Autofiktion als Akt der Aufklärung

Über das schöne Spiel mit Sprache in den Geisteswissenschaften

Von Jonas GröningerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Gröninger

Die strikte Trennung zwischen Autor:in und Erzähler:in (lyrischem Ich, Figur, dramatis personae), zwischen Realität und Literatur, Fakt und Fiktion, und auf einer Metaebene zwischen Wissenschaftler:in und literarischem Werk beziehungsweise zwischen wissenschaftlichem und poetischem Schreiben, gilt bis heute als unhintergehbares Axiom literaturwissenschaftlicher Forschung. Dieses Selbstverständnis wurzelt im Primat der Rationalität als Leitprinzip des Systems Wissenschaft, genauer im unbedingten Festhalten am Ideal einer von Affekten, Uneindeutigkeiten und Unbestimmtheiten bereinigten, maximal vernunftmäßigen Geisteswissenschaft. Von daher haben wir es mit einer einseitigen wissenschaftlichen Schreibkultur zu tun, die seit der Frühaufklärung die strikte Trennung von Wissen und Erfahrung als den Goldstandard ihrer Produktion postuliert; Wissenschaft in der Poesie ist legitim, Poesie in der Wissenschaft nicht. Wissenschaftliches Schreiben zielt demnach auf die klare Differenz zwischen rationaler Erkenntnis und affektivem, sprachlosem Instinkt, zwischen erkenntniserhellendem und poetisch verschleierndem Stil. Im Bereich der Literaturwissenschaft resultiert insbesondere für Qualifikationsschriften jeglichen Levels ein normatives Apriori, nämlich die eindeutige Formulierung plausibler, diskursiv und kontextuell begründeter, kausallogischer Deutungsangebote zu kulturellen Artefakten unter strikter Vermeidung von poetischen Spielereien, Metaphern, Leerstellen, Mehrdeutigkeiten, sowie auf struktureller Ebene eine lineare und kausal-logozentrische Argumentationsstruktur. Auf der Mikroebene der Darstellung und Gliederung wären dies beispielsweise durchlaufende Kapitelnummerierungen, deren schöne Eindeutigkeit in Form von Zahlen und Punkten (1.2.1) empirische Evidenz verspricht. Die Biografie der Autor:in hat in einer Qualifikationsschrift daher schlicht nichts verloren – Wissenschaftler:innen schreiben geordnet und eindeutig über die Ordnungen und Unordnungen oder über die Eindeutigkeiten und Zweideutigkeiten in fiktionalen Welten (Literatur, Film, Kunst). Nie aber schreiben sie über sich selbst, in dem Bewusstsein, dass man es bei den behandelten literarischen Werken mit bloßer und zudem fremder Fiktion, mit den Erfindungen der Anderen zu tun hat. Die Signatur eines solchen Selbstverständnisses, des geisteswissenschaftlichen othering, ist das ‚Ich-Verbot‘ für Qualifikationsarbeiten. Ein Ich in einer Hausarbeit, einer Dissertation oder einer Habilitationsschrift ist ein Tabu, das im Wissenschaftsbetrieb in der Regel eingehalten wird. Die Grenze zwischen Werk und Ich wird nicht überschritten. Gleiches gilt für die Einhaltung der Gattungsgrenzen: Rezensionen oder Aufsätze dürfen keine essayistischen Passagen enthalten; sie werden von Gattungsgrenzschützer:innen rigide herausredigiert. Und je mehr ein peer reviewed Journal auf sich hält, desto strikter werden die Prinzipien wissenschaftlicher Regelpoetik auch durchgesetzt. Weiter wäre da noch das Identifikationsverbot: Unter keinen Umständen darf die emotionale Nähe der Wissenschaftler:in zu ihrem Gegenstand, etwa einer Figur, einem Bild, einer Epoche oder einer Thematik, im wissenschaftlichen Text durchscheinen. Wir identifizieren uns nicht mit unseren Studienobjekten, wir wahren gebührenden Abstand zu fiktionalen Ereignissen. Wir benutzen Begriffe wie Skalpelle, um mit dem kühlen analytischen Blick der Chirurg:innen in den Tiefenschichten der Textkörper unserer Autor:innen herumzustöbern und dadurch philologisch abgesicherte Erkenntnisse zu Tage zu fördern. Erst recht entwickeln wir keine Bindung, keine Gefühle, vor allem kein Mitleid mit den Künstler:innen oder ihren Schöpfungen, denn wir sind rationale Wissenschaftler:innen. Wollen wir unserem Ansehen nicht schaden und uns nicht die Karriere verbauen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns dem selbst auferlegten strukturalistischen Gesetzestext des Wissenschaftsbetriebs, den vernunftgemäßen Maximen öffentlichkeitstauglicher Wissenschaftskommunikation, zu unterwerfen. Die klare binäre Grenzlinie zwischen Ich und Gegenstand, das paradigmatische Denk-, Schreib- und Forschungsgesetz des Wissenschaftsbetriebs, wird akzeptiert und rigide eingehalten. Ja, es wird, so die These dieses Essays, permanent eingehalten, jedoch nur, um es zugleich subtil zu unterlaufen. Genau genommen besteht das Motiv solcher Selbstverleugnung und Unterwerfung darin, im Rahmen des Gestatteten die Gesetze des wissenschaftlichen Schreibens poetisch auszubeuten, dienstbar zu machen, mit einem nicht geringen Gewinn für die eigene wissenschaftliche und persönliche Sinnstiftung. Um Missverständnissen von vornherein vorzubeugen: Das faktual orientierte, rationale, distanzierte, emotionslose Schreiben hat einen hohen ethischen Wert und ist absolut unabdingbar. Die folgenden Überlegungen zu dekonstruktivistischen Strömungen im Diskurs der Literaturwissenschaft zielen keinesfalls auf eine Abschaffung rationalistischer, strukturalistischer Schreibtechniken. Vielmehr sollen meine – bewusst schutzsuchend im Rahmen der Gattung Essay vorgebrachten – Beobachtungen und Fragen im Folgenden dazu anregen, weitere Forschungen zum Thema Autofiktion in der geisteswissenschaftlichen Schriftproduktion zu initiieren. Dies könnte in Gestalt weiterer Essays zum Thema geschehen, oder womöglich sogar grenzüberschreitend in Gestalt von wissenschaftlichen Aufsätzen. Sodann würden in Zukunft die folgenden Überlegungen zur unausgesprochenen Allgegenwart poststrukturalistischer und poetischer Schreibpraktiken wiederum zum Gegenstand strukturaler öffentlicher Analytik oder vor allem nicht-öffentlicher Kommunikation gemacht werden können.

Worum geht es: Aus meiner Sicht kann von einer klaren und eindeutigen Trennung zwischen Medien-, Film- und Literaturwissenschaftler:innen als Personen (ihren Erfahrungen, Erkenntnissen, Gefühlen und psychischen Konstituenten) sowie den Künstler:innen und ihren Werken, welche die Wissenschaftler:innen zum Gegenstand ihrer Forschung machen, in vielen Fällen kaum die Rede sein. Vielmehr schreiben sich Wissenschaftler:innen selbst in ihre Texte ein, in ihre Aufsätze, Editionen, Monographien, Qualifikationsarbeiten. Nur tun sie es, verständlicherweise, mehr oder weniger verdeckt, aus Selbstschutz, aber ebenso als notwendige Anpassung an die rationalistischen Regularien des Wissenschaftsdiskurses.

Zunächst ein Seitenblick auf den Gegenstand von Literaturwissenschaft, die Literatur und die Autor:innen. Über Jahrzehnte schrieb die geniale Poetin Anna Louisa Karsch (1722–1791) zärtliche Briefe und Gedichte an den Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Wer sich diesen außergewöhnlichen Schriftverkehr genauer anschaut, wird feststellen, dass eine strikte binäre Trennung zwischen Leben und Werk, Brief und Gedicht, empirischem Körper und Textkörper, kaum aufrechterhalten werden kann. In als hocherotisch zu bezeichnenden Schreibakten verschenkte sich die Karschin als Person, mit ihrer Schrift auf Papier, an den geliebten, sexuell wahrscheinlich non-binär orientierten Gleim. Dieser schien von der schieren intellektuellen Brillanz wie emotionalen Wucht dieser lyrischen Gaben gelegentlich überfordert, gleichwohl schrieb er sich zurück. Ein grenzüberschreitendes Spiel mit der Gattung, ein Wechsel zwischen prosaischer Wahrheit und lyrischer Erfindung, ist auch innerhalb der jeweiligen poetischen Sendungen der Karschin beobachtbar. So gleitet in Karschs Briefen gelegentlich die Prosa in Lyrik über, bevor sie sich in eine vergleichsweise konventionelle Abschiedsformel zurückordnet. Für diese Texte lässt sich kaum entscheiden, ob sie dem lyrischen Werk oder dem Briefwerk zuzuordnen sind. Bei Karsch, und nicht nur bei ihr, verschwimmen die Textsortengrenzen – Brief oder Gedicht, die Texte sind autofiktional und non-binär, in sich selbst und im Verhältnis zueinander. Zudem nehmen sowohl die Karschin wie auch Gleim die Lyrik der anderen als Spiegel ihres eigenen dichterischen und realen Selbst wahr. Und auch die historische Dimension eines solchen Verschreibens des Selbst wird von beiden, Karsch wie Gleim, ausgeschöpft. Beide schreiben sich selbst als mythische Figuren fort und zugleich neu; die Karschin schlüpft in ihren Briefen und Gedichten häufig in die Rolle der antiken Sappho, und auch Gleim lebt seine heikle Identität in den Deutungs- und Verwandlungsangeboten der griechischen Götterwelt aus, worin er sich zugleich versteckt und entlarvt. So, und nur in diesem Prozess, sind die beiden Dichter zugleich sie selbst und Metamorphosen der Kulturgeschichte, und darin werden sie unsterblich. Gemeinsam produzieren sie in ihren Briefen und Dichtungen einen einfachen, einen doppelten und einen dreifachen Schriftsinn, welcher tatsächlich bis ins Unendliche zu weisen scheint. Sie ordnen ihre imaginäre Welt metaphorisch neu, legen ihre Leben in ihre Dichtung, wiederholen sich und erschaffen sich in Gestalt ihrer Figuren Alter-Egos. Die Grenze zwischen den empirischen Autor:innen, ihren lyrischen Ichs als den Produkten ihrer dichterischen Einbildungskraft und den von ihnen erwählten mythologischen Vorbildern – wer wollte und wer dürfte es wagen oder gar fordern, diesbezüglich klare Grenzen zu ziehen? Es ist der Schwebezustand, das Schwirren zwischen Bestimmbarem und Unbestimmtem, Eindeutigem und Mehrdeutigem, zwischen Biographie, Fiktion und Autofiktion, in den Zeichen, was die poetische Korrespondenz zwischen Karsch und Gleim ausmacht. Wahrscheinlich neigen alle berühmten Liebesbriefwechsel der Geistesgeschichte zu solch poststrukturalistischen grenzüberschreitenden Zeichenexzessen. Letztlich handelt es sich bei den Schreibprodukten von Karsch und Gleim aber um Formen von Autofiktion, wie man sie dann bei Thomas Mann und Annie Ernaux in radikalisierter und deutlich riskanterer Form vorfindet. Dichter:innen scheinen diesbezüglich handwerklich im Vorteil, weil sie nicht nur den Schriftverkehr genießen, sondern weil sie zugleich die Schönheit ihrer gegenseitigen linguistischen, graphemischen und phonetischen Verschreibungen rational reflektieren und dadurch einen doppelten, emotionalen wie intellektuellen Lustgewinn verzeichnen können.

Auch viele Geistes- und insbesondere Literaturwissenschaftler:innen schreiben zugleich über den ANDEREN und sich selbst. Sie nutzen den Freiraum, über den fremden Text oder Film zu schreiben, um über sich selbst zu schreiben. Wissenschaftler:innen unterwerfen sich dem Tabu, dem Gebot des Nicht-Ich-Sagens, aber sie spielen dabei genau dasjenige poetische Spiel mit Metaphern, Andeutungen, Zweideutigkeiten, Motivadaptionen, intertextuellen Verweisen, welches die Dichter:innen immer schon gespielt haben. Sie verbergen, verzerren, verrätseln und verblümen sich in ihren Schriften, ebenso sehr, wie sie sich für diejenigen Leser:innen, die ihre eigene wissenschaftliche Sprache sprechen, zugleich entblößen, spiegeln, entzerren, dechiffrieren und erfahrbar machen. Jede hochkarätige wissenschaftliche Qualifikationsschrift scheint Spuren und Grundzüge einer solchen Arbeit an der Autofiktion im Gewand der Wissenschaftlichkeit zumindest erahnen zu lassen. Meiner vollständig subjektiven und empirisch nicht abzusichernden, rein spekulativen Vermutung nach, lassen sich 90 Prozent aller anspruchsvollen Qualifikationsschriften in den Geisteswissenschaften auch als mehr oder wenig deutliche autofiktionale Produktionen lesen. Meinem Verdacht nach, korreliert die Länge der Publikationsliste mit der Tiefe eines wissenschaftlich bearbeiteten Traums oder Traumas. Viele Kolleg:innen ahnen das, aber niemand spricht darüber; man kann sich jederzeit an den ersten Schriftsinn der wissenschaftlichen Publikation halten und den doppelten Schriftsinn ignorieren.

Neben Erfahrungen, Wissensbeständen und Überzeugungen fließen Erinnerungen, Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche in solche Arbeiten ein; allein schon, was die Auswahl der jeweiligen Forschungsgegenstände betrifft. Insofern gilt natürlich das in der Narratologie viel diskutierte Prinzip der experientiality nicht nur für Romane oder Filme, sondern auch für wissenschaftliche Schriften. Dies sollte selbst für hochabstrakte, theoretische Arbeiten gelten, welche ein haarspalterisches Feilen an Begriffen und Modellen praktizieren. Meiner Vermutung nach toben gerade reine Theoretiker – überdurchschnittlich häufig männlichen Geschlechts – ihr rationalistisches Selbst in ihren Schriften aus, befreit von den womöglich unerfüllbaren Anforderungen an affektives Kommunikationsverhalten in der Realwelt. Auch der literaturwissenschaftliche Text ließe sich somit in Teilen als Textkörper oder als Prothese des Selbst in wissenschaftlicher Gestalt deuten; die Studien schwimmen gleichsam in einem beweglichen Meer intertextuellen und metaphorischen geisteswissenschaftlichen Schriftverkehrs. Es gibt keinen Gegenstand, kein Forschungsfeld, keine Epoche, keine Gattung, keine Theorie, die grundsätzlich nicht für autofiktionales wissenschaftliches Schreiben geeignet wäre. In einem Prozess massiver Projektionen arbeiten nicht nur die Künstler:innen in ihren Kunstwerken an einer Verwandlung ihrer selbst, sondern eben auch viele Geisteswissenschaftler:innen. Die brillante rationale Schlagkraft vieler Studien geht geradezu Hand in Hand mit einer nicht nur intellektuellen, sondern auch emotionalen Sogwirkung von biographisch und poetisch unterwanderter Wissenschaftssprache. Die Wucht der Wirkung bedeutender wissenschaftlicher Bücher resultiert meiner Ansicht nach daraus, dass die akribische intellektuelle Determination von einer wie auch immer gearteten persönlichen Motivation getragen und beflügelt wurde. Die wissenschaftliche Qualifikationsarbeit verbirgt jedoch zugleich ihre biographischen Beziehungen immer wieder im Gewand von kalter und eindeutiger Wissenschaftssprache – und das ist auch gut so, denn wer will schon als Person erkannt, identifiziert werden, wer will von Fremden, von fremden Leserinnen und Lesern, Aufklärung über sich selbst?

Nun darf man sich diesen Prozess erfahrungsbasierten wissenschaftlichen Schreibens natürlich nicht als Abbildverhältnis vorstellen. Die Publikationen der Wissenschaftler:innen bilden ihre Leben via ihrer Forschungsgegenstände nicht fotographisch ab. Es handelt sich eher um metaisierte Produkte im Sinne eines poetischen Realismus, versetzt mit phantastischen Elementen. Die Literaturwissenschaftlerin oder der Literaturwissenschaftler verteilt ihre oder seine aktuelle und vergangene Identität auf verschiedene Werke, Autor:innen, Themen und Figuren (auch Fabelwesen, auch anderen Geschlechts). Auf diese Weise sind immer nur Splitter der jeweils seelischen Signatur in den Schriften auslesbar; die wissenschaftliche Persona, das Individuum als Einheit, so es sie denn gibt, bleibt flüchtig und ungreifbar. Fragmentarisch baut sie oder er sich eine Autofiktion, die aber zugleich stets AUTOPIE ist. Denn in den Schreibprodukten verhandelt die/der Wissenschaftler:in stets utopische Selbstentwürfe, das heißt imaginäre oder projizierte, in der empirischen Wirklichkeit des Wissenschaftler:innenlebens nicht realisierte, nicht selten tabuisierte Existenzen, die dann in den Studien gewissermaßen ein paralleles Dasein auf Probe führen können. In literaturwissenschaftlichen Qualifikationsschriften werden insofern, genau wie in der Literatur selbst, Problemlagen und Konflikte verhandelt. Wie Literaturgeschichte als Problemgeschichte betrachtet werden kann, so kann auch die literaturwissenschaftliche Schrift als eine Art Problemgeschichtsschreibung fungieren. Die Studie kann dann potenziell Lösungs- und Bewältigungsmedium sein – eine Utopie oder ein Modell, welches sogar gelegentlich in die Wirklichkeit hineinwirkt. Es handelt sich demnach um einen rückkoppelnden, in höchstem Maße selbstreflexiven Prozess zwischen wissenschaftlichem Schreiben und real gelebtem Leben der Wissenschaftler:innen. Es gibt Fälle, da zeitigt das Studium literarischer Werke direkte Wirkung auf das Leben, da greift die Fiktion in die Biographie ein, lenkt sie um, schreibt sie um oder schreibt sie mit. Dies kann in einem schöpferisch selbstrettenden, sich selbst neu deutenden Sinne geschehen; umgekehrt kann die dauerhafte Lektüre und Erforschung bestimmter Kunstwerke aber auch zerstörerische Selbstbilder von Wissenschaftler:innen zementieren, also eine Weiterentwicklung des Forscher:innen-Ichs, mit und durch Wissenschaft, aufhalten oder gar verhindern. Lebenslänglich eine Beziehung mit Kafka zu führen, stelle ich mir schwierig vor. Man verliebt und entliebt sich in Dichter:innen oder Fabelwesen; man sucht sich neue Philosoph:innen, wenn man sie ausgelesen hat. Biedermeier ist nicht jedermanns Geschmack, aber um Aufklärung kommt man auch im 21. Jahrhundert kaum herum. Manche Dichter:innen freilich lassen einen lebenslang nicht los. In jedem Fall verschwimmt die Grenze zwischen Wissenschaftler:in und Kunstwerk deutlich. Für die Leser:innen, meist handelt es sich um einen eher begrenzten Spezialist:innen-Kreis, lässt sich dann kaum mehr festlegen, was biographisch ‚real‘ und was autopische Projektion ist. Damit schützt die stets zugleich rational analysierte Literatur die Selbstportraits der Wissenschaftler:in, denn sie oder er wird niemals eindeutig identifizierbar oder auf eine Bedeutung, ein Thema oder eine Figur reduzierbar sein. Dennoch sind viele Qualifikationsarbeiten dieser Art wohl grundsätzlich als Lebensbücher zu verstehen, jedoch nicht in einem reduktionistisch mimetischen, sondern in einem vielschichtigen und öffnenden Sinne, der zwischen Wahrheit und Selbsterfindung innerhalb des Selbst- beziehungsweise Fremdstudiums schwebt. An diesem Punkt nochmals ein exemplarischer Seitenblick auf das dem Leben und Schreiben der Literaturwissenschaftler:innen vergleichbare Verfahren poetischer Lebensverdichtung seitens der Dicher:innen: Ich bin der Überzeugung, dass viele literarische Figuren ‚autopische‘ Selbstentwürfe unausgelebter Identitätsfacetten ihrer Erfinder:innen sind. Meiner Auffassung nach hatten beispielsweise sowohl Friedrich Schiller wie auch Theodor Fontane eine non-binäre Veranlagung, eine Art weibliches Selbst/Alter Ego, welches sie nur in ihren Frauenfiguren ausleben konnten und durften. Sie realisieren ihre nicht lebbare Identitätsfacette in ihren Werken. Anders scheint mir der krasse psychologisierte Eklektizismus von Schillers Dramen, und seinen Frauenfiguren, kaum erklärbar. Aus den biografischen Fakten und Eckdaten vieler Dichter:innen lässt sich eine hochgradig identifikatorische Art des Schreibens von Männern über Frauen oder Frauen über Männer aus meiner Sicht vielfach nicht plausibel erklären.

Zurück zu den Geisteswissenschaftler:innen: Welche Motivation, welcher Antrieb steht hinter solchen, wenn man so will, selbsttherapeutischen geisteswissenschaftlichen Studien? Warum sollten Wissenschaftler:innen sich einen literarischen Gegenstand auch nur wählen, unendlich viel Zeit mit einem Kunstwerk, einer Figur, einem Thema, einer Theorie, einer Sprache verbringen, wenn sie keinen rational und emotional gearteten inneren Zugang dazu und kein persönliches Interesse daran hätten? Ich bin überzeugt, dass selbst Finanzberater:innen, die das Geld anderer Leute erfolgreich investieren, ein gewisses intrinsisches Vergnügen aus ihrer Tätigkeit ziehen. Wie muss es dann also erst um Philolog:innen stehen, die sich ganz offiziell mit künstlerischen Menschenschicksalen befassen? Gerade weil die Arbeitsverhältnisse an Universitäten so prekär sind, spricht einiges dafür, dass diejenigen, die es in die Geisteswissenschaften zieht und dort hält, eine solche Entscheidung nicht (nur) aus rationalen geschweige denn ökonomischen Gründen treffen. Allerdings dürfte der eine oder andere wohl im Verlauf seiner Karriere eine gewisse Müdigkeit, ein Ruhebedürfnis entwickeln. Und doch haben die meisten Geisteswissenschaftler:innen einen erstaunlich ausdauernden Bedarf an Schriftproduktion. Die Publikationslisten werden immer länger, die Sammelbände immer wohlbeleibter, denn wie sich die Wissenschaftler:innen im realen Leben weiterentwickeln, suchen sie sich neue Gegenstände der Selbstverhandlung, die ihnen zu Spiegelbildern äußerer Erfahrungen in literatur-, kultur-, oder medienhistorischen Dimensionen werden können; sie verlieben sich in neue Figuren, Bilder, Geschichten, oder sie verabschieden sich von ihnen. Die Wissenschaftler:innen erfinden sich selbst in ihren eigenen Studien immer wieder neu, so, wie sie auch die Poetik ihrer Gegenstände immer wieder neu für sich selbst erschließen oder abschließen. Beim poetischen wie beim wissenschaftlichen Schreiben handelt es sich vielfach um eine narzisstische Praxis und zugleich um eine auto-therapeutische, imaginativ schöpferische und utopisch selbstermächtigende Tätigkeit, welche den individuellen Wissenschaftler:innen eine vergleichbar hohe Freiheit im Denken und Empfinden gewährt. In den geistigen Produkten, den Studien über Kunst, wird die Wirklichkeit verhandelt, somit ist der geisteswissenschaftliche Schreibprozess immer schon ein Zwitter zwischen empirischer, rationaler Wirklichkeitsforschung und kreativer Phantastik. In wissenschaftlichen Studien machen Wissenschaftler:innen ihr Selbst auf vielfältige Weise der Öffentlichkeit zugänglich, allerdings in einem notwendig schützenden Gewand objektivistischer Darstellung, welche die ganze Wahrheit des Selbst stets zu maskieren weiß. Gleichzeitig scheint die Hoffnung zu bestehen, von anderen sprachbegabten Wissenschaftler:innen gelesen und verstanden zu werden, wobei die Wissenschaftler:innen sich ja stets auf die Ebene eindimensionaler rationaler Sinnerschließung retten können. Der poetische wie der wissenschaftliche Text bilden ein Meer aus Zeichen, die bestimmbar sind, aber zugleich metaphorisch unbestimmbar bleiben und sich für fremde Leser:innen einer finalen Dechiffrierung entziehen. Sie sind Bestandteil einer strukturalistischen wie zugleich poststrukturalistischen Schreibpraxis, die bewusst und nach meinem Dafürhalten häufig auch unbewusst verläuft. Sollte ein Kennzeichen der Gegenwart die Aushandlung des Verhältnisses von Fakt und Fiktion sein, so könnte dies auch für die Geisteswissenschaften selbst gelten. Eine Option wäre dann eine gewissermaßen selbstaufklärerische Bewusstwerdung von Verschmelzungen von Fakt und poetisierender Autofiktion in geisteswissenschaftlichen Schriften. Der Anspruch an rationalistisches Verstehen und Schreiben ginge dann einher mit dem Bewusstsein, dass auch poetische, psychologisierende und emotionalisierende Prozesse Anteil am wissenschaftlichen Schreiben haben. Insbesondere die Literaturwissenschaft dürfte dann vielleicht in kleinen freundschaftlichen Zirkeln offener über die eigene Sprache sprechen; sie würde sich damit letztlich zum Gegenstand einer empathischen Aufklärung und Verständigung machen, denn ich bin überzeugt, dass nahezu alles, was hier gesagt wurde, den meisten Leser:innen dieses Textes bekannt ist.

Das literaturwissenschaftliche Schreiben ist, wie das poetische Schreiben, ein Akt der Selbstschöpfung; es kommt einer Geburt neuer Zeichen und Strukturen gleich und kann als Affirmation, aber auch als befreiender Akt der Vernichtung alter Selbstbilder verstanden werden. Die realen Körper der Wissenschaftler:innen sind sterblich, aber ihre Schriften – ihr doppelter oder mehrfacher, nicht selten traumhaft schwebender Schriftsinn – erscheinen unsterblich.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen