Philologus doctus

Wilfried Barners wegweisende Lessing-Studien entfalten eine unerreichte Magie des ‚gymnastischen‘ Lesens

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer die Magie des genauen Lesens als Element eines analytischen Prozesses kennenlernen möchte, der mit der Konstruktion des Gegenstands beginnt, muß die Arbeiten bedeutender Philologen studieren“. Zu diesen herausragenden Philologen rechnet Peter-André Alt in seiner kleinen Studie zu den Verheißungen der Philologie neben Erich Auerbach, Ernst Robert Curtius, Richard Alewyn, Peter Szondi, Hans-Jürgen Schings und Albrecht Schöne auch den 2014 verstorbenen Göttinger Germanisten Wilfried Barner, der von 1957 bis 1963 griechische, lateinische und deutsche Philologie an den Universitäten Göttingen und Tübingen studierte und dort 1963 über neuere Alkaios-Papyri aus Oxyrhynchos promoviert wurde. Seine 1970 publizierte Habilitationsschrift zur Barockrhetorik kann mit Recht nicht nur der von Alt beschriebenen „Magie des genauen Lesens“ zugerechnet, sondern auch als Initialmoment einer neuausgerichteten Barockforschung verstanden werden.

Daneben ragen die hochgelehrten und für die Forschung wegweisenden Arbeiten zu Gotthold Ephraim Lessing heraus, mit dem Barner, wie Georg Braungart und Helmuth Kiesel in ihrem Nachruf treffend bemerken, „den Autor seines Lebens gefunden“ hatte. So kann Barner etwa in einer 1973 publizierten Schrift zu Lessing und den Tragödien Senecas – ausgehend von Lessings nahezu vergessener früher Seneca-Abhandlung (1754) – dessen überraschend intensive und vielschichtige Auseinandersetzung mit dem römischen Tragiker nachweisen, deren gelehrtes Fundament sich auch in den Texturen von Miß Sara Sampson, Philotas und Emilia Galotti wiederfinden lässt. Die dabei von Barner beobachtete integrative Dialektik von Imitatio (Nachahmung) und Aemulatio (Überbietung) sorgte sowohl für ein neues Bild der Arbeitsweise Lessings, die Barner in einem frühen Aufsatz zu Lessing und die heroische Tradition treffend als „dialektisches Neu-Orientieren“ bezeichnet hat, als auch für eine Präzisierung der rezeptionsgeschichtlichen Methode, zu deren herausragenden Vertretern Barner zeitlebens gehörte. Neben dem bei C.H. Beck erschienenen Arbeitsbuch zu Lessing, das sechs Auflagen erlebte, war er seit 1985 außerdem Herausgeber der Maßstäbe setzenden zwölfbändigen Lessing-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, die 2003 abgeschlossen wurde.

Wer sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Kosmopoliten und Theater-Philologen Lessing intensiver beschäftigt hat, durfte sich zudem an Barners stets klugen, inspirierenden und messerscharfen kleineren Studien zu Lessing erfreuen, die nun auf Wunsch des Autors, von Kai Bremer ediert, unter dem Titel Laut denken mit einem Freunde“ im Wallstein Verlag erschienen sind. Die vorliegenden Aufsätze umfassen 45 Jahre intensiver Auseinandersetzung mit Lessing und lassen überall die Handschrift und die unglaubliche Gelehrsamkeit des ebenso klassisch-philologisch wie neuphilologisch denkenden Literaturwissenschaftlers erkennen, der wie kein anderer die Vielfalt der Texte, die Gedankenwelt und die Persönlichkeit Lessings kannte und zu kontextualisieren imstande war. In seinen Studien hat Barner Lessing als einen stets unbequemen Selbstdenker begriffen, der mit Lust und Verve fermenta cognitionis streute, gelehrte Streitereien und akademische Federkriege gegen angemaßte Autoritäten auf nahezu allen philologisch-hermeneutischen Feldern führte, der sich hochreflektiert im literarischen Leben der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu positionieren wusste und sich sein Publikum regelrecht erschrieb.

Von herausragender Bedeutung sind – sicherlich auch und gerade heute noch – seine in diesem Band versammelten Arbeiten zu den Komplexen „Lessing und die (römische und griechische) Antike“, Lessings Selbst-Positionierung „zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit“, „Lessing und sein Publikum“ (von den frühen kritischen Schriften über die polemischen Strategien in den antiquarischen Schriften bis zum theologischen Fragmentenstreit des Wolfenbütteler Bibliothekars mit der protestantischen Orthodoxie) sowie zu „Lessings europäischer Orientierung“ (Patriotismus, Kosmopolitismus und die res publica litteraria). Gerade hier kommt Barner Lessing sehr nahe, wenn er erkennt, dass der „exklusive, durch die Zugehörigkeit zur Gelehrtenrepublik definierte Kosmopolitismus, mit dem der junge Lessing sich selbstbewußt und taktisch ein Stück notwendiger licentia sicherte“, sich „in einem komplizierten Prozeß individueller Erfahrungen und epochaler Veränderungen der res publica litteraria zu einem menschheitlichen Kosmopolitismus“, wie er in Nathan der Weise greifbar wird, gewandelt habe.

Wilfried Barner hat es meisterhaft verstanden, seinen Lesern, Hörern, Schülern und Freunden  all dies in vielfältigster Form und bei unterschiedlichsten Gelegenheiten mit höchster Gelehrsamkeit und großer Motivation ungemein anregend zu vermitteln, indem er das von Lessing immer wieder geforderte Selbstdenken zum gemeinsamen Diskursrahmen der gelehrten Spaziergänge in der Textwelt des Aufklärers erhob. In gemeinsamen Gesprächen kam Barner immer wieder auf einen seiner Ansicht nach für Lessings Denken zentralen Ausdruck zu sprechen, der nach Ansicht des Rezensenten auch Barners eigenes philologisches Selbstverständnis prägnant markiert: Im theologischen Zusammenhang hat Lessing wiederholt das griechische Wort für ‚gymnastisch‘ in seiner adverbialen Verwendung (gymnastikōs) zitiert – „im Sinne eines ständigen, übenden Erweiterns des Denkbaren“. In diesem Sinne sind viele der herausragenden Texte Lessings für Barner „auf immer wieder andere Weise vertrackt, anspruchsvoll: sie fordern zum Verständnis das wiederholte Nachfragen, oder auch unsere Einwände. Sich darauf einzulassen, stellt vielleicht die genuinste Wiese dar, dem Aufklärer Lessing die Ehre zu geben“.

Der Umstand, dass nun keine weiteren gemeinsamen gelehrten Spaziergänge und philologisch-gymnastischen Denkübungen mehr folgen werden, ist ein Wehmut hervorrufender Gedanke, der all diejenigen, die nicht nur von dem Akademiker, sondern auch von dem Menschen Wilfried Barner profitieren durften, jedoch auch mit großer Dankbarkeit und Freude über die gemeinsam verbrachten Stunden zurückblicken lässt. Was Barner schlussfolgernd in einer seiner ersten Studien über Seneca bemerkt hat, lässt sich gleichsam auch auf die Bedeutsamkeit seiner eigenen philologischen Tätigkeit und die spezifische Magie seines philologischen Arbeitens und Lehrens beziehen: Lessing „hat schon seine Zeitgenossen – und gerade diejenigen seines eigenen Standes – oft genug durch seine Beweglichkeit und durch seine kritische Insistenz verunsichert und sie zur Bloßlegung ihrer Vorurteile gezwungen. Wenn seine Beschäftigung mit Seneca noch heute zum Nachdenken über Tradition und Rezeption der Antike anregen kann, so ist dies nicht so sehr ein Stück ‚Nachleben‘ Senecas, sondern bereits ein Stück Wirkungsgeschichte Lessings“.

Titelbild

Wilfried Barner: „Laut denken mit einem Freunde“. Lessing-Studien.
Herausgegeben von Kai Bremer.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
452 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319059

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