1,3 kg deutschsprachige Lyrikerinnen

Anna Bers setzt mit „Frauen | Lyrik“ einen neuen Standard für Lyrik-Anthologien

Von Martina WernliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Wernli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Viele Anthologien deutschsprachiger Lyrik haben ein Problem: In ihnen sind überwiegend Gedichte von Autoren vertreten. In der Suhrkamp-Anthologie Deutsche Lyrik (hg. v. Hanspeter Brode 1990) ist die erste erwähnte Autorin Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848). Ihre Gedichte tauchen erst in der zweiten Hälfte des Bandes auf – auf Seite 199 von 374. Die Repräsentation von Autorinnen fehlt also über mehrere Epochen hinweg. Bei Brode kommen insgesamt ganze vier Autorinnen vor, das entspricht aufgerundet 4% der genannten 107 Namen. Die Anthologie endet mit Rolf Dieter Brinkmann 1975 und führt damit nicht einmal in die historische Gegenwart der Publikation. 

Herausgeber*innen und Verlage, denen dieses Problem bewusst war, haben teilweise Sammlungen von Gedichten von Frauen nachgereicht. Diese Anthologien sind also gegendert, sie sprechen auch nicht von Autorinnen, sondern explizit von Frauen. Damit reproduzieren sie zum einen eine Geschlechterdualität und werten die Autorinnen zum anderen in der Nachordnung ab. Beispielsweise folgte im Kröner-Verlag auf die Sammlung Die berühmtesten deutschen Gedichte im Jahr 2018 das Werk Die berühmtesten deutschen Gedichte von Frauen vom gleichen Herausgeber, Hans Braam. 

Der Reclam-Verlag wählte einen anderen Weg. Die erweiterte Neuausgabe von Dietrich Bodes 1984/2018 erschienener Gedichtanthologie Deutsche Lyrik enthält in einer neuen Aufmachung neben anonym überlieferten Gedichten 143 Autor*innennamen. In der Neuausgabe sind zwölf Frauen vertreten, das entspricht 9%. Während die Gegenwartsliteratur mit Autorinnen angereichert wurde, blieb die Sammlung in Bezug auf die historischen Autoren unverändert bestehen – als erste deutsche Lyrikerin wird wiederum Droste-Hülshoff genannt. Der Reclam-Verlag erklärte, dieser Umstand sei „herstellerischen Gründen“ geschuldet, es sei nicht möglich gewesen, das ganze Buch zu überarbeiten (@ReclamPresse, 7.2.2020). Die Druckvorlage wurde also bloß in Bezug auf die Gegenwartsliteratur angereichert. Reclams Kommunikationsabteilung verwies zu jenem Zeitpunkt, sich rechtfertigend, auf die damals geplante Anthologie Frauen | Lyrik, um die es hier geht. Anna Bers, Literaturwissenschaftlerin der Universität Göttingen, sollte es für Reclam also richten. 

Es kann vorweggenommen werden: Diese Anthologie setzt neue Maßstäbe, nicht nur wegen ihres Gewichts. Bers präsentiert über 500 Gedichte, lässt das Werk mit einem der Merseburger Zaubersprüche beginnen, streift das Mittelalter und setzt dann mit der Barockliteratur so richtig ein. Der knapp 900-seitige Band endet mit einem Gedicht der kürzlich verstorbenen Barbara Köhler (sie bewundern sie) auf jener Fassade, auf die Eugen Gomringers avenidas (über die Bers auch wissenschaftlich publiziert hat) gemalt war – die Herausgeberin schließt mit einer Fotografie davon ihren Überblick mit dem Hinweis auf eine Debatte um Lyrik und Sexismus ab. Damit ist der chronologische Aufbau des Buches beschrieben, das Buch bietet aber viel mehr und es verlangt auch mehr von seinen Lesenden – es ist gleichzeitig Labyrinth, zu dem Bers unterschiedliche Ariadnefäden offeriert. Das sind mindestens drei Hilfestellungen: ein Punktesystem zu Perspektiven, angehängte Biogramme und ein 50-seitiges Nachwort. 

Die unterschiedlichen präsentierten Perspektiven bilden das eigentlich Neue an dem Buch: Jedes Gedicht wird mit solchen Punkten markiert, erstens sind es Gedichte, die kanonisiert wurden, zweitens Gedichte, die wenig bekannt, aber „typisch für eine bestimmte literarische Zeit sind“ – als Beispiel mag Else Lasker-Schülers Elbanaff gelten, ein nicht sehr bekanntes, gleichzeitig in seiner Lautmalerei zeittypisches Gedicht. Mit einem dritten Punkt sind Gedichte bezeichnet, die in einem weiteren Sinne mit dem Stichwort ‚Emanzipation‘ verbunden werden können. Die vierte Gruppe versammelt „weibliche Stimmen“, in denen „weibliche Ichs und nicht-männliche Perspektiven“ zur Geltung kommen. Diese Gruppe ist es, welche die Geschlechterdichotomie und die Ausschlussmechanismen (in diesem Fall gegenüber Männern) der ‚Frauen‘ im Titel des Buches unterläuft: In dieser Gruppe werden nämlich auch Gedichte von Autoren vorgestellt. Das heißt umgekehrt, dass Gedichte von Männern nur dann aufgenommen wurden, wenn sie eine weibliche Perspektive darstellen. 

Ein Gedicht kann mit mehreren solcher Punkte bezeichnet werden – Kerstin Hensels Räumarbeit ist gleichzeitig typisch für seine Entstehungszeit und emanzipatorisch ausgerichtet, bekommt also den zweiten und dritten der vier Punkte. Diese Einteilung bildet eine gute Ausgangslage für Diskussionen, das Buch bietet damit nicht nur eine Materialsammlung, sondern transportiert außerdem Bers Thesen mit, die zum Beispiel in Bezug auf eine Beurteilung von emanzipatorischen Zügen konstruktiv hinterfragt werden können.

Einwände, die man zur Ausrichtung der Anthologie vorbringen könnte, entkräftet Bers in ihrem Nachwort – etwa den Vorwurf, dass mit den „Frauen“ im Titel die Geschlechterdichotomie reproduziert und bestätigt würde. Bers geht grundsätzlich von mehr als zwei Geschlechtern aus, eines ihrer Ziele ist es jedoch, „auch frühere geschlechtliche Zuordnungen historisch adäquat abzubilden“ – dafür braucht sie die (binär gedachte) Kategorie ‚Frau‘ als eine historisch wirkmächtige Einteilung. Auch einem möglichen Vorwurf, mit den zeittypischen Gedichten würden möglicherweise auch qualitativ nicht hochstehende Gedichte abgedruckt, begegnet Bers im Nachwort. Ihrer Meinung nach ermöglicht eine qualitative Heterogenität der Gedichte, die Mechanismen der Wertung überhaupt zu reflektieren.

Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Tatsache, dass Gedichte einer bestimmten Autorin im Buch nicht zwingend aufeinander folgen müssen, man sie also nicht als eine Gruppe vorfindet. Die Gedichte von Ingeborg Bachmann werden beispielsweise unterbrochen von Autor*innen wie Peter Hacks, Inge Müller oder Silja Walter – das kann irritieren. Die Biogramme zum Schluss listen aber alle Gedichte einer schreibenden Person auf, sodass damit die Übersicht wieder hergestellt wird – wer also wissen möchte, mit wie vielen Gedichten Bachmann vertreten ist, erfährt dies aus dem entsprechenden Biogramm (es sind elf).

Begründet in persönlichen Vorlieben mag man in der Fülle der Gedichte auch einige Autorinnen etwas schwach vertreten finden – beispielsweise wurden von Karoline von Günderrode nur zwei Gedichte (Liebe und Die eine Klage) aufgenommen (und Reclam will unverständlicherweise gerade die Anthologie von Hannelore Schlaffer zu Günderrode nicht mehr neu auflegen). Dafür sind andere stärker – oder überhaupt – vertreten, von den Romantikerinnen etwa auch Dorothea Schlegel, Sophie Mereau oder Sophie Tieck. 

So lässt sich in diesem grandiosen Mix vieles stöbernd entdecken und gezielt finden. Eine Anthologie, die neue Standards setzt und für die universitäre Lehre, die Schule sowie zukünftige Editionsprojekte wegweisend sein wird. 

Titelbild

Anna Bers (Hg.): Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache.
Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung.
Reclam Verlag, Stuttgart 2020.
879 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783150113059

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