Wie wurde im 18. Jahrhundert gelesen?

Ein von Luisa Banki und Kathrin Wittler herausgegebener Sammelband widmet sich dem Verhältnis „Lektüre und Geschlecht“

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Bild von der Lektüre im 18. Jahrhundert wurde lange Zeit von der sogenannten „Lesesucht-Debatte“ bestimmt. Die nach der Jahrhundertmitte einsetzende Diskussion um die Gefahren, die vor allem für Frauen von exzessivem und lustvollem Lesen von Romanen ausgehen, prägt das Bild der Forschung von der Lektüre im gesamten Jahrhundert. Im Zentrum der Debatte stand die Vorstellung, dass von der Lektüre eine moralische Gefährdung ausgehe, die in der Weckung sexueller Wünsche ebenso wie in der Vernachlässigung von Alltagspflichten gesehen wurde. Das Lesen – so die weithin akzeptierte Vorstellung – bedurfte der Kontrolle. Die klischeehaften Darstellungen lesender Frauen in Texten und Graphiken lassen vermuten, dass diese Vorstellung wenig mit den Lektürepraktiken des 18. Jahrhunderts gemein hat. Ein von Luisa Banki und Kathrin Wittler herausgegebener Sammelband stellt nun die Frage, wie das Lesen im Alltag der Geschlechter im 18. Jahrhundert zu verorten ist. Dabei geht es weniger darum, das in den letzten Jahren von der Forschung bereits angezweifelte Bild der in der Fiktion versunkenen Leserin zu hinterfragen, sondern eine erste Bestandsaufnahme von Lektürebeschreibungen aus dem 18. Jahrhundert im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten der Geschlechter zu geben. Dabei steht vor allem die Lesesituation selbst im Fokus, verbunden mit der Frage, ob das einsame Lesen tatsächlich einen so hohen Stellenwert hatte, wie die zeitgenössischen Diskussionen nahelegen. 

Ausgangspunkt der Beiträge ist die Überlegung, dass die Geschlechtergeschichte des Lesens bislang kaum analysiert wurde. Hat die Lesesucht-Debatte den Blick auf die realen Lektüren weiblicher Leserinnen verstellt, so wurde andererseits die Lesewut männlicher fiktiver Leser wie z. B. Don Sylvio, Werther oder Anton Reiser nicht mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht. Hier einen objektiveren Blick auf das Verhältnis von Lektüre und Geschlecht zu entwickeln, ist der Anspruch des Sammelbandes. Dabei rückt er vor allem die Praxis des Lesens selbst, wie sie in Briefwechseln und anderen Egodokumenten beschrieben wird, in den Blick.

Wie ein solch praxeologischer Ansatz aussehen kann, führt der erstmals auf Deutsch erschienene Aufsatz von Abigail Williams Häusliche Lektüre. Geselliges und einsames Lesen in der englischen Mittelschicht des 18. Jahrhunderts vor. Die Autorin ruft die zentralen Argumente der Lesesucht-Debatte – einsame Lektüre, Lektüre als Sucht, moralische Gefährdung, etc. – auf, um davon ausgehend vor allem anhand von Lebenszeugnissen von Frauen zu zeigen, dass Lesen in der Regel ein Vorlesen im Familien- oder Freundeskreis war. Sie arbeitet anhand vielfältiger Quellen heraus, dass die Inszenierung von Lektüre einerseits die Möglichkeit bot, den gesellschaftlichen Status zu betonen, andererseits förderte das laute Lesen das Verständnis für die Struktur eines Textes. Am Beispiel von Ratgebern zum richtigen Vorlesen zeigt Williams auf, dass identifikatorisches Lesen kaum möglich war, wenn in geselliger Runde laut gelesen wurde. Denn beim Vortrag musste beispielsweise darauf geachtet werden, die Erzählerrede von Aussagen der Figuren zu trennen. Da die unterschiedlichen Stimmen im Druckbild noch nicht eindeutig voneinander zu unterscheiden waren, da Anführungszeichen im Fließtext nicht gesetzt wurden, musste ein Vorleser oder eine Vorleserin nicht nur flüssig lesen, sondern zugleich im Vortrag die unterschiedlichen Stimmen wiedergeben können. Abigail Williams verweist in ihrem Beitrag auch darauf, dass in Großbritannien Bücher häufiger von Männern ausgeliehen und gekauft wurden. Die Frage, wie sich der Buchmarkt für die Frauen öffnete und wie Lektüre gesellschaftsfähig wurde, beantworten zwei Beiträge. 

Am Beispiel der Gesprächsliteratur des ausgehenden 17. Jahrhunderts zeigt Michael Multhammer, wie diese der weiblichen Lektüre den Weg bahnt. Ausgehend von Christian Thomasius’ (1655–1728) Monatsgesprächen beschreibt er zwei Männlichkeitsentwürfe: Während der Pedant meist nur über aus Kompendien erworbenes Wissen verfügt und keinen Widerspruch duldet, zeichnet sich der homme galant durch eine gründliche Lektüre der Originale und den souveränen Umgang mit dem erworbenen Wissen aus. Letzteres wird exemplarisch in der Gesprächsliteratur vorgeführt, die als Vorbild für gesellschaftliche Konversation verstanden wurde. Mit dem neuen Männlichkeitsbild ergab sich ein neues Themenfeld für die Gespräche im öffentlichen und halböffentlichen Bereich. Die gelehrte Literatur wurde salonfähig. Auch wenn sich das Modell des homme galant historisch nicht durchsetzen konnte, trug es doch zu einer Annäherung der Geschlechter bei. Frauen durften sich nun mit bislang den Gelehrten vorbehaltenen Themen beschäftigen. Worüber gesprochen wurde, durfte aber auch gelesen werden. 

Wie andererseits die Öffnung einer Gattung für Frauen sich zugleich positiv auf die Wertung der Gattung selbst auswirken kann, zeigt Annika Hildebrandt am Beispiel der Sammlung Oden mit Melodien. Diese wurde 1753 von dem Dichter Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) und dem Musiker, Musiktheoretiker und Anwalt Christian Gottfried Krause (1719–1770) herausgegeben. Die mit Noten versehenen Gedichte dienten in dieser Zusammenstellung dem geselligen Singen beim Zusammentreffen beider Geschlechter. Mit der neuen sozialen Rahmung wurde die Gattung Lied bewusst aufgewertet, wurde es doch bisher vor allem von Studenten und in Bierhäusern gesungen, wo weniger die ausgewogene Komposition als vielmehr ein derber Inhalt den Erfolg garantierte. 

Wie der Lektüre neue Räume erschlossen wurden, zeigt Jana Kittelmann am Beispiel der Lektüre im Garten. Für die Briefkultur der Empfindsamkeit war der Garten als Naturraum eine Projektionsfläche für ein Freundschafts- und Geselligkeitsideal, das unabhängig vom Geschlecht der Kommunikationspartner emotional aufgeladen war. Die beschriebenen Gesten, Zärtlichkeitsbekundungen und Tränen hätten in geschlossenen Räumen – so Kittelmann – als unschicklich gegolten. In der idealisierten Natur konnten sie gelebt werden. 

Auch andere Beiträge stellen heraus, dass Lektürepraktiken im 18. Jahrhundert nicht in erster Linie durch das Geschlecht bestimmt sind, sondern durch die soziale Stellung des bzw. der Lesenden. Hat die unverheiratete Luise Mejer (1746–1786) viel Zeit, die Lektüreanregungen ihres Verlobten Heinrich Christian Boie (1744–1806) aufzugreifen, so ist für ihre verheiratete Freundin und Mutter dreier Kinder die gemeinsame Lektüre eine kurze Auszeit. Diese dient zudem als Anregung, sich über eigene Erlebnisse auszutauschen und stellt über das Lektüregespräch eine emotionale Nähe zwischen den Lesenden her. Gerade die in dem Briefwechsel von Mejer und Boie beschriebenen Lektüreerfahrungen lassen darüber hinaus auch eine Form der Lektüregemeinschaft in den Blick geraten, die aufgrund der bisherigen Konzentration der Forschung auf Lesegesellschaften kaum in den Blick kam: die häusliche Lesegemeinschaft. Wie Johanna Egger am Beispiel des Briefwechsels zeigt, bot diese Lektüregemeinschaft nicht nur den Frauen die Möglichkeit, sich zu bilden, sondern die gemeinsame ästhetische Erfahrung öffnet den Raum für den persönlichen Austausch. 

Ebenso aufschlussreich wie der Briefwechsel aus der Verlobungszeit von Luise Mejer und Heinrich Christian Boie ist ein Blick in den Briefwechsel von Charlotte Schiller (1766–1826). Als Witwe war sie darauf angewiesen, Lektüreempfehlungen – sie interessierte sich wenig für belletristische Literatur, sondern las vor allem naturwissenschaftliche Schriften – von männlichen Bekannten zu erhalten. Da sie sich nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis befand, konnte sie auf unterschiedliche Weise ihre eigenen Lektüreergebnisse mit männlichen Briefpartnern diskutieren und so ihre intellektuelle Neugier befriedigen. Ihre Briefe dokumentieren nicht nur ihr professionell-exzerpierendes Lesen, sondern geben zugleich einen Einblick in die kritische Reflexion von Lektüre, die durchaus als gelehrt bezeichnet werden darf. Hier zeigt sich, dass das weibliche Geschlecht durchaus Teil des Wissensdiskurses des 18. Jahrhunderts war. Das erworbene Wissen behielt Schiller nicht für sich, sondern gab es wiederum in Form von Leseempfehlungen an Freunde und Bekannte weiter. So berichtet sie einer Freundin, die sie mit Hinweisen auf für diese interessante Texte versorgte, dass sie Christoph Martin Wieland (1733–1813) geraten habe, Fichte zu lesen. Die Reaktion des ehemaligen Prinzenerziehers am Weimarer Hof ist nicht bekannt, der Bericht ist aber ausschlussreich im Hinblick auf die geistige Unabhängigkeit Charlotte Schillers. Aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung in Weimar war sie über alle Kritik erhaben.

Diese Beobachtungen von Helene Kraus sind insofern von Bedeutung, als im öffentlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts nicht nur die Genusslektüre als Gefahr für das weibliche Geschlecht galt, sondern auch die Informationslektüre nicht gerne gesehen wurde. Mit der Lektüre wissenschaftlicher Literatur traten die sogenannten gelehrten Frauenzimmer in eine den Männern vorbehaltene Sphäre ein, wodurch sie – so die satirische Überzeichnung – die frauentypischen Merkmale verlieren würden. Ob und inwiefern es sich auch bei diesem Diskurs um ein Klischee der Forschung und der zeitgenössischen Literatur handelt, wird im Rahmen dieses Sammelbandes nicht in den Blick genommen. Wie sehr dieses Vorurteil das Schreiben von Frauen prägte, zeigt aber unter anderem das Werk von Sophie von La Roche (1730–1807). Die Autorin, die als erste deutsche Berufsschriftstellerin gilt und schon vor dem Tod ihres Mannes auf die Einkünfte aus ihren Publikationen angewiesen war, versuchte in ihren Schriften das Bild des gelehrten Frauenzimmers zu vermeiden. 

Ein Ort, an dem das Lesen und seine Bedeutung für den Einzelnen wie die Gesellschaft als Ganze diskutiert wurde, ist im 18. Jahrhundert der Roman selbst. Allerdings betont Katja Bartelt in ihren Methodischen Überlegungen zu einer gendersensiblen Lektüre- und Schreibforschung am Beispiel von August Bohses (1661–1730) Liebes-Cabinet des galanten Frauenzimmers zu Recht, dass die fiktive Darstellung von Lektüreszenen in der Regel von dem jeweiligen Gestaltungsabsichten des Autors bzw. der Autorin abhängig ist und daher nicht zuverlässig die Lektürebedingungen des 18. Jahrhunderts abbildet. Die Bedeutung des Erzählkontextes arbeitet Valerie Leyh am Beispiel der „erzählten Lektürepraktiken“ im Werk Sophie von La Roche heraus. Der Beitrag, der einen guten Überblick zum aktuellen Forschungsstand zu den Lektüreszenen im Werk La Roches gibt, zeigt, dass die versierte Erzählerin in ihrem Spätwerk bewusst mit Mehrdeutigkeiten und Multiperspektivität arbeitet. So entsteht in der Fiktion ein vielfältiges Bild von Lektürepraktiken.  

Auch wenn fiktive Lektüreszenen nur bedingt auf historische Praktiken verweisen, so kann die Romanliteratur doch Einblicke in die zeitgenössische Diskussion geben. In der Nachfolge von Cervantes Don Quijote thematisiert Christoph Martin Wieland in seinem 1764 erschienen Roman Don Sylvio oder der Sieg der Natur über die Schwärmerei die Folgen fehlgeleiteter Lektüre, die im Roman selbst immer an eine einsame Leseerfahrung gekoppelt ist. Wie das Verhältnis von Lesen, Einbildungskraft und männlichem Körper gestaltet ist, zeigt Adrian Renner unter Rückgriff auf die Onanie-Debatte der 1770er und 1780er Jahre. Diese ging von der Überlegung aus, dass junge Männer, die durch eine überreizte Einbildungskraft zur Masturbation verführt werden, ihre (erst durch die Lektüre geweckten) Triebe nicht mehr kontrollieren können. Das – so die Befürchtung –  könnte zu sozialen Problemen führen, wenn das Objekt der Begierde auf die Realität übertragen wurde und eine potentielle Geliebte sich den Annährungsversuchen erwehren muss. Dabei ist es beim Lesen wie bei der Selbstbefriedigung das einsame Vergnügen, das den Einzelnen dem Zugriff der Gesellschaft entzieht, weshalb in der moralischen Abwertung versucht wird, dieses zu unterbinden. Ein Gegenmodell zur Vereinzelung und Vereinsamung entwirft Wieland bereits im Herausgeberbericht, wo das gemeinsame Lachen über einen Text Geschlechtergrenzen wie soziale Grenzen überwindet. 

Eine Absage an Lektüre als Teil des Emanzipationsprozesses der Protagonistin stellt Leonie Achtnich am Beispiel von Ann Radcliffs (1764–1823) 1794 erschienenem Schauerroman The Mysteries of Udolpho heraus. Radcliff schildert gemeinsame Lektüreszenen mit dem Verlobten der Protagonistin Emily als Verführungsszenen. Hier wird die zweisame Lektüre als gefährliche Lesesituation reflektiert. Wird die Gefahr durch die anwesende Tante gebannt, so gerät die Waise in Bedrängnis, als ihre Tante der Verführung erliegt und einen Mann heiratet, der nicht integer ist. Der neue Ehemann versucht das Erbe der angeheirateten Nichte zu erlangen. Die emotionale Ablehnung der Lektüre – die Protagonistin wirft am Ende das Buch frustriert an die Wand – ist in diesem Roman als eine Absage an das patriarchale System gestaltet, das den Lektürekanon bestimmt. 

Der Sammelband Lektüre und Geschlecht im 18. Jahrhundert räumt auf überzeugende Art und Weise mit wissenschaftlichen Vorurteilen zur Lektüre vom ausgehenden Barock bis zum Ende der Aufklärung auf, die das Bild des Lesens geprägt haben. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass sich die private Lektüre der Geschlechter kaum unterschieden hat. Die bislang unterschätzte Funktion der Lektüre für verschiedene Formen der Geselligkeit im privaten und halböffentlichen Raum führt vor Augen, dass die Bedeutung des Lesens als Kulturtechnik noch nicht in allen Facetten untersucht ist. Vor allem die Beispiele aus bislang nicht edierten Briefwechseln lassen wünschen, dass diese Spur weiterverfolgt wird und so die Bedeutung der gemeinsamen Lektüre für die Entwicklung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert wie auch für die häusliche Gemeinschaft untersucht wird.

Kann die Einleitung als Überblick zum aktuellen Stand der Forschung gelesen werden, so reflektieren einzelne Beiträge den methodischen Zugang zum Thema und beschreiten so neue Wege in der historischen Lektüreforschung. Zahlreiche Bezüge zwischen den Einzelanalysen tragen darüber hinaus dazu bei, dass der Band im Lauf der Lektüre ein komplexes Verständnis der Lektüresituationen und der wichtigen Bedeutung der Lektüre im Zeitalter der Aufklärung vermittelt. Der unbedingt lesenswerte Band versammelt Beispiele aus Deutschland und England und lässt daher vermuten, dass die gesellige Lektüre, die zu einem intensiveren Austausch der Geschlechter wie zu einer Aufwertung der Frau als Gesprächspartnerin beitrug, ein gesamteuropäisches Phänomen ist. 

Titelbild

Luisa Banki / Kathrin Wittler (Hg.): Lektüre und Geschlecht im 18. Jahrhundert. Zur Situativität des Lesens zwischen Einsamkeit und Geselligkeit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
213 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338548

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