenlernten, war die Welt in Ordnung, sie hatten beide einen Job, der ihnen ein geregeltes Leben ermöglichte. Doch dann werden sie von der Wirtschaftskrise erfasst und alles ist auf einen Schlag anders. Sie verlieren die Arbeit, die Wohnung und müssen fortan auf engstem Raum im Auto leben. Da kommt die Anzeige mit der Aufforderung, ins Positron Project einzutreten, gerade richtig. Das „soziale Experiment“, wie es genannt wird, verspricht alles, was sie sich wünschen: eine Wohnung, eine Arbeit, Geld zum Leben – mit anderen Worten: Sicherheit. Der Preis? Jeweils für einen Monat begeben sie sich freiwillig ins Gefängnis. Denn dieses Leben spielt sich in der streng abgeschotteten Stadt Consilience ab. Hier leben die Bewohnerinnen und Bewohner – Leute wie Stan und Charmaine – einen Monat zusammen in der eigenen Wohnung, einen Monat getrennt voneinander im Gefängnis. Was harmlos klingen mag, bedeutet aber auch, dass sie die Wohnung und die Zellen mit einem anderen Paar teilen. Stan und Charmaine lassen sich trotzdem rasch überzeugen. Da helfen auch die Warnungen von Stans Bruder Conor nicht: „Ich sag dir, was daran falsch ist: Du bist da gefangen, du kommst nur im Sarg wieder raus. […] Das ist nix für dich. Du bist nicht der Typ dafür. Du bist viel zu weich.“ Wie recht Conor hat, wird Stan bald erfahren. Denn selbstverständlich ist es schnell vorbei mit dem angenehmen Leben. Der Zwang, Dinge zu tun, die er sich kaum je vorgestellt hat und die er nie hat tun wollen, überwiegt gegenüber den Vorteilen.
Viel zu spät realisieren Stan und Charmaine, dass sie längst keinen freien Willen mehr haben. Charmaine geht eine wilde sexuelle Beziehung ein. Nie hätte sie geglaubt, zu was sie bereit ist, ja, was ihr alles Lust und Befriedigung bringt. Stan braucht etwas länger, bis sein Widerstand gebrochen ist. Doch auch bei ihm ist es nur eine Frage der Zeit. Als sie realisieren, dass sie Gefangene sind in einem System, das andere für sie ausgeheckt haben, gibt es kein Zurück mehr. Dass sie überleben und ausbrechen, sei hier noch erwähnt – das Wie jedoch soll nicht verraten werden.
Atwood erzählt diese Geschichte in einem rasanten Tempo. Es gelingt ihr, das Positron Project in seiner Konsequenz als völlig einleuchtend, als logisch darzustellen. Es braucht nur diesen ersten (und kleinen) Schritt am Anfang: Sich von einem Leben überzeugen zu lassen, in dem alles geregelt ist, und danach den Vertrag zu unterzeichnen. Das Kleingedruckte genau zu lesen, haben wir sowieso längst verlernt. Stan und Charmaine sind nicht dumm. Sie glauben nur einfach, was ihnen versprochen wird. Wer möchte es ihnen verübeln?
Weniger überzeugend ist ein weiterer Roman von Atwood, Hexensaat, der ebenfalls 2017 herauskam, jedoch bei Knaus in der Reihe „Hogarth Shakespeare“ und nicht im Berlin Verlag, wo die meisten Romane der kanadischen Autorin auf Deutsch erscheinen, die übrigens mit dem diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. Erzählt wird die Geschichte des Theaterregisseurs Felix, der Shakespeares Der Sturm auf die Bühne bringen will, jedoch von zwei intriganten Konkurrenten ausgetrickst wird. Er zieht sich zurück, hängt den Erinnerungen an seine früh verstorbene Tochter Miranda nach, die für ihn zunehmend lebendig und real wird, und gelobt Rache. Eine Chance, es den beiden heimzuzahlen, bekommt Felix, als er erfährt, dass „ein Lehrer des auf Highschoolniveau angesiedelten Programms Bildung-durch-Literatur in der nahegelegenen Justizvollzugsanstalt von Fletcher County plötzlich erkrankt [war] – an einer tödlichen Krankheit, wie sich herausstellte –, und es musste kurzfristig Ersatz gefunden werden“. Felix bewirbt sich, unter einem Pseudonym, um nicht erkannt zu werden, und bekommt die Stelle. Er ist erfolgreich, findet rasch Zugang zu den Häftlingen, und nach mehreren anerkannten Inszenierungen von Shakespeare-Stücken wagt er sich endlich an den Sturm – sein Stück also, findet er doch hier und in der Figur des Prospero sozusagen sein wahres Ich.
Überzeugend in diesem Roman sind die Kapitel, in denen es um Felix’ Arbeit mit den Insassen geht, darin gelingt es Atwood einmal mehr, funktionierende geschlossene Systeme glaubwürdig zu zeichnen – hier jedoch mit durchaus positiven Auswirkungen auf die inhaftierten Männer. Sie profitieren von den großen Qualitäten des Theatermachers, werden als Personen geschätzt und laufen zu Hochleistungen auf. Hingegen bleibt Felix als Figur schwach. Dieser Mann, der sich in seinen Rachegefühlen verstrickt, bleibt seltsam papieren, leblos. Und seine Überzeugung, dass seine Tochter lebt und ihn auf allen seinen Wegen begleitet beziehungsweise zu Hause auf ihn wartet, irritiert zunehmend und wirkt aufgesetzt.
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