Paradies mit Fehlern

Zoë Becks neuer Kriminalroman und seine schöne neue Welt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie es scheint, gibt es eine Art Paradigmenwechsel im Krimi, häufen sich doch die Texte, in denen das Szenario in eine nähere oder weitere Zukunft verlegt ist, die Erzählung aber über das Krimi-Schema abgewickelt wird. Soll heißen: Es gibt – bevorzugt – einen Mord, und seine Aufklärung wird unter den Bedingungen einer angenommenen künftigen Welt vorangetrieben, wobei – bei dieser Gelegenheit – einige bereits in unserer Gegenwart kritische Themen diskutiert werden: Totalitarismus, Biopolitik, politische Systeme, technische Entwicklungen und ihre gesellschaftlichen Implikationen überhaupt. Das ist eh ein Muster der Science Fiction, wird aber angesichts verstärkter Friktionen im politischen System der Gegenwart nochmals besonders aufgeladen.

An dieser Stelle eine Bitte an Leser/innen, die über Inhalte nichts wissen wollen: Bitte lesen Sie nicht weiter, denn was im Weiteren folgt, ist eine kritische Diskussion des Konzeptes, das Zoë Beck in Paradise City umsetzt. Und das geht leider nicht, ohne dass doch das eine oder andere über die Handlung und über den/die Täter/in mitgeteilt wird. Und das ist oft nichts Positives.

Aber kommen wir zunächst zum Interessanten und Gelungenen: Das Szenario, das Beck entwirft, ist plausibel aus der Gegenwart entwickelt und zugleich offen genug, um nicht allzu künstlich zu erscheinen. In dieser näheren Zukunft sind die Küstenregionen von Überflutungen bedroht. Die gesamte, unter anderem durch Seuchen deutlich reduzierte Bevölkerung und damit sämtliche gesellschaftliche und politische Institutionen haben sich nach Süden zurückgezogen. Zentrum ist die Region um Frankfurt am Main, wo ein riesiges urbanes Areal entstanden ist, samt Regierungssitz und allem was dazugehört. Berlin ist eine Kulissenstadt (wo ist der Unterschied zu heute?), die Regionen nördlich von Berlin sind nahezu entvölkert. Die Infrastruktur in den Randregionen ist extrem ausgedünnt, während in den neuen urbanen Flächen die Bevölkerung ziemlich gut versorgt ist. Individualverkehr ist in den Städten untersagt, die Mobilität wird vor allem über den Öffentlichen Nah- und Fernverkehr sichergestellt. Es herrscht ein strenges, aber allgemein akzeptiertes Gesundheits- und Öko-Regime. Wohnraum wird nach Bedarf und sozialem Profil zugewiesen. Die Stadtplanung überplant die bisherigen Nutzungsräume und fasst sie rigoros zusammen.

Nicht nur die weibliche Emanzipation ist weit vorangeschritten. Heterosexualität ist eine von mehreren Ausrichtungen, die Zusammensetzung von Paaren und Familien ist weitgehend offen. KI ist – naheliegend – ein tragender Faktor in dieser schönen neuen Welt, die als eine Art verdeckt totalitäres Zustimmungs- und Überwachungsregime beschrieben wird, in dem die Medien angepasst und staatstragend sind. Nahezu alle tragen sogenannte Smart Cases, die als aufgemotzte Smart Phones zu denken sind, sehr mächtige Instrumente darstellen, Bewegungsprofile erstellen und etwa auch den Personalausweis ersetzen. Um den Anschein einer offenen Gesellschaft aufrecht zu erhalten, werden kritische Medienportale zugelassen, wenngleich es ihnen nur selten gelingt, Politik direkt zu beeinflussen oder die Öffentlichkeit zu bewegen. Hin und wieder ein zurückgetretener Politiker, dessen Korrumpierbarkeit zu offen zu Tage trat, muss reichen – und ist anscheinend nicht systemrelevant, wenn denn das Regime solche Enthüllungen zulässt.

Zentrales Element des Gesundheitsregimes ist eine App namens KOS, die der Überwachung und Steuerung der individuellen Gesundheit dient, permanent Daten aufzeichnet, die Dosierung von Medikamenten vorgibt und zur Ruhe- respektive Aktivphasen aufruft. Insgesamt ist das Regime auf die Optimierung von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtet, was – wie im Laufe der Erzählung vorgeführt wird – dazu führt, dass chronisch oder unheilbar Kranke ausgesondert werden und die Pränataldiagnostik nicht zuletzt dazu dient, Behinderungen oder Einschränkungen frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Wenn es aber im Interesse aller ist, ist dagegen nichts zu sagen.

Nicht Normgerechte haben da keine Stimme, da sie ja erst gar nicht zur Welt kommen, und wenn doch, dann werden sie in einen gesonderten Bereich verschoben, ausgegrenzt, wenn nicht eliminiert. Krankheiten gelten bis auf wenige Ausnahmen als überwunden. Organische Schwächen wie etwa das Herzversagen der Protagonistin können ohne weiteres ausgeglichen werden. Transplantationen sind kein Thema mehr. Lediglich bei psychischen Problemen tut sich das System ein bisschen schwer, was aber halbwegs totgeschwiegen werden kann. Denn, so wird es wenigstens im Laufe der Erzählung herausgearbeitet, KOS soll ein Exportschlager werden.

Dagegen spricht, dass KOS – wie es das Problem vergleichsweise unterkomplexer KI ist – seine Grundprogrammierung, die Sicherung menschlichen Lebens, eigenwillig interpretiert. Es stellt die üblichen kurzschlüssigen Berechnungen auf, in denen Kollateralverluste zugunsten des höheren Zieles hingenommen werden. So schützt KOS das Leben einer Probandin – die dann zufälligerweise auch die Hauptfigur des Romans ist – indem es eine Abtreibung gegen den Willen der Frau vornimmt. Das wäre für ein Exportprodukt ein entscheidender Mangel, weshalb dieser auch zu unterdrücken ist. Die Regressforderungen würden den Profit schnell auffressen.

Und an dieser Stelle lässt sich einhaken, denn so brillant Becks Basisszenario einer Zukunftsgesellschaft ist, so wenig funktioniert der Roman. Das fängt bereits bei einigen Ausstattungen der Zukunftsgesellschaft an, denn dass es sich faktisch um eine Diktatur handelt, wird nicht vorgeführt, sondern dekretiert. Weder wird erkennbar, weshalb die Massenmedien so angepasst sein sollen, noch wieso sie dann Feigenblattmedien brauchen wie die Plattform, für die die Protagonistin – naheliegend verdeckt – arbeitet. Wie es durchgängig möglich sein soll, in einem derart flächendeckend überwachten Staatsgebilde, unerkannt für eine solche Website zu arbeiten, wird zwar angedeutet, aber überzeugend ist das nicht. Es stimmt also irgendwas nicht im Staate.

Sogar was den Fall selbst angeht, fehlt es dem System (und damit dem Roman) an Motiv, wenn auch nicht an Gelegenheit: Beim Showdown sollen die Störenfriede, die die Schadhaftigkeit von KOS aufdecken wollen, beseitigt werden, was misslingt. Auffallend ist, dass die Gesundheitsministerin, die im System eine zentrale Position einnehmen müsste, bekennt, fremden und nicht weiter benannten Mächten („Staatsschutz, Geheimdienst. Regierung. Die, für die ich arbeite.“ Hä?) unterworfen zu sein, die sie zum einen oder anderen gezwungen hätten. Wenn denn aber schon die Regierung selbst nicht mehr Akteurin ist, wer dann? Es fielen einem einige aktuelle Verschwörungstheorien ein, die genau da hineinpassen würden.

Dann dreht sich ein großer Teil der Handlung über den Umgang des Systems mit den Gehandicapten und Unangepassten. Die werden erst an die Peripherie gedrängt, wo sie mit aller Not überleben. Später und auf Betreiben der späteren Gesundheitsministerin werden sie in abgeschlossene Bewahranstalten verbracht, wo sie zwar noch zur Last, aber nicht mehr auffallen, vor allem nicht mehr der destruktiven App (die anscheinend nicht mit dem Finanzhaushalt verlinkt ist, in dem die Ausgaben für eine solche Institution doch zu finden sein sollten). Der Fall, der sich vorgeblich zum derart systemsprengenden Skandal ausweitet, dass Mord und Totschlag keine zu hohen Kosten mehr sind, dreht sich aber im Wesentlichen um die kasernierten Extraordinären, die entfliehen und dabei umkommen. Vermeintliche Schakalbisse sollen dafür verantwortlich sein. Aber wo wäre der Skandal, wenn das rauskäme? KOS bekäme alles mit? Die Leute würden durchdrehen? Massenpanik? Wieso? Der zu fürchtende Skandal zündet nicht wirklich.

Schließlich noch zur Durchführung der Erzählung selbst, die – wie bereits zu erkennen ist – daran leidet, dass sie zu viel mittragen muss. Da gibt es eine Hauptfigur, Liina, die in die Uckermark reist, um eine absurde Schakalbissgeschichte zu recherchieren, nichts ahnend, was dahintersteckt. Nun ist diese Liina die Loverin des männlichen Chefs des alternativen Medienportals, und als der auf der Intensivstation landet, angeblicher Selbstmordversuch, ist klar, dass irgendwas im Busch steckt. Zu allem Überfluss haben Liina und ihr Chef, Yassin, eine Vorgeschichte, die unglücklich geendet ist. Warum? Weil Liina unter Herzversagen leidet, eine Herztransplantation erhält und sich völlig zurückzieht. Aber nicht nur das, das transplantierte Herz versagt nach einiger Zeit, und Liina erhält ein Ersatzherz, das aus ihrem eigenen Gen-Satz entwickelt worden ist. Alles streng geheim. Liina ist nun das eigentliche Opfer von KOS, denn sie ist von Yassin schwanger und KOS treibt das Kind ab, denn Liina, das streng geheime Organexperiment, darf keinem Risiko ausgesetzt werden.

Aber damit noch nicht genug, denn Liinas Jugendfreundin Simona ist nicht nur die amtierende Gesundheitsministerin, sondern hat ursprünglich auch KOS programmiert und später das System entwickelt, mit dem die Gehandicapten eingekerkert werden. Liinas eigenwilligen Jugendausflügen ist es zu verdanken, dass Simona überhaupt mit dem Thema in Kontakt gekommen ist und darauf ihre weitere Karriere aufgebaut hat. Sogar die gegenwärtige Leiterin der bei Rostock angesiedelten Anstalt namens Martha haben die beiden als Jugendliche bereits kennengelernt. Das ganze System geht nun hoch, weil Simonas Lebensgefährtin Patricia, die an psychischen Störungen leidet, zu Tode kommt, als sie in die Anstalt eindringen will.

Soll im Wesentlichen heißen, dass das, was Beck erzählt, unerhört unwahrscheinlich enggeführt wird: Alle Akteure sind irgendwie miteinander verbunden und haben diverse Bring- und Holschulden, Vor- und Nachgeschichten. Es gibt sogar einen behinderten Bruder Liinas, den sie ihr Leben lang gehasst hat und der vorgeblich vor einiger Zeit gestorben ist. Und prompt trifft sie ihn in der Rostocker Bewahranstalt einigermaßen munter wieder. Klein ist diese Welt.

Was sogar begründet ist, denn Beck löst mit einem solch enggeschnürten Personal das basale Problem jedes Krimis: Wie denn die diversen Handlungen und Akteure, die den Fall bilden, zusammengebracht und verbunden werden können, wie sie überhaupt erkennbar werden können. In einer Welt, in der alles verbunden ist, ist das kein Problem, zumindest keines, das Begründungsaufwand generiert. Ohne die Jugendbekanntschaft zwischen Simona und Liina gäbe es keine Möglichkeit für die beiden, überhaupt in Kontakt zu kommen. Ohne die Schwangerschaft würde die Motivation Liinas deutlich abgeschwächt, ohne die Abtreibung bliebe das Gefährdungspotential von KOS einigermaßen blass. Ohne Liinas Herzprobleme hätte sie keinen Zugang zum kritischen Bereich des Gesundheitssystems, in dem die geheimen Forschungen betrieben werden. Usw.

Das Problem aber, das Beck sich mit einer solchen Konstruktion einhandelt, ist, dass die Geschichte selbst konstruiert erscheint und äußerst inplausibel und unwahrscheinlich wird. Die Autorin suspendiert zudem zugleich den doch so wunderbaren Entwurf einer nicht nur schönen neuen Welt. Böswillig gesagt, bleibt am Ende eine Art Friends- and Family-Programm, das von einem undefinierten Bösen aus dem Hintergrund, wahlweise dem Weltall oder dem Sumpf (warum eigentlich nicht?) attackiert wird, soweit es nicht eh autoaggressiv agiert. Was zugleich ein Appell für Fokussierung und den bewussten, wenn nicht reduzierten Einsatz von Mitteln im Kriminalroman sein soll.

Titelbild

Zoe Beck: Paradise City. Thriller.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
280 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518470558

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