Aufklärung der Dialektik

Die Edition „Vorträge 1949-1968“ zeigt Adorno außerhalb des Elfenbeinturms

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts sei „weniger zu erwarten als ein geformter Text“, bemerkte Adorno selbst zu dem Abdruck von einem seiner Vorträge. Entscheidend sei für ihn als Autor vielmehr die „Differenz zwischen dem, was er schreibt und was lediglich den Anforderungen des Gegenstandes gehorcht, und dem gesprochenen Wort, das auf Kommunikation abzielt“. Der von Michael Schwarz herausgegebene erste Band der fünften Abteilung seiner Nachgelassenen Schriften enthält 20 dieser Vorträge, in welchen Adorno nahezu alle in publizierten Texten behandelten Themen bespricht. Der Unterschied in der Darstellung fällt jedoch unmittelbar auf: Während das Geschriebene die wiederholte Lektüre ohne Berücksichtigung der Lesenden einfordert, erläutert das Gesprochene beständig sich selbst. Das eine will verstehen, das andere verstanden werden. Zumeist wollen die Vorträge einleiten – in die Neue Musik, Kritische Theorie der Gesellschaft oder in die Literatur. Nicht allein das Themenspektrum beeindruckt, sondern insbesondere wie Adorno es vermag, hochkomplexe Probleme so zu verhandeln, dass sie selbst einem Laienpublikum verständlich werden.

Im Rahmen des Studium Generale, der Hochschulwochen „für staatswissenschaftliche Fortbildung“, auf Einladung von Studierendenverbänden oder auch örtlichen Deutsch-Amerikanischen Instituten und Volkshochschulen beschäftigte sich Adorno besonders häufig mit der Bildung selbst – musikalischer, politischer, aber auch akademischer. Paradigmatisch sind seine Überlegungen zur „Einheit von Forschung und Lehre“. Die Lehre könne nicht im luftleeren Raum stattfinden, vielmehr sei es notwendig, „auf das Bewußtsein der uns anvertrauten akademischen Jugend [zu] rekurrieren“. Das wiederum könne jedoch nicht meinen, „ihnen nach dem Munde [zu] reden und […] ihnen sozusagen ein[zu]reden […], daß man besser Handschuhe verkaufen kann, wenn man eine Hölderlin-Ode interpretieren kann“. Es geht darum, weder der „Ideologie der Bildung“ noch dem Ideologischen des Humboldtschen Ideals anzuhängen, dass die „Einheit von Forschung und Lehre unmittelbar im Bildungswesen zu verwirklichen sei und nicht vermittelt durch die Gesamtgesellschaft“. Eine Konsequenz ist Adornos eigene Vortragspraxis. Fernab vom Elfenbeinturm und resignierendem Kulturpessimismus erscheint Adorno hier als Aufklärer in der Öffentlichkeit, der immer wieder seine eigenen Überlegungen zur Diskussion stellt und sie häufig erst im öffentlichen Vortrag entwickelt. Vieles Gesprochene wurde später zu Texten umgearbeitet oder die darin entwickelten Überlegungen fanden Eingang in die Negative Dialektik oder die Ästhetische Theorie.

Gemeinsam mit der vierten Abteilung, welche die Vorlesungen in transkribierter Form zugänglich macht, ergänzt der Band die Ausgabe der Gesammelten Schriften. Dass Adorno aber „mehr Hörer als Leser“ (Michael Schwarz) hatte, seine öffentliche Wirkung also auch – wenn nicht gar mehr – auf sein gesprochenes Wort zurückzuführen ist, kann nicht ermessen, wer allein die Gesammelten Schriften liest. Es ist nur folgerichtig, dass die Ausgabe der Nachgelassenen Schriften diese Lücke zu schließen beabsichtigt.

Die Edition der Vorträge zeigt aber auch philologische Grenzen; birgt der Band doch nur die Vorträge, die nicht zu einem von Adorno selbst publizierten Text umgearbeitet wurden. Das ermöglicht, Adorno als außeruniversitär Engagierten zu zeigen, indem die sonst fehlenden Texte zugänglich gemacht werden. Eine philologische Auseinandersetzung mit der Entwicklung seiner Gedanken und der Umarbeitung der Vorträge hingegen fehlt. Die Produktivität einer Offenlegung verschiedener Arbeitsstufen – und auch eines Vergleichs der schriftlichen und mündlichen Denkarbeit – zeigt sich beispielsweise an zwei Versionen des Textes zur Kritik des Musikanten, auf die Michael Schwarz hinweist: Ist im gedruckten Text die Rede von der „Boxfreudigkeit“ der kritisierten Jugendmusikbewegung, spricht Adorno in der dem Druck vorangegangenen Aufnahme für den Süddeutschen Rundfunk von ihrem „Kryptofaschismus“. Mag das als anekdotische Marginalie erscheinen, verdeutlicht es die Spontaneität der Mündlichkeit. Die Vortragssituation erlaubt das Eingehen auf konkretes Vorwissen, sich zeigendes Unverständnis, und kann sich in härtere Formulierungen versteigen. Keineswegs ist demnach zu vernachlässigen, in welchem Rahmen ein Vortrag gehalten wurde. Die Nachgelassenen Schriften samt des vorliegenden Bandes ergänzen zwar die Gesammelten, erfüllen aber nicht die Aufgabe einer historisch-kritischen Edition. Wie der Herausgeber Michael Schwarz in einem Aufsatz betont, ist der zentrale Anspruch, die Mündlichkeit Kritischer Theorie sichtbar zu machen. Im Vordergrund steht also der durchaus berechtigte Gedanke, die historisch-gesellschaftliche Wirksamkeit der Vortragstätigkeit Adornos in Radio, Konzerteinführungen und zu Hochschulwochen mit Erforschung der Kritischen Theorie zu erschließen. Dieses Vorhaben ist gelungen. 

Adorno ist kein toter Hund, wie auch Marx schon in Bezug auf Hegel und der wiederum mit Blick auf Spinoza insistierte. Dies zeigte sich zuletzt an der öffentlichen Debatte um Adornos Vortrag zu den Aspekten des neuen Rechtsradikalismus, der zunächst einzeln im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde und in diesem Band ebenso abgedruckt ist. Äußerst hellsichtig weist Adorno darin auf den Fortbestand der „gesellschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus“ hin, wobei er vor allem an die „Konzentrationstendenz des Kapitals“ denke, welche die „Möglichkeit der permanenten Deklassierung von Schichten [birgt], die ihrem subjektiven Klassenbewußtsein nach durchaus bürgerlich waren, die ihre Privilegien, ihren sozialen Status festhalten möchten“. Einerseits verwinden sie den eigenen sozialen Abstieg oder die Angst davor mit einer aus Schuldverschiebung resultierenden Tendenz zu Hass auf Anderes. Andererseits bestätigen sie die eigene Identität in Gestalt des Nationalismus. Dabei zeigt sich die Möglichkeit der Mündlichkeit, auf die Zuhörerschaft einzugehen. So kann Adorno beim Verband Sozialistischer Studenten Österreichs auf das Verständnis marxistischen Vokabulars zählen, während er dieses in Vorträgen bei Hochschulwochen umschreibt und erklärt. Können die Vorträge zu Recht Relevanz beanspruchen, zeigt sich hier jedoch auch, dass sie keineswegs unmittelbar aktuell sind. Neigte der neue Rechtsradikalismus in den 1960er-Jahren Adorno zufolge zu Hass auf den realen Sozialismus des Ostblocks, hat diese Tendenz – sofern sie noch wesentliches Charaktermerkmal des Rechtsradikalismus ist – angesichts einer veränderten gesellschaftlich-politischen Lage zumindest ihre Gestalt ändern müssen. 

Ihre Aktualität beweisen die Vorträge nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihren theoretischen Anspruch. Treffen die sachlichen Einführungen zu Proust und Debussy wie die ideologiekritischen Überlegungen zur Einheit von Forschung und Lehre in der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts auch inhaltlich noch immer zu, so ist ihre gesellschaftliche Orientierung – denn auch sie sind nur in einem strengen Sinn vermittels ihres gesellschaftlichen Moments wahr – Grund dafür, dass die Vorträge, um aktuell zu sein, weitergedacht werden müssen. Dass Adorno sich so mit seinen Überlegungen bei den Hessischen Hochschulwochen gegen die realistische Tendenz zur Arbeitsmarktanpassung der Lehre wendete und dabei auf das bürgerliche Bildungsideal rekurrierte, zeigt, wie das Gedachte auf das Gesellschaftliche hin orientiert ist: Keine losgelöste Diskussion, sondern eingreifendes Denken. Die Aktualität besteht gerade in dessen Anspruch – angesichts der Möglichkeit der Barbarei – an wirklicher Aufklärung als gesellschaftlichem Projekt mitzuwirken.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Theodor W. Adorno: Vorträge 1949-1968. Nachgelassene Schriften. Abteilung V: Vorträge und Gespräche.
Herausgegeben von Michael Schwarz.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
786 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587317

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