Das Zufällig-Schicksalhafte phänomenologisch betrachtet

Erstmals vollständig auf Deutsch: „Das rote Notizbuch“ von Paul Auster, ein Band voller „wahrer Geschichten“, in denen der Zufall Regie führt

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf Deutsch ist Paul Austers The Red Note Book bereits schon einmal erschienen: 1996. Erst jetzt aber liegt Das rote Notizbuch vollständig in deutscher, von Werner Schmitz besorgter Übersetzung vor, erweitert um die drei Teile, die in der deutschen Erstausgabe fehlten: „Warum schreiben“, „Unfallbericht“ und „It don’t mean a thing“. Der graue Band mit bibliophiler Ausstattung – Prägeschrift auf dem Cover, Lesebändchen, farbiges Vorsatzpapier – ist vielleicht prototypisch für so etwas wie „reine Prosa“: sprachlich schnörkellos, uneitel und ohne jede Attitüde, formal einfach und klar, voll und ganz konzentriert auf das Ereignis, das sprachlich eingefangen wird.

Nichts schiebt sich in diesem Band zwischen dieses pure, bloße erzählte Ereignis und die Lesenden – weder sprachliche Ausschmückungen noch anekdotische Abschweifungen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, sodass das rund 100 Seiten umfassende Büchlein daher zunächst vor allem äußerst leicht und schnell zu lesen ist. Dass es trotzdem keine banale Lektüre bleibt, das Erzählte Nachhall erzeugt, liegt eben an den Ereignissen, die in dieser einfachen, zweckmäßigen Prosa eingefangen werden: Das rote Notizbuch versammelt „wahre Geschichten“, die sich in Austers Leben oder im Leben seiner Bekannten und Freunde zugetragen haben, in denen erstaunliche Zufälle und außergewöhnliche Koinzidenzen die Hauptrolle spielen: ein überraschender Übernachtungsgast, der mit seinem Auftauchen den jungen Auster just zu dem Zeitpunkt rettet, als er, finanziell völlig ausgebrannt auf einem Landhaus in Frankreich, glaubt verhungern zu müssen und seine allerletzte Mahlzeit, einen Zwiebelkuchen, auch noch verbrennen lässt; zwei Männer, die über die Verbindung ihrer Kinder Jahre nach Kriegsende entdecken, dass sie einst im Gefangenenlager als Aufseher und Inhaftierter auf unterschiedlicher Seite gestanden haben, inzwischen aber die Sorge um die gemeinsamen Enkelkinder freundschaftlich teilen; Schulden, die für schlaflose Nächte sorgen und ausgerechnet durch einen Unfall gedeckt werden können, weil der Kostenvoranschlag für die dann nicht durchgeführte Reparatur am Auto sie auf den Dollar genau deckt; eine Anwaltskanzlei mit Namen Argue & Phibbs, zu Deutsch „Streiten & Flunkern“; ein schier unauffindbares Buch, das einem passionierten Leser just in den Händen einer Frau begegnet, die es in diesem Moment ausgelesen hat und ihm spontan schenkt.

Zuweilen führen in diesen kurzen Geschichten vermeintlich schlimme Ereignisse zu überraschend Gutem, manchmal entfalten gegen jede Wahrscheinlichkeit sprechende Entdeckungen und Parallelen ihre verblüffende Wirkung. Alle Erzählungen rücken die Frage nach Schicksal oder Zufall, höhere Vorhersehung oder banale Koinzidenz in den Fokus der Lesenden und lassen grübeln über die Macht der eigenen Gedanken und die Art und Weise, wie wir Realität konstruieren.

Wer Austers Werk kennt, wird Das rote Notizbuch als Folie für sein fiktionales Werk nehmen, in dem dem Zufall ebenfalls eine ganz zentrale Bedeutung zukommt. Und in der Tat mag der Band wenigstens zu einem kleinen Teil erklären, woher Austers Faszination für Zufälle und Koinzidenzen aller Art kommt: nämlich tatsächlich aus seinem eigenen Erleben. Wie in seinen Romanen ist auch Das rote Notizbuch keine essayistische, erörternde Auseinandersetzung mit dem Phänomen, die nach dem Warum oder Woher fahnden würde, sondern konzentriert sich ganz auf die phänomenologische Beschreibung des Zufällig-Schicksalhaftem an sich. Was im Vergleich zu den Romanen wegfällt, ist die symbolische Aufladung dieser Zufälle, ihre bei Auster stets äußerst kunstvolle Anordnung, ihrer Inszenierung innerhalb eines Romangeschehens, als auslösendes Moment oder vorantreibendes Motiv für die Handlung. Und so gibt Das rote Notizbuch in gewisser Weise Einblick in Austers Gedankenwerkstatt: Es zeigt etwas vom rohdiamantenen Material, aus dem er seine fiktionalen Erzählungen mit der ihnen eigenen Sogwirkung spinnt. Zugleich ist es Zeugnis der Besessenheit und der Faszination des Autors für sein „Material“ – und auch seiner Bescheidenheit als Schreibender, der sich sprachlich stets zurücknimmt und ganz der Macht der puren Erzählung vertraut.

Titelbild

Paul Auster: Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
106 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783498074029

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