Das schwere Gepäck der Familie

Maxim Billers brillante literarische Verarbeitung seiner Familiengeschichte im Roman „Sechs Koffer“

Von Doreen MildnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doreen Mildner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die einzige Bedingung, die Maxim Biller stellte, als er gebeten wurde, für das Süddeutsche Zeitung Magazin über seine Eltern zu schreiben: nur fiktional, nicht autobiografisch. Die Redaktion, die sich offensichtlich auf komplizierte Verhandlungen mit dem unbequemen Schriftsteller und Kolumnisten eingestellt hatte, ließ sich auf das Experiment ein, obwohl sie ursprünglich in zwei Heften über Mütter und Väter „echte Schicksale“ aus dem „echten Leben“ präsentieren wollte.

Entstanden – und im März 2017 im SZ-Magazin veröffentlicht – sind zwei unterhaltsame, lustige und zugleich traurige Kurzgeschichten, die beide 1965 im kommunistischen Prag, wo Biller 1960 geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, spielen. Diese beiden miteinander verflochtenen Geschichten, Vor der Flucht und Prager Depressionen, eröffnen nun Billers neuen, packenden Roman Sechs Koffer, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 steht.

Aus sechs Perspektiven geht darin ein oftmals auktorialer Ich-Erzähler dem tragischen Tod seines Großvaters nach, der 1960 auf dem Weg zu ihm, dem neugeborenen Enkel, am Moskauer Flughafen wegen ein paar schwarz verdienter Dollars festgenommen und ein paar Monate später hingerichtet wurde. Herauszufinden, wer aus der Familie – wenn überhaupt – den Großvater verraten hat, treibt den Erzähler in allen sechs Geschichten an und um, wobei er seinem pubertierendem Alter Ego den bei Weitem größten Raum für Spekulationen gibt.

Der 15-Jährige besucht im Sommer 1975 seinen Onkel Dima in Zürich – angeblich, um Beweise zu besorgen, dass eben jener seinen Großvater auf dem Gewissen hatte. Doch selbst als er Verhörprotokolle und Geheimdienstakten in der Wohnung seines Onkels findet, bleiben mehr Fragen als Antworten, und er muss sich eingestehen: „Ich war ein kleiner, gemeiner Berija, ein Besserwisser, ein eingebildeter, ahnungsloser Teenager, dessen größte Sorge es war, dass er von seinem Vater nicht beim Rauchen erwischt wurde und dass seine Mutter nicht die Taschentücher unter seinem Bett fand, mit denen er sich nach dem Onanieren abwischte und die er dort regelmäßig vergaß.“

Für einen Schulaufsatz muss der junge Erzähler Brechts Flüchtlingsgespräche lesen, die er als „eingebildete, kokette Scheiße“ abqualifiziert. Unwillkürlich muss man an Maxim Billers Auftritte als schonunglosem, aber wenn ihm ein Buch gefiel euphorischem Kritiker im neu aufgelegten „Literarischen Quartett“ denken, das er Anfang 2017 auf eigenen Wunsch verließ.

Seinem Roman Sechs Koffer stellt Biller ein bitter-ironisches Zitat aus eben jenem vom jahrelang staatenlosen Brecht im Exil geschriebenen Buch voran, das der herumschnüffelnde junge Ich-Erzähler zunächst schrecklich langweilig findet: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Der Satz entspricht Billers Selbstverständnis als jüdischem Schriftsteller in Deutschland, der – selbst als Kind 1970 mit seinen Eltern aus dem sowjetisch besetzten Prag geflüchtet – keiner Nationalität angehören will.

Doch wer hat nun den Großvater in Sechs Koffer verraten? War es der ungeschickte, schwache Onkel Dima? War es seine Frau, die schöne, traurige Tante Natalia, die mehrere Konzentrationslager und einen Todesmarsch überlebte, sich aber Jahre später das Leben nahm? War es vielleicht Onkel Lev, der beinahe von seinem eigenen Bruder ausgeliefert worden wäre und daraufhin über 20 Jahre nicht mehr mit seinen Verwandten spricht?

Es sei vorweggenommen, dass keine der liebevoll und witzig gezeichneten Figuren, deren Sichtweise der Erzähler raffiniert rekonstruiert und über verschiedene Jahrzehnte und Orte miteinander verknüpft, das Geheimnis dieser russisch-jüdischen Familie lüftet. Das mag erst einmal enttäuschen, doch der Roman bedarf keiner Auflösung. Weder muss der Leser wissen, was jenseits der Wahrheit der Figuren genau geschah, noch muss er sich den Kopf zerbrechen, was Autobiografie und was Fiktion ist. Maxim Biller hat sich – anders als seine große, ebenfalls schreibende Schwester Elena Lappin – entschieden, die Geschichte seiner Familie  literarisch zu verarbeiten. Wie auch in seinem letzten Buch, dem Mammutroman Biografie, der Biller zufolge von der Literaturkritik „nicht im Ansatz verstanden“ wurde, geht es ihm um die Verbindung zu unseren Vorfahren, um das, was aus uns spricht, was mittlerweile als transgenerationale Weitergabe wissenschaftlich belegt ist.

Insofern ist das nicht einmal 200 Seiten lange, brillant geschriebene und gestaltete Porträt einer durch Holocaust und kommunistischer Gewaltherrschaft entwurzelten und durch Antisemitismus geprägten Emigrantenfamilie auch als eine Einladung an seine Leser zu verstehen, sich zu fragen, wessen Kinder und Enkel sie eigentlich sind und wer und was aus ihnen spricht.

Titelbild

Maxim Biller: Sechs Koffer. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
198 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050868

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