Suchbewegungen eines Enkels im fremden Gefüge der Toten und Lebendigen

Ein dokumentarisch-poetischer Roman von Johannes Böhme

Von Oskar AnsullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oskar Ansull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auf der Aller glitten Ruderboote dahin, deren Ruderblätter auf dem Wasser auf und ab federten, mit geisterhafter Unbeirrbarkeit“. Dieser leichthin getuschte Satz steht im ersten Roman von Johannes Böhme – Das Unglück schreitet schnell –, ein nahezu poetisches Buch des Journalisten. Er lässt darin immer wieder Stimmen aus dem Echoraum der bald ganz fernen Zeit des Zweiten Weltkrieges hörbar werden, die er aus Briefen und Tagebüchern destilliert und vielstimmig instrumentiert hat. Ein Hörspiel fast, ein dramaturgisch gelungener Kunstgriff, als habe man das Radio angedreht und sei in eine Sendung geraten. Sie unterbrechen die einzelnen Kapitel des Buches, dessen erzählerisches Zentrum im niedersächsischen Celle-Westercelle bei Hannover angesiedelt ist. Dort wächst in den 1950er Jahren ein Junge heran, der Sohn eines höheren Landkreisbeamten, macht in Celle Abitur, geht nach Hamburg und wird 1987 der Vater von Johannes Böhme. Dieser wird Journalist und nimmt als Schriftsteller die Zeit seiner Kindheit, die des Vaters und insbesondere die Geschichte der am Ende dement gewordenen Großmutter in den Blick – um zu verstehen. Ein Jahrhundert fast, und es gerinnt nicht zu privater Familiengeschichte, ist kein Erfahrungsroman aus dem Jammertal der Demenz.

Zuvor hat er in der Süddeutschen Zeitung und der Zeit mit Preisen ausgezeichnete Reportagen und Essays über die „Sorgenkinder“ der Republik geschrieben, reflektiert, wie Künstler (über)leben können und wie die Vermögenslage der Erbengeneration aussieht. Er hat wachsende Ängste vor Kriminalität thematisiert und gefragt, wie wir mit virtueller Realität zurechtkommen. Kurz: Er ist in der Lage, die Geschichte(n) seiner Familie im Rahmen größerer Geschichte zu lesen, als er Briefe findet, die der erste Mann seiner Großmutter bis 1943 an sie geschrieben hat. Zwei dickleibige Ordner sütterlingetränkter Briefseiten. Oma ist die Protagonistin des Romans, die Westercellerin: „Sie hat das Hässliche im Leben nie sehen wollen, hat sich in Floskeln, Allgemeinheiten, ins Vage und Ungefähre, ins Kitschige und Sentimentale geflüchtet“. So sieht es der Enkel und deckt behutsam wie direkt die Merkwürdigkeiten, Verwirrungen und Abgründe der Großmutter auf. Der Dichter Thomas Stearns Eliot hat diese Subtilität des Alters in seinen Four Quartets (1936-1942) angedeutet. Da heißt es im Gedicht East Coker: „Werden wir älter, wird die Welt / fremder, verworrener das Gefüge / der Toten und Lebendigen”.

Der Johannes hat sie, als er Kind war, mit ihren Ängsten und Marotten nie verstanden. So ist eine spannende Suchbewegung entstanden, anhand der Liebesbriefe, die er mit Hilfe seines Vaters entziffert. Darin entdeckt der Enkel Spuren, die er kombinierend mit familien- und zeitgeschichtlichen Details zu (s)einem Verstehen und Begreifen dokumentiert und uns Lesenden äußerst poetisch vermittelt. Familienmythen lösen sich auf oder verfestigen sich, das Normale ist hier unerhört erzählt. Und Böhme erzählt nicht schlicht und brav nacheinander weg ein von Millionen in Deutschland erlebtes Geschehen. Er wechselt Perspektiven und Erzählebenen, öffnet statt hermetisch im Familienkokon zu verschließen.

Die Nachgeborenen scheinen hier zu verstehen, was die Vorfahren nie so richtig verstanden haben: sich und die Zeit, in der sie leb(t)en. Böhme hat dazu das geistige und emotionale Instrumentarium. Er entwickelt mit beobachtender Distanz und ausgebreiteter Recherche erzählerische Sogkraft über drei Generationen hinweg. Statt auf Meinung und Kommentar setzt er auf Literatur – ohne zu moralisieren oder anzuklagen.

Der frisch verliebte und verheiratete Soldat schreibt zu Beginn der Kriegsbriefe intuitiv: „das Unglück schreitet schnell“. Die Zeile aus Schillers Gedicht Die Glocke ist Bildungswissen der Generation. Ja, schnell. Der letzte Brief vom Januar 1943 ist in Stalingrad geschrieben und aufgegeben. Böhme geht dem schnellen Schreiten detailliert nach, entwirft das Kriegsszenario mit kühler Anteilnahme, zeigt die Spur der Verwüstungen durch Landschaften und Leben, ob in Celle oder in der Ukraine.

Das Buch erscheint gerade noch rechtzeitig, denn bald werden die Urenkel nicht mehr über die lebendige Erzählung auf diese Zeit zurückgreifen können wie dieser Autor auf die Erzählungen seines Vaters. Fern jeglicher Arglosigkeit kommen Schuld und Verstrickungen zur Sprache und auf gewisse Weise auch zur Ruhe, wie dass vielleicht erst durch solche Bücher der Enkel geschehen kann. Beides wird in dem Roman deutlich: die Gewalt der vergangenen Zeit und die Lösung der unerklärlichen Verwirrungen und Schroffheiten, das merkwürdige Lächeln der Großmutter und – und dann ist da noch eine verschwundene Katze.

Titelbild

Johannes Böhme: Das Unglück schreitet schnell. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
416 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783961010165

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