Nur bei weiblichen Brustwarzen ist die Sache eindeutig
Löschen oder stehenlassen? Die Niederländerin Hanne Bervoets legt mit „Dieser Beitrag wurde entfernt“ einen verstörenden Kurzroman aus dem Inneren der sozialen Medien vor
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas für eine verstörende Szene: Da taucht auf dem Gebäudedach gegenüber ein Mann auf. Will er hinunterspringen? Schnell vertauschen alle Hexa-Angestellten ihre Bildschirme mit dem Fenster und beobachten den vermeintlichen Suizidversuch. Einer ruft sogar ungeduldig: „Herrgott, spring doch!“, ohne dass jemand protestieren würde, auch Kayleigh, Hanne Bervoets Ich-Erzählerin, nicht. Sie kann nur an die Folgen und möglichen Motive des Gesehenen denken, an das Blut, das gleich zu sehen sein wird. Später erinnert sie sich, dass ihr in diesem Moment vor allem ein Gedanke durch den Kopf geschossen sei: „Das hier verstieß (…) eindeutig gegen die Richtlinien“.
Die „Richtlinien“, das ist das bizarre Regelwerk, mit dessen Hilfe Kayleigh und ihre Kolleg:innen in Bervoets Roman ihren Job erledigen müssen. Für Hexa, den Dienstleister einer ungenannt bleibenden Social-Media-Plattform, arbeiten sie als Content-Moderator:innen. Tag für Tag müssen sie sich Hunderte von Beiträgen anschauen, die von Nutzer:innen als problematisch gemeldet wurden: Tierquälereien, Selbstverletzungen, sexuelle Gewalt, Verschwörungsvideos, Hassreden. So schnell wie möglich müssen sie entscheiden, ob der Beitrag stehenbleiben darf oder nicht. Manches hat schließlich doch einen „aufklärerischen Wert“, anderes geschieht, wie bizarr auch immer, trotzdem einvernehmlich. Nur wenn weibliche Brustwarzen zu sehen sind, ist die Sache eindeutig.
Dieser Beitrag wurde entfernt heißt die deutsche Ausgabe des neuen Romans der niederländischen Autorin Hanna Bervoets. Das 100-Seiten-Werk der 1984 in Amsterdam geborenen Autorin handelt von den immer diffuser werdenden Grenzen zwischen Realität und Virtualität, von Wahrheit und Selbstbetrug. Vor allem aber handelt der Roman von den psychischen Folgen einer, man kann es nicht anders sagen, Drecksarbeit, die die schillernde Welt der sozialen Medien deshalb mit sich bringt, weil sich hier die Menschen gern von ihrer schlechtesten Seite zeigen.
Die Erzählsituation ist durchaus raffiniert und spannungsförderlich: Kayleigh arbeitet längst nicht mehr für Hexa, sondern sitzt an einer Museumskasse; nebenbei macht sie eine Therapie. Inzwischen strengt ein Anwalt namens Stitic eine Sammelklage an, durch die ihre traumatisierten Kolleg:innen entschädigt werden sollen. Einer schläft inzwischen mit einem Gewehr am Bett, andere leiden an Verfolgungswahn oder sind depressiv geworden. Aber Kayleigh will sich an der Klage nicht beteiligen. Warum, das erklärt sie in dem Roman, der als Absageschreiben an „Herrn Stitic“ zu verstehen ist. Und der gleichermaßen Bericht wie Bekenntnis einer Erzählerin ist, die sich und ihrem Verstand nicht mehr über den Weg traut. Umso gebannter folgt man ihren Erinnerungen.
Denn die traumatisierende Wirkung dieses Jobs dringt nur schleichend in den Alltag der Hexa-Mitarbeiter:innen ein. Zunächst sieht im Leben der Protagonistin alles rosig aus: Kayleigh bekommt nicht nur endlich ihre Kreditschulden in den Griff, sie verliebt sich auch in eine Kollegin, Sigrid. Und die anderen im Team sieht sie als „Freunde“. Dass die Kolleg:innen abends in der Bar schon mal rassistische oder homophobe Sprüche klopfen, dafür hat Kayleigh durchaus Verständnis, jede*r muss mal Dampf ablassen. Eher lächerlich erscheinen ihr dagegen Sigrids Versuche, sich mit Meditation und bewusster Ernährung vom digitalen Dreck zu reinigen, der ihr Nacht für Nacht den Schlaf raubt. Dann ist da die seltsame Uhr, die einer ihrer Kollegen trägt und die ihn als Anhänger der Theorie von der „flachen Erde“ ausweist. Und wieso finden andere beim Gespräch in der Mittagspause plötzlich, die Sache mit dem Holocaust sei doch eigentlich „nicht richtig glaubwürdig“?
Zu letzteren gehört, wie sich herausstellt, auch Kayleighs Freundin, die sonst so empathische Sigrid, die als einzige dem vermeintlichen Selbstmörder auf dem Dach zu Hilfe eilen wollte. Hat Sigrid Recht mit ihrem Vorwurf, die Ich-Erzählerin überschreite ständig Grenzen, nicht zuletzt im Bett? Oder ist das nur Ausdruck ihrer Paranoia? So verstörend wie diese Beziehung gestaltet sich auch das Ende dieses empfehlenswerten Kurzromans über bislang wenig bekannte Schattenseiten von Social Media.
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