Identitätspolitische Scharmützel

14 Autor_innen gegen Horst Seehofer, die AfD und den NSU

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland ist de facto seit über einem halben Jahrhundert ein Einwanderungsland. Die politisch-juristische Anerkennung dieses Tatbestands ließ viel zu lange auf sich warten. Erst im Jahr 2000 wurde das deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz angepasst. Seit drei Jahrzehnten nehmen eine Reihe von Migrant_innen in fast allen Parteien, im Bildungsbereich, in Gewerkschaften, in den Medien, in der Kunst etc. am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik teil. Das tut dem Land gut. Denn die Konflikte, die es hier wie anderswo naturgemäß immer gibt, lassen sich nur lösen, wenn seine Einwohner_innen zusammen über verschiedene Wege streiten, unterschiedliche Positionen beziehen und Kompromisse finden, mit denen alle halbwegs leben können. Auf die Frage, was uns bei aller Verschiedenheit verbinden sollte, haben Migrant_innen kluge Antworten gefunden: Von Bassam Tibi über Ralph Ghadban, Seyran Ates und Necla Kelek bis hin zu Hamed Abdel Samad oder Ahmad Mansour – um nur wenige prominente Stimmen zu nennen – wird für das Grundgesetz plädiert, den politisch-juristischen Rahmen unserer liberalen Demokratie. Es bietet die uns gemeinsame transkulturelle Rechtsnorm und Wertebasis. Der Rest ist fakultativ. Damit ist das Feld der (National-)Kultur glücklicherweise verlassen. Unsere Gesellschaft ist eine offene, weil der Konsens in der Abwehr totalitärer Ideologien von rechts (Rassedenken), links (Klassendenken) oder dem politischen Islam (religiöser Fundamentalismus) besteht. Wie aber schafft man gesellschaftliche Akzeptanz für das Einwanderungsland Deutschland?

Der jüngst im Ullstein Verlag erschienene, von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebene Band Eure Heimat ist unser Albtraum liest sich gut und ist als lautstarker Einspruch von 14 überwiegend in den 1980er Jahren geborenen und akademisch ausgebildeten Autor_innen gegen Rechtsextremisten und Rechtspopulisten entschieden zu begrüßen. Hinter den erreichten Stand der Debatten fällt die Aufsatzsammlung allerdings zurück in die identitätspolitische Sackgasse der 1970/80er Jahre und bildet als solche lediglich das Gegenstück zu den rechten Identitären. Das ist schade. Denn manche Beiträge enthalten Bedenkenswertes. Doch die Frontstellung Mehrheit/Minderheit operiert an den aktuellen Problemlagen und Konfliktlinien vorbei, weil weder die Mehrheitsgesellschaft noch die Minderheiten in sich politisch, sozial, kulturell etc. homogen sind. Auf Fakten wird im Band leider wenig Wert gelegt, manche Behauptung stimmt nicht, ist ideologisch verzerrt oder wirkt ein wenig gesucht, was zu zeigen sein wird.

Schnell versteht, wer das Vorwort liest, weshalb in Eure Heimat ist unser Albtraum Sinti, Roma, Armenier, Aramäer, syrisch-orthodoxe Christen, aber auch Jesiden fehlen, die ebenfalls in der Bundesrepublik zu Hause sind: „‚Heimat‘ hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten nicht vorkommen.“ Abgesehen davon, dass diese Formulierung mit wenigen Ausnahmen wie Bulgarien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo auf die meisten europäischen Nationalstaaten zutrifft, braucht man mit dem Wort „Heimat“ nicht unbedingt viel anfangen können zu müssen, um dem apodiktischen Stil aus „nie“ und „schon immer“ mit Skepsis zu begegnen. Für manche Menschen verströmt das Wort „Heimat“ den Geruch alter Socken, für andere Lindenduft, die nächsten verbinden damit das Geräusch quietschender Straßenbahnen oder eine vertraute Weise zu fluchen, während wieder andere an den Geschmack von Matjesheringen denken.

„‚Heimat‘ ist auch integraler Teil der faschistischen NS-Ideologie [!] und somit kaum ohne Zusammenhang zur Shoah denkbar.“ Allein das Lied der internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg weist diesen Kurzschluss ins Reich der ideologischen Legenden aus („die Heimat ist weit, doch wir sind bereit“). Ebendieser Kurzschluss soll die Migrant_innen von heute mit den ermordeten europäischen Juden von gestern verknüpfen. Das erinnert eher an die 68er-Logik ‚Wer zuerst Faschist sagt, hat gewonnen‘. Die rechtsextreme Kameradschaft „Thüringer Heimatschutz“, die die Autor_innen zu recht anprangern und in deren Windschatten das Mörder-Trio des NSU sozialisiert wurde, ist ein Gewächs unter anderem auch mangelhafter Aufarbeitung der NS-Diktatur in der ehemaligen DDR, wo sich die „Heimat“ im Liedgut gleichfalls „schön gemacht“ hat. Der NSU ist aber eine andere Hausnummer als die rechtspopulistische AfD, die manche Historiker an die Deutschnationalen der Weimarer Zeit erinnert. Horst Seehofer von der CSU wiederum geht selbst manchen seiner Parteigenossen auf die Nerven und arbeitet sich an früheren Fehlern von Angela Merkels Flüchtlingspolitik ab, die weder die Europäische Union noch das bundesdeutsche Parlament eingebunden hatte. Der überdehnte postkoloniale Rassismus-Begriff der Autor_innen subsumiert Phänomene, die kulturessentialistisch und nationalistisch sind, aber weder ‚völkisch‘ noch rassistisch. Einzig Sharon Dodua Otoos Beitrag, der zu den substanziellsten im Band zählt und damit schließt, dass ihr ältester Sohn darum kämpfen muss, dass Nichtschwarze ihn in Berlin als heimatberechtigt wahrnehmen, dokumentiert aktuellen Alltagsrassismus: Mal wollten Mitschüler die Hautfarbe ihres ältesten Sohnes wegradieren, weil Schwarz angeblich vom Teufel käme, mal wollte ein Mädchen nicht neben einem ihrer jüngeren Söhne am Herd stehen, um nicht so dunkel zu werden wie er. Die Lehrer_innen waren der Darstellung zufolge überfordert. Eine Fortbildung der Lehrkräfte zum Thema Kolonialrassismus hätte ein Anfang sein können.

Fatma Aydemir schildert in ihrem „Arbeit“ betitelten Beitrag eine typische Konkurrenzsituation: Eine Kollegin warf ihr einen faktisch inexistenten „Migrantenbonus“ vor. Der entsprechende Passus in Ausschreibungen soll bestehende Nachteile von Migrant_innen, Frauen etc. ausgleichen, aber sie umgekehrt nicht bevorzugen. Aydemirs Familiengeschichte aber konturiert eine in erster Linie soziale Schieflage der alten Bundesrepublik. Das verunglimpfende Vorurteil, „Ausländer“ seien faul, kam aus dem rechtsextremen Spektrum und es zu widerlegen, wie Aydemir es unternimmt, wertet es unnötig auf, denn es erhält so den Rang eines Arguments. Es ist richtig, dass Aydemir einen gut bezahlten Job fordert, weil sie ihn wie die vielen hoch qualifizierten Menschen mit und ohne „Migrationshintergrund“ verdient. Ob sie einen solchen Job bekommt – es ist ihr zu wünschen –, entscheiden allerdings weder der ‚weiße‘ Hausmeister noch die ‚weiße‘ Köchin ohne „Migrationshintergrund“, weshalb der Appell an die deutsche Mehrheitsgesellschaft verpufft.

Der Fall von Murat Kurnaz ist, auch wenn Deniz Utlu im Beitrag „Vertrauen“ ihn anders versteht, ein Beispiel für einen funktionierenden Rechtsstaat: Kurnaz konnte mit Hilfe eines Anwalts seine Rückkehr in die Bundesrepublik durchsetzen und damit einen unrechtmäßigen Verwaltungsakt erfolgreich anfechten. Wie Kurnaz mehrere Jahre Freiheitsentzug zu erleiden, ohne sich strafbar gemacht zu haben, ist schwer auszuhalten, aber kein Hinweis auf ein Versagen des Rechtsstaats. Die Gedichte der afrodeutschen Aktivistin und Autorin May Ayim, die Utlu heranzieht, sind zweifellos lesenswert. Ayim hat wie alle schwarzen Menschen in Deutschland Rassismuserfahrungen machen müssen, die Utlu leider weder beschreibt noch analysiert. Die poetische Wahrheit, auf die er sich beruft, ist eine Sache der Form und nicht des Inhalts (wie etwa im Agitprop), ist weder verbindlich noch zustimmungspflichtig (wie etwa in der Politik). Weshalb Utlu sich nicht auf das faktische Behördenversagen bei der Aufklärung der NSU-Morde verlegt hat, um das nachvollziehbar verlorene Vertrauen zu dokumentieren, ist nicht recht verständlich.

Nadia Shehadehs Behauptung im Beitrag „Gefährlich“, die feministische Journalistin Alice Schwarzer hätte den autochthonen Frauenhass zugunsten des islamischen ausgeblendet, ist falsch. Schwarzer thematisiert seit Jahrzehnten Frauenfeindlichkeit jeglicher Provenienz. Das ist leicht überprüfbar.

Im Beitrag „Beleidigung“ von Enrico Ippolito werden sowohl die theoretischen Grundlagen des Rassismus-Begriffs als auch der Umgang mit diesen Quellen deutlich: die Arbeiten von Michel Foucault, Gayatri Chakravorty Spivak und Stuart Hall aus den 1960/80er Jahren sind ungeachtet ihrer Wichtigkeit keine Texte, die nicht auch kritisch überprüft und kontextualisiert werden müssten. Wissenschaft ist Relativierungswissen und Wissenschaftler_innen suchen nach Wahrheit, besitzen sie aber nicht. In den späten 1980er Jahren erschien in Paris Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double von Pierre-André Taguieff, in dem der Soziologe sehr genau den Rassismus der Antirassisten beschreibt. Es bringt niemanden weiter, die notwendige Bekämpfung des Rassismus in eine Art moralistische Bekenntnis- und Geständnispraxis umzufunktionieren. Das Multikulturalismus-Konzept der 1970er Jahre ging vom Modell kugelförmig geschlossener Kulturen aus und wurde unter anderem deshalb durch den Interkulturalismus abgelöst, der dieses Kugel-Modell öffnete und die Kulturen interagieren ließ. Transkulturelle Modelle, die seit den 1990er Jahren favorisiert werden, begreifen Kulturen grundsätzlich als in sich vielfach gebrochene, heterogene Angelegenheiten, weshalb sie nicht zur Begründung gemeinsamer Werte taugen.

Mit dem erweiterten Rassismus-Konzept hängt der Begriff der „Privilegien“ zusammen, wie der gleichnamige Beitrag von Olga Grjasnowa betitelt ist. Diese Wahrnehmungsweise ist schon deshalb problematisch, weil sie bestimmte Faktoren (Herkunft, Hautfarbe, Haar etc.) zuungunsten anderer ebenso verabsolutiert wie die Positionen, die sie vorgeblich außer Kraft zu setzen strebt. Die schlichte Umkehrlogik, wonach aus einem ‚Nachteil‘ der einen Gruppe automatisch ein ‚Vorteil‘ einer anderen wird, generiert bestenfalls Unter- und Überlegenheitsgefühle mit all den damit verbundenen Emotionen von Hass, Wut, Missgunst, Niedertracht, Neid etc., schafft aber keine gerechtere Gesellschaft. Grjasnowas gesinnungsethische Verurteilung einer im Juli 2018 in der Wochenzeitung Die Zeit geäußerten verantwortungsethischen Position der Journalistin Marjam Lau zu privaten Seenotrettern kommt ohne jedes Sachargument aus. Gleiches gilt für die Verurteilung von Necla Kelek und Hamed Abdel Samad, die beide betreiben, was seit dem 18. Jahrhundert unter säkularen Juden und Christen in Europa üblich ist: Religionskritik. Augenblicklich wird mit dem Machtmissbrauch durch Kirchenvertreter in den Medien zu Recht kritisch und hart ins Gericht gegangen. Die Idealisierung des Islam, die kulturhistorisch und zeitweilig auch politisch in Deutschland eine wenig rühmliche Tradition hatte – Heinrich Himmler lobte die autoritären Züge des Islam und Mohammed Amin el-Husseini, der islamistische Führer der palästinensischen Nationalbewegung, genoss im nationalsozialistischen Berlin hohes Ansehen –, dürfte kaum zukunftsweisend sein. Auch die Minderheitenpolitik der Jungtürken fand unter Nationalsozialisten viel Beifall. Die sterblichen Überreste von Talat Pascha, einem der Organisatoren des Völkermords an den Armeniern, wurden 1943 mit militärischen Ehren von Berlin nach Istanbul überführt.

Die beiden Beiträge „Sichtbarkeit“ von Sascha Marianna Salzmann und „Gegenwartsbewältigung“ von Max Czollek bilden einen Rahmen, der das Buch einleitet und beschließt. So nehmen jüdische Autor_innen andere Minderheiten buchstäblich in ihre Mitte und befinden sich mit Grjasnowas Beitrag auch unter ihnen. Das ist nicht nur eine schöne Idee, denn Solidarität und Empathie mit anderen Minderheiten folgt der Tradition jüdischer Kultur. Das allein setzt die Situation der jüdischen Minderheit in Europa und weltweit jedoch weder historisch noch aktuell mit der anderer Minderheiten gleich. Umgekehrt solidarisieren sich nicht immer alle Minderheiten automatisch mit der jüdischen. Die multikulturelle Optik verzerrt. Es ist zwar richtig, dass Assimilation Juden vor ihrer Ermordung während der NS-Diktatur nicht bewahrt hat, wie Salzmann schreibt, aber der Grund dafür waren Judenhass und Opportunismus der Täter und ihrer europäischen Helfer, nicht das Verhalten von Juden. Offen bleibt, was „Assimilation“ historisch und aktuell jeweils bedeutet und wer sie heute von Minderheiten in der Bundesrepublik überhaupt fordert. So richtig es ist, die narzisstische, auf das nichtjüdische Selbstbild zielende Komponente der Erinnerungskultur zu kritisieren, wie es Max Czollek tut und was nebenbei bemerkt seit Jahrzehnten geschieht (man denke an Eike Geisel, Nathan Sznaider etc.), so wenig nachvollziehbar ist ihre Verknüpfung mit der Integrationsdebatte. In ihr geht es um die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaats und eben nicht um Kultur. Darum ist von „Parallelgesellschaft“ die Rede. Eine demokratische Kultur kann nur dort entstehen und Bestand haben, wo sie politisch-juristisch grundiert und garantiert wird. Die Ablehnung von Nationalismus, Rassismus, Rechtsextremismus und der AfD teilt man mit den Autor_innen gern. Den Pulsschlag und die Pluralität einer Einwanderungsgesellschaft bestimmen allerdings Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, die sich dafür engagieren, die Grundgesetznorm zur Alltagsnormalität werden zu lassen.

Titelbild

Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum.
Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski uvm.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
202 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783961010363

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