Utopische Gedanken?

Aaron Benanav denkt in „Automatisierung und die Zukunft der Arbeit“ über Ökonomie, Gesellschaft und Politik heute nach

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Denkansätze, die die marxistische Theorie und insbesondere die Kritik der politischen Ökonomie berücksichtigen oder darauf fußen, bilden gegenwärtig eine Ausnahme. Der Wirtschaftshistoriker Aaron Benanav indessen scheut sich nicht, die postmoderne Arbeitswelt sowie mögliche Entwicklungen, die sich mit Digitalisierung und Automatisierung verbinden, kritisch zu reflektieren, marxistische Ansätze ins Gespräch zu bringen und die Welt von heute auf gewisse Weise multiperspektivisch zu untersuchen. Auch eine fiktionale Gestalt wie Jean-Luc Picard, Kapitän des Raumschiffs Enterprise, erscheint gewissermaßen als postmoderne Referenz für utopische Aussichten tauglich.

Benanav forscht an der Berliner Humboldt-Universität und argumentiert aufs Ganze gesehen explizit kapitalismuskritisch. Er äußert sich über eine Vielzahl zeitgenössischer Phänomene und zeichnet ein düsteres Bild dieser Zeit, die „nicht geprägt ist von Tischtennis spielenden Konsumrobotern“ oder „sauberen, automatisierten Fabriken“, sondern von „maroder Infrastruktur und deindustrialisierten Städten, überarbeiteten Pflegekräften und unterbezahlten Verkäuferinnen sowie von einer gewaltigen Aufstauung finanzialisierten Kapitals, das immer weniger Anlagemöglichkeiten findet“. Sprachsensible Leserinnen und Leser werden bei der Lektüre öfter rätseln und stutzen – mit „finanzialisiertem Kapital“ etwa scheint hier schlicht „Finanzkapital“ gemeint zu sein.

Im Weiteren verbirgt sich die begründete Kritik an gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnissen heute hinter wuchtigen Metaphern und spröden, rhetorisch aufgeladenen Vergleichen. Benanav schreibt etwa, dass „ärmere Haushalte“ sich heute „mit Krediten über Wasser zu halten“ hoffen. Hinsichtlich der Diskussion um das „bedingungslose Grundeinkommen“, das den Arbeitern nach der Meinung der Unterstützer „mehr Macht in Konflikten mit den Arbeitgebern verschaffen“ würde, führt der Historiker aus: „Mit diesem Argument zäumt man das Pferd in Wirklichkeit vom Schwanz auf, denn für die Durchsetzung eines BGE, das hoch genug ist, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, bräuchten die Arbeiter zunächst einmal mehr Macht.“ Lesend entsteht die Frage: Von welchem Pferd mag hier die Rede sein? Benanav versucht auch, die Corona-Pandemie in den Automatisierungsdiskurs einzubeziehen. Zahlreiche Themen und Beispiele werden angeführt und aufgebracht, etwa über die Digitalisierung allgemein und soziale Medien im Internet:

Statt den allgemeinen Fortschritt der künstlichen Intelligenz voranzutreiben, verbringen die Programmierer bei Facebook ihre Zeit mit dem Studium von Spielautomaten, um herauszufinden, wie sie die Nutzerinnern süchtig nach ihrer Website machen können – damit sie regelmäßig wiederkommen, Benachrichtigungen abrufen, Inhalte posten und sich Werbung ansehen.

Der Autor spricht über die Möglichkeiten eines alternativen Internets. Weiterhin stellt er fest: „Das heutige Internet, von der US-Regierung entwickelt und von kapitalistischen Unternehmen geprägt, ist nicht das einzig mögliche.“ Von welcher US-Regierung mag hier die Rede sein? Das bleibt im Unbestimmten. Benanav spricht sogleich über die Automatisierung: „Das Kapital entscheidet, welchem möglichen Pfad der technische Fortschritt folgt, und behält so letztlich die Kontrolle über den Arbeitsprozess.“ Dieses ist nicht weniger allgemein formuliert. Illustrativ wäre es, aufzuzeigen, dass auch sogenannte Drittmittelgeber in der Wissenschaftsförderung etwa in den Geisteswissenschaften Bereiche unterstützen, die einen scheinbaren oder tatsächlichen Nutzen für Politik und Ökonomie heute versprechen, statt in die vergleichsweise spröde und unzeitgemäß anmutende Grundlagenforschung. In Philosophie etwa werden, ob berechtigt oder nicht, darüber gehen die Meinungen auseinander, Sektoren wie Bio- und Medizinethik seit Jahrzehnten stärker gefördert als die Erkundung der mittelalterlichen Denkgebäude. Es ist aber sehr vereinfacht, wenn bei Benanav allgemein nur vom „Kapital“ gesprochen wird – denn hier handelt es sich mitnichten um einen einheitlich agierenden Verbund von Kapitalisten oder einer verborgenen Globalökonomie. Weitaus zielführender wäre hier eine detaillierte Analyse gewesen, in der nicht beispielhaft angedeutet, sondern substanziell aufgezeigt würde, wie „das Kapital“ entscheidet. Die Kapitalisten von heute bilden ja kein Kollektiv. Dass Unternehmenseigner die „Kontrolle über den Arbeitsprozess“ bewahren möchten, wie Benanav ausführt, wird niemanden verwundern. Wie ließe sich das denn ändern?

Der Autor wünscht sich eine Neubesinnung auf das „Projekt der Emanzipation“ – als „kollektives gesellschaftliches Projekt“ vorgestellt –, platziert in einer „Zeit des hartnäckig verschanzten Neoliberalismus, der wütenden Ethnonationalismus und immer häufiger klimabedingte Katastrophen wachsenden Ausmaßes hervorruft“. Referiert und vorgestellt wird eine Art aktualisierte Form eines postmodern gestalteten Reichs der Freiheit, in dem die Menschen sich nicht mehr durch die „allgegenwärtige materielle Unbestimmtheit“ bedroht fühlen:

Wie von konservativen und linken Automatisierungstheoretikern gleichermaßen anvisiert, würde das Ende des Mangels Menschen die Möglichkeit eröffnen, freiwillige Zusammenschlüsse mit anderen aus aller Welt zu bilden, sei es ein Arbeitskreis für mathematische Grundlagenforschung, ein Klub zur Erfindung neuer Musikinstrumente oder ein Verband für den Bau von Raumschiffen.

Die „utopischen Gedankenexperimente“ sollen hilfreich dafür sein. Aaron Benanav ermutigt dazu, Fragen zu stellen wie: „Worin besteht letztlich der Horizont der Menschheit?“

Dieser Essay führt zu einer gewissen Ratlosigkeit. So vernünftig es zu sein scheint – und diese Intention verfolgt Aaron Benanav zweifellos –, Marx‘ Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und seine Kritik der politischen Ökonomie neu zu lesen und zu denken, so viele Fragen lässt dieses partiell zwar anregende, aber vor allem sprachlich und argumentativ nicht überzeugende Buch offen. Benanav übt eine weitläufige Kritik an der Gegenwart in der sogenannten globalisierten Welt. Die kritisch-reflektierte Lektüre der Werke von Karl Marx könnte aber im Vergleich erhellender sein für eine fundierte Auseinandersetzung mit den heute bestehenden gesellschaftlichen sowie politischen Verhältnissen, die auf ökonomischen Bedingungen beruhen.

Titelbild

Aaron Benanav: Automatisierung und die Zukunft der Arbeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
195 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127704

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