Krankheit, dunkler Erdteil

Die neue Ingeborg Bachmann-Werkausgabe beginnt mit intimen Aufzeichnungen aus einer schweren Krise

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ingeborg Bachmann bleibt auch mehr als 40 Jahre nach ihrem Tod ein literarisches Faszinosum. Das ist sie nicht zuletzt, weil man über einige Strecken in ihrem Lebenslauf bisher nur wenig weiß und eine Fülle unveröffentlichter Texte und Briefe existiert – Spielraum genug für Interpreten aller Couleur, die Bachmanns Werk seit je unter wechselnden Vorzeichen interpretierten. Die erste Werkausgabe, 1978 erschienen, machte zwar viele Texte erstmals zugänglich, aber die Auswahl blieb vergleichsweise schmal. 1995 wurden dann größere Teile aus dem geplanten Romanzyklus Todesarten veröffentlicht. Aber die Lücken blieben groß. Eine breite Öffentlichkeit war völlig verblüfft, als der Briefwechsel Herzzeit vor fast einem Jahrzehnt die weitgehend unbekannt gebliebene Liebe zwischen der Autorin und Paul Celan publik machte, der wiederum den Kult um das Privatleben der Dichterin befeuerte – wie zuletzt Ruth Beckermanns Film Die Geträumten (2016) zeigte, der auf der Basis des Briefwechsels entstand.

Die Leerstellen in Bachmanns Œuvre will eine neue Werkedition schließen, die auf 30 bis 40 Bände angelegt ist und gemeinsam von Piper und Suhrkamp verantwortet wird, Bachmanns Hausverlagen zu Lebzeiten. Zum Projekt gehören nicht nur unveröffentlichte literarische Arbeiten, sondern auch Briefwechsel mit Kollegen wie Heinrich Böll, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger – und Max Frisch, mit dem Bachmann vier Jahre liiert war. Die Bände sollen in gleicher Aufmachung erscheinen, was signalisiert, dass Hans Höller und Irene Füßl als Editoren keine saubere Trennung zwischen Leben und Werk vornehmen. Folgerichtig beginnen sie mit einem Konvolut unveröffentlichter, äußerst privater Texte, welche Mitte der 1960er-Jahre in einer schweren Krise Bachmanns entstanden sind, die vor allem durch die Trennung von Frisch ausgelöst wurde.

In dieser Zeit galt Bachmann als enigmatisch schweigende Dichterin, die zwischen ihrem Erzählband Das dreißigste Jahr (1961) und dem Roman Malina ein Jahrzehnt später gerade einmal ihre Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle publizierte. Der neue Band „Male Oscuro“: Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit zeigt, dass dieses Schweigen nicht etwa die Frucht einer gezielten PR-Strategie war. Vielmehr befand sich Bachmann lange Zeit in einer schweren psychischen Krise, deren Symptome – etwa heftige Panikattacken – sie bis zu ihrem frühen Tod mit 47 Jahren nie wieder ganz verließen.

Der Titel „Male Oscuro“, italienisch für „das dunkle Übel“, ist eine intertextuelle Referenz auf einen Roman von Giuseppe Berto, dessen Protagonist nach dem Tod seines Vaters zehn Jahre lang unter extremen körperlichen Qualen leidet, bis ein Psychotherapeut die psychische Ursache erkennt und ihn wiederherstellt; im Roman selbst legt Berto Rechenschaft über diesen Prozess ab. Bachmanns Texte unternehmen in der Tat etwas Ähnliches, bleiben aber ein Konvolut aus disparaten Elementen. Wie vollständig ihr Unternehmen der Selbstvergewisserung hier dokumentiert ist, das können auch Isolde Schiffermüller und Gabriella Peloni als Herausgeberinnen des Bandes nicht abschließend klären, denn Bachmann vernichtete viele Notizen und Briefe aus dieser Zeit; anderes kann bei den häufigen Orts- und Wohnungswechseln verlorengegangen sein. Der Band versammelt 28 kurze Texte, mehrheitlich Traumaufzeichnungen, aber auch Briefe an den Therapeuten Helmut Schulze, der sie in Baden-Baden behandelte, sowie zwei Entwürfe für eine „Rede an die Ärzteschaft“, die stofflich der  Darmstädter Rede und ihren Ausführungen über die „Zufälle“ von Georg Büchners Figur Lenz benachbart ist. Ob diese Fragmente, anders als die Briefe und die 19 Traumnotate, je für eine Öffentlichkeit bestimmt waren, lässt sich nicht mehr feststellen.

In vielen Notaten tauchen Frisch und seine neue Geliebte Marianne Oellers, später seine Ehefrau, direkt auf. Die Figur Frischs verschleift sich mit der des Vaters, sodass die Träume streckenweise zu Inzestträumen werden. Bachmanns Zustand verschlimmert sich dadurch, dass Frisch im Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) intime Details ihrer Beziehung ausschlachtet. Mehrmals bezieht sie sich auf eine Schallplatte, auf der Frisch Auszüge des Romans liest, und empfindet es – wie sie im Brief an Schulze schildert – als Akt der Befreiung, als sie es über sich bringt, das Vinyl zu zerbrechen.

Mehr und mehr geraten Bachmanns Texte aber auch zur Reflexion über die Natur ihrer Krankheit und ihre psychische Funktion. Am klarsten geschieht dies in den ästhetisch gelungensten Texten des Bandes, den beiden Bruchstücken der „Rede an die Ärzteschaft“. Hier nimmt Bachmann Bezug auf Bertos Male oscuro und deutet dann ihre eigene Krankengeschichte an. Sie spricht – verhüllt – von der Abtreibung des von ihr gewünschten Kindes, zu der man sie wegen ihres Alkohol- und Tablettenkonsums überredete, und dem folgenden Selbstmordversuch, dann von der Entfernung ihrer Gebärmutter: „Die Operation ist vorbildlich, alles gelungen, der Patient zwar nicht tot, aber in einer irrsinnigen Aufregung, Weinkrämpfe, Schrei, Verzweiflung“. Zwar wird die Patientin – Bachmann wechselt zwischen der ersten und dritten Person – im Gegensatz zu Bertos Patient sogleich psychiatrisch behandelt, doch auf den Grund des Ganzen dringt auch die Therapie nicht: „Der Patient lügt. D. h. er sagt die Wahrheit, aber nur einen so geringen und unwichtigen Teil, daß kein Arzt vermuten kann, was dahinter steckt“. Noch dazu erweist sich der Rat des Arztes als verfehlt. Hier dürfte Schulze gemeint sein, der seinen Patienten körperliche Anstrengung gegen die psychischen Leiden empfiehlt. Dabei argumentiert er mit aus heutiger Sicht völlig irrigen Befunden, dass nämlich Soldaten, Zivilisten und sogar KZ-Insassen unter den Anspannungen des Krieges und der Inhaftierung ihre Neurosen völlig ablegten. Bachmann berichtet ihm zwar brieflich, dass die Anstrengung einer Wüstenreise im Gegensatz zu ihren Mitreisenden ihr Wohlbefinden sogar gesteigert habe. Aber das ist nicht von Dauer. Trotzdem handelt es sich bei Bachmanns Rede nicht um eine Rede gegen die Ärzte, sondern um eine schlichte Bitte um Empathie:

Denken Sie nie an Gott und die Metaphysik, denken Sie an keinen Begriff, denken Sie an gar nichts. Wenn Sie Ärzte sind, dann denken Sie an uns, ich bitte Sie. Ich darf Ihnen versichern, daß wir keine Begriffe haben. Wir haben die Krankheit. Und wir brauchen den Arzt. Wir haben den male oscuro, und wenn Sie auch nie ganz verstehen wollen, was das ist: mit Ihrer Härte, in der das Mitleid aufgehoben ist, werden Sie dem begegnen müssen.

Schiffermüller und Pelloni vergleichen die Rede in ihrem fachkundigen Kommentar mit Franz Kafkas Bericht für eine Akademie. Das leuchtet ein, aber es impliziert, dass der Patient bereits das andere Ufer der Krankheit erreicht hätte, wie Kafkas Affe Rotpeter seinen Report nur erstatten kann, weil er bereits zum Menschen geworden ist. Für Bachmann gab es aber keine vollständige Heilung, sondern nur ein Irgendwie-Auskommen mit ihrer Situation, also dem weiteren Trinken und Tablettenschlucken. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Lektüre von „Male Oscuro“ den Leser unangenehm berührt: der Einblick in eben solche Intimitäten, die – außer vielleicht der Rede – nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ist das Unterfangen, sie zwischen zwei Buchdeckel zu pressen, denn so verschieden von Frischs Vorgehen im Gantenbein? Nach der Meinung der Herausgeber und von Bachmanns Familie ist die Antwort ein klares Ja. Denn erst das Verständnis der Krise, so zeigen es Schiffermüller und Pelloni in ihrem Kommentar, ermöglicht ein adäquates Verständnis der Todesarten. Der Romanzyklus, von dem eine Neuausgabe von Das Buch Goldmann, das in der früheren Werkausgabe Requiem für Fanny Goldmann betitelt war, als nächster Band der Werke erscheinen soll, bedeutet nicht nur den Versuch, wieder zu schreiben, wieder Tritt zu fassen. Vielmehr zeigt „Male oscuro“ auf, dass wichtige Teile der Todesarten unmittelbar im biografischen Erleben Bachmanns wurzeln, namentlich das zentrale Traumkapitel in Malina, in dem die Assoziationen zwischen patriarchalischer Herrschaft und Nationalsozialismus, die Personalunion von Vater, Mörder und Lebensgefährte noch einmal zugespitzt werden. Insofern ist die Aufhebung der Grenze zwischen literarischen und (auto)biografischen Texten, wie sie die Werkausgabe vornimmt, nur konsequent.

Kein Zweifel, diese privaten Aufzeichnungen sind von hoher literarischer Qualität und sie werden die Bachmann-Forschung bereichern, indem sie vorher unbekannte oder nur geahnte Zusammenhänge explizit machen. Trotzdem bleibt beim Leser eine gewisse Zwiespältigkeit zurück – aber vielleicht werden solche Überlegungen aus größerem historischem Abstand einmal keine Rolle mehr spielen?

Titelbild

Ingeborg Bachmann: Werkausgabe. Band 2: „Male oscuro“. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe.
Herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
259 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518426029

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch