Das 20. Jahrhundert als Neuland der Briefforschung

Ein Sammelband von Sabina Becker und Sonia Goldblum widmet sich „deutschsprachigen Briefdiskursen zwischen den Weltkriegen“

Von Jörg SchusterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Schuster

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 18. Jahrhundert gilt als „Blütezeit“ der Briefkultur und ist entsprechend epistolografisch bestens erforscht. Dagegen war insbesondere der Brief im 20. Jahrhundert bislang kaum Gegenstand systematischer Studien. Sabina Becker und Sonia Goldblum nehmen das zum Anlass, in einem Sammelband deutschsprachigen Briefdiskursen der 1920er und -30er Jahre nachzugehen. Das wirkt zunächst ungewöhnlich, da die Zeit der Weimarer Republik eher in punkto Populärkultur und Massenmedien Aufmerksamkeit erregt. Die Kommunikationsform Brief ist in dieser Periode aber keineswegs anachronistisch. Das belegen einige Beiträge des Bandes nachdrücklich, und auch das Vorwort versucht eine solche These zu begründen, etwa indem es auf die „Laboratoriumsfunktion“ des Briefs verweist.

Generell ist dieser Part der Herausgeberinnen jedoch eher fragwürdig. Wenn sie medientheoretisch extrem unterkomplex argumentieren, aus der Beschleunigung des Transports folge eine wachsende „Natürlichkeit und Unmittelbarkeit der Kommunikation“, so demonstrieren sie damit, dass ihnen die innovativen Ansätze der Briefforschung innerhalb der letzten drei Jahrzehnten leider entgangen sind. Was die Konzeption des Bandes betrifft, verwundert insbesondere, dass die – unter Umständen durchaus sinnvolle – Verlängerung des Untersuchungszeitraums über das Jahr 1933 hinaus bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs weder genau begründet noch heuristisch nutzbar gemacht wird. Bedauerlich ist zudem eine für die angesehene edition text + kritik ungewöhnliche Reihe sprachlicher Fehler.

Zweifellos bereichert der Blick auf Briefwechsel der 1920er und -30er Jahre unser Bild der Epoche. Man könnte nun also rekapitulieren, wie die Aufsätze des Bands hierzu auf jeweils unterschiedliche Weise beitragen. Man kann sich ihm aber auch auf ganz andere Weise nähern, indem man fragt, wie denn hier mit der Textsorte Brief umgegangen wird, oder genauer: ob die untersuchten Korpora auf ihren spezifischen literarisch-medialen Eigenwert hin untersucht werden. Damit steht und fällt der Wert der Analysen in brieftheoretischer Hinsicht.

Geht man die Beiträge unter diesem Blickwinkel durch, so ergibt sich ein sehr heterogenes Bild. So liefert etwa Gérard Raulet eine dokumentarische Rekonstruktion der intellektuellen Beziehung zwischen Ernst Bloch und Walter Benjamin, die genau und kenntnisreich ist, die Briefe jedoch nur als Quellen auswertet. Auch Daniel Meyers Aufsatz zu Oswald Spenglers Briefwechseln ist eine materialreiche Dokumentation. Ähnliches gilt für die Beiträge zu den Korrespondenzen zwischen Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno (Olivier Agard) sowie zwischen Karl Wolfskehl und Albert Verwey (Chiara Conterno). Marion Brandt beschränkt sich darauf, die sehr heterogenen Briefwechsel Stanislawa Przybyszewskas inhaltlich zu skizzieren.

Demgegenüber leistet Robert Krause eine eindrucksvolle Mikroanalyse des einzigen Briefs von Hermann Broch an Robert Musil vom September 1933. Die für den Band typische Unentschiedenheit, Briefe als Belege auszuwerten oder sie als Artefakte und kommunikative Phänomene ernst zu nehmen, äußert sich hier bezeichnenderweise darin, dass der rein inhaltliche Aspekt, Brochs frühe Rezeption Martin Heideggers, Beiwerk außerhalb der Briefanalyse bleibt. Elsbeth Dangel-Pelloquin widmet sich Hugo von Hofmannsthals verstörend unreflektiertem und unangemessenem Briefschreiben um 1920, wobei eher die pathologische Seite des Autors als die zeitdiagnostische Relevanz deutlich wird. Gleich zwei Beiträge widmen sich dem epistolaren Œuvre Thomas Manns, während für die Briefkultur der Zwischenkriegszeit so wichtige Autoren wie Rainer Maria Rilke oder Rudolf Borchardt fehlen. Friedhelm Marx wendet sich konzise seinen Offenen Briefen zu, während Jochen Strobels interessanter methodologischer Versuch, Briefwechsel einer Art distant reading zu unterziehen, an seine Grenzen gerät, indem ein Narrativ allein anhand einer Regestausgabe analysiert und schließlich noch Joseph von Eichendorffs Lyrik zum Vergleich herangezogen wird.

Herausragend in briefwissenschaftlicher Hinsicht sind die Beiträge von Isolde Schiffermüller und Renate Stauf. Schiffermüller nutzt im Hinblick auf Walter Benjamins epistolare Beschäftigung mit Franz Kafka die Begriffe des Denklaboratoriums und des Reflexionsraums und spürt den spezifischen medialen Potenzialen zwischen epistolarem und essayistischem Schreiben, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit nach. Auch Renate Stauf kompensiert das im Band herrschende Theoriedefizit, indem sie die inszenatorischen Qualitäten, das diskursive Erzeugen von Realität im Brief hervorhebt. An Friedrich Gundolfs Briefwechsel mit Elisabeth Salomon zeigt sie vor diesem Hintergrund anschaulich, wie die Liebeskorrespondenz gerade durch ihren weiblichen Part in ein deutliches Spannungsverhältnis zu den Normen des George-Kreises gerät. Zumindest in diesen beiden Beiträgen werden Wege aufgezeigt, wie eine angemessene literatur-, kultur- und medienwissenschaftliche Beschäftigung mit Briefen des 20. Jahrhunderts aussehen kann.

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Sabina Becker / Sonia Goldblum (Hg.): Deutschsprachige Briefdiskurse zwischen den Weltkriegen. Texte – Kontexte – Netzwerke.
edition text & kritik, München 2018.
228 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783869167411

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