Unterm Tränenschleier

Marcel Beyers Frankfurter Poetikvorlesungen durchstreifen das „blindgeweinte Jahrhundert“

Von David BrehmRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Brehm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tränen, so bekundet bekanntlich der Schlager, lügen nicht. Sie dienen ihm daher als bevorzugtes Schmiermittel für Authentizität, als zuverlässiger Geschmacksverstärker im Emotionalen. Zielsicher lassen sich Tränen immer dort platzieren, wo große Gefühle behauptet werden, es diesen aber an einer Beglaubigung mangelt, die sich aus der Sache selbst ergäbe. Wo Erfahrung, Worte oder musikalische Mittel nicht hinreichen, um Mitleid und Rührung zu erzeugen, genügt nicht selten die beiläufige Erwähnung von Tränen, um aus einem indifferenten Publikum eine Gemeinschaft Ergriffener zu formieren. Und gerade weil sich Tränen im echten Leben nicht fälschen lassen, weil sie als Garant ‚echten‘ Empfindens gelten, vergessen wir im Schlager – und in anderen kulturellen Zusammenhängen – allzu gern ihren artifiziellen Charakter und das Kalkül hinter ihrer Gemachtheit. Tränen werden dann im präzisen Sinne das, was Roland Barthes als Mythos bezeichnet hat: Zeichen, bei denen wir blind für die schiere Tatsache werden, dass sie Zeichen sind – und somit anfällige Trägerelemente von Ideologie.

Der ZDF-Historiker Guido Knopp, die Helene Fischer der deutschen Geschichtswissenschaft, bedient sich exakt dieses mythischen Charakters von Tränen, um aus dem, was er „kalte“, analytische „History“ nennt, „warme“, emotionalisierende, fernsehabendtaugliche „Memory“ zu machen. Der Schriftsteller Marcel Beyer hat die erste seiner Anfang 2016 gehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen (aus denen nun ein Band mit dem tränenschweren Titel Das blindgeweinte Jahrhundert hervorgegangen ist) einer solchen Szene gedächtnispolitischen Träneneinsatzes gewidmet. Der von Beyer beobachtete Schauplatz, auf dem von Knopp in frivoler Weise Tränen in den Text der Geschichte hineinmontiert wurden, ist ebenfalls ein Frankfurter Hörsaal, der Ort nämlich von Theodor W. Adornos vorletzter Vorlesung, die unter dem Schlagwort „Busenattentat“ als Stunde des akademischen Vatermords der 68er in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Über Jahre hinweg, so berichtet Marcel Beyer, habe kein einziger derjenigen, die miterlebten, wie drei Studentinnen ihre Oberkörper entblößten und Adorno vom Katheder vertrieben, erwähnt, dass Adorno in diesem Moment Tränen in den Augen gestanden hätten. Nur einer, der Fernsehhistoriker Knopp eben, habe von Mal zu Mal nachdrücklicher zu Protokoll gegeben, dass der Philosoph Tränen „vergossen“ habe, ja dass ihm Tränen „die Wangen hinunterkullerten“, zuletzt gar, dass ihm dicke „Kullertränen aus den Augen herausgetropft“ seien.

„Ja“, so kommentiert Beyer diese Erinnerung, „Memory ist warm, und Memory kann, wie Happiness, leicht auch zu einer wunderbar warmen Waffe werden.“ Warum aber stirbt Adorno mit aufgemalten Fernsehtränen den Wärmetod des Infotainments? Wir wissen ja gerade nicht sicher, schreibt Beyer, was in Adorno, dem großen philosophischen Fürsprecher des Inkommensurablen, Unverständlichen, beim Anblick der ihrer Lederjacken entledigten Parzen vorgegangen ist. Die Tränen aber, die ihm zugeschrieben werden, enträtseln seinen letzten großen Auftritt und überführen ihn in eine behagliche Zone der Deutbarkeit. Tränen, so zeigt Beyer hier, entkomplizieren die Verhältnisse. Wer weint, wird einer von uns, wird uns verständlich, scheint buchstäblich sein Innerstes nach außen zu stülpen, kann sich uns nicht mehr entziehen. („Mir wär lieber du weinst“, singen derzeit folgerichtig AnnenMayKantereit, die Lieblingslieferanten handgeschöpften und tiefempfundenen Manufactum-Pops für Mitte-20-Jährige, „ich verstehʼ doch eh nicht, was du meinst“.)

Beyer nimmt diese frivole Retusche am Bilde Adornos – der Todfeind des Kitsches, „reduced to tears“ – zum Anlass, in immer neuen Konstellationen über die Macht und die Erscheinungsformen von Tränen in der jüngeren Geschichte nachzudenken. Die Welt des 20. Jahrhunderts, so Beyers Diagnose, liege unter einem einzigen Tränenschleier. Vor allem die Ära der alten Bundesrepublik – Knopps dick aufgetragene Fernsehkullertränen stehen hierfür emblematisch ein – erscheint Beyer geradezu ins Melodramatische gekippt.

Beyers Ansatz, ein Epochenbild von einem Motiv, einem Detail, einer so unscheinbaren wie machtvollen Pathosformel aus zu entwickeln, ist bestechend. Dem Büchner-Preisträger geht es in seinen Vorlesungen freilich gerade nicht darum, eine systematische Kulturgeschichte der Tränen zu schreiben. Beyer will seine Tränenerkundungen vielmehr als assoziative Randgänge verstanden wissen, als einen Versuch, „durch die Zeiten zu reisen auf der Suche nach Verbindungen, nach Wiederholungen, nach verblüffenden Ähnlichkeiten, nach Bildern, aus deren Überlagerung sich erhellende Schlüsse ziehen lassen.“ Leitend ist dabei ein Verfahren der Montage und Überblendung historisch mitunter weit entlegener Situationen, bei denen gelegentlich lange noch nicht einmal klar wird, inwiefern es hier überhaupt um Tränen gehen soll, bevor diese dann doch immer wieder verblüffend ins Spiel kommen.

Lesend wird man hier Zeuge eines Denkens und Schreibens, das sich dezidiert „ins Ungewisse“ begibt, indem es Situationen historischer Unschärfe aufsucht (Hat Helmut Kohl 1989 beim Besuch von Rainer Maria Rilkes Grab in Raron geweint? Was geschah zwischen Dominique Strauss-Kahn und einem Dienstmädchen 2011 in einem New Yorker Hotelzimmer?), um darüber ins Spekulieren zu geraten. Nicht so sehr das mit historischer Gewissheit Geschehene zieht Beyer in seinen Bann, sondern vielmehr das, was in den Zwischenräumen des in Bild, Text und Ton Überlieferten verschwindet: das historisch Denkbare, Möglichgewesene. Mit diesem feinen Möglichkeitssinn freilich begibt sich Beyer mitten auf die Hoheitsgewässer der Literatur. Und in der Tat: Noch die am flüchtigsten hingeworfenen von Beyers Tränenszenen bergen in sich den Stoff zu ganzen Novellen. Zu beobachten ist in diesen Poetikvorlesungen in hinreißender Weise, wie sich ein Autor ins historische Material verbeißt, ein halbes Jahrhundert maulwurfsartig durchwühlt und umgräbt, und dabei, langsam und unaufdringlich, ins Erzählen gerät. Marcel Beyers Literatur ist eine Literatur der Archive.

Etwas schade, dass es fast nur alte Männer sind, deren Tränen Beyer in seinem poetischen Lacrimarium gesammelt hat: Adorno, Strauss-Kahn, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Die Tränentagebücher des Ignatius von Loyola. Und Friedrich Kittler, dessen Thesen über Medientechnik und Krieg das theoretische Fundament zu Beyers großem Roman Flughunde (1995) bildeten, und der dem Autor nun als Opernkomponist im Traum erscheint: den Tränen nahe nach einer missglückten Premiere. Ebenso wie das Personal kommt auch die Sprache dieses Buches bisweilen eine Spur zu graumeliert daher, immer dann nämlich, wenn Beyers im Grunde atemberaubend elegante Prosa ins allzu Gravitätische und anspielungsreich Raunende abrutscht.

Meist aber gelingt Beyer ein hinreißender Seiltanz zwischen Tiefsinn und Leichtigkeit, melancholischer Kontemplation und pointierter Kulturkritik. Etwa, wenn er den von seiner Großmutter geliebten Goldjungen des Nachkriegsschlagers ins Visier nimmt: Wenn Heintje mit knabenhafter Unschuld singt: „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“, und damit die Großmutter zu Tränen rührt, dann entpuppt er sich als gespenstischer Wiedergänger eines Wehrmachtssoldaten, der diese Zeile 1941 in einem Durchhaltefilm für die Heimatfront auf den Lippen hatte. Ausgerechnet in „Freund Heintjes“ blondesten Schlagern bricht sich auf diese Weise das Verdrängte Bahn, noch im gesungenen Tränenverbot dringt der Schrecken des Krieges ein in die zu Trauer und Tränen unfähige Nachkriegswelt. Wie Beyer solche latenten Zusammenhänge aufschließt und erzählerisch fortschreibt, ist brillant. Gerade dort, wo er sich dem Kleinsten und Unscheinbarsten widmet, bleibt kein Zweifel: Wir haben es bei diesem Autor mit einem unserer Größten zu tun.

Titelbild

Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
271 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425787

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