Das Diffuse unserer Zeit

Karl Heinz Bohrer schreibt mit „Jetzt“ die Geschichte seines „Abenteuers mit der Phantasie“ fort bis in die Gegenwart

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1932 geboren, ist Karl Heinz Bohrer eigentlich etwas zu jung, um noch zu jener Generation der Flakhelfer oder der „45er“ gerechnet zu werden, der man so oft eine prägende Funktion in der Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik zugeschrieben hat, für ihre Westbindung und ihre gesellschaftliche Liberalisierung. Nichtsdestoweniger hat Bohrer diese Westorientierung biografisch weit intensiver vollzogen als viele unter seinen intellektuell einflussreichen Generationsgenossen beziehungsweise den nur wenige Jahre Älteren. Mitte der 1970er-Jahre entsandte ihn die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ als Korrespondent nach London. Später, als Professor an der Universität Bielefeld und Herausgeber des „Merkur“, lebte er über viele Jahre in Paris, ehe er wieder nach London zurückkehrte, wo er auch heute lebt. Mit Jetzt schreibt Karl Heinz Bohrer die Geschichte seines „Abenteuers mit der Phantasie“ fort, die er im Jahr 2012 mit dem Band Granatsplitter eröffnet hatte, damals noch distanzierter in der Er-Perspektive. An deren Stelle ist nun eine dezidierte Subjektivität getreten.

Am Anfang des Bandes steht ein Besuch Bohrers beim „Philosophen“. Der junge Redakteur wird 1967 von seiner Zeitung beauftragt, nach Berlin zu reisen und über die dortigen Studentenproteste zu berichten. Zuvor muss er aber Jürgen Habermas seine Aufwartung machen. „Der Philosoph“, als der dieser fortan im Buch auftritt, entwickelt sich über die Jahrzehnte zu einem engen Gesprächs- und Diskussionspartner Bohrers, bei häufig gegensätzlichen Positionen. Abgesehen vom zweiten Kapitel, in dem der Autor zurückspringt in die Zeit seiner Promotion in Heidelberg, folgt das Buch im Weiteren der Chronologie: Im ersten Teil ist Bohrer junger Redakteur der FAZ, für die er ab 1968 die Leitung des Literaturblatts übernimmt. Als 1973 Joachim Fest Herausgeber der Zeitung wird, tritt Marcel Reich-Ranicki Bohrers Nachfolge beim Literaturblatt an. Er soll die Literaturkritik populärer machen und damit auch, so Bohrer rückblickend, ästhetisch weniger anspruchsvoll, konventioneller. Bohrer wird daraufhin – in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre – Korrespondent in London, sichtlich beeindruckt von der englischen Gesellschaft, vom englischen Theater und auch von der englischen Politik. Margaret Thatcher wird Premierministerin. Und Bohrer kehrt Anfang der 80er nach abgeschlossener Habilitation an die Universität zurück.

Im zweiten Teil des Bandes ist Bohrer sodann Professor in Bielefeld und „Merkur“-Herausgeber – und mithin mehr denn je eine zentrale Größe in den intellektuellen Debatten der Bundesrepublik. Dennoch lebt er ab 1987 wieder im Ausland, nämlich zusammen mit seiner Frau Undine Gruenter in Paris, von wo aus er, halbaußen stehend, auf das wiedervereinigte Deutschland blicken kann. Nach der Emeritierung 1999 folgen Forschungsaufenthalte in den Vereinigten Staaten und, nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2002, eine Rückkehr nach London.

Bohrer inszeniert sich in seiner Biografie, über das Autobiografische hinaus, als Beobachter und Kritiker des Zeitgeistes, nicht nur im Rückblick über die Jahrzehnte, sondern – vor allem im letzten Kapitel des Buches – auch für die Gegenwart. Als liberaler Journalist, als der er sich ab den 60er-Jahren versteht, bewegt er sich inmitten der ideologischen Debatten der Zeit zuerst in einer etwas prekären Mittelposition: Durch die frühe Lektüre von Arthur Koestlers Sonnenfinsternis sei er von vornherein immun gewesen gegenüber allen Sympathien mit dem Marxismus, die die Urteilskraft vieler links und linksliberal orientierter Zeitgenossen trübten. Andererseits habe er für den aufrührerischen Geist der Zeit durchaus Sympathie empfunden, im Gegensatz zu den konservativen bis reaktionären Kräften, die in der deutschen Gesellschaft – und nicht zuletzt auch in Bohrers eigener Zeitung – lange den Ton angaben. In dieser Mittelstellung empfängt Bohrer einen lobenden Brief von keinem anderen als Carl Schmitt, der ihm nach der Lektüre des Buches Die gefährdete Phantasie (1970 erschienen) bescheinigt, „der junge Mann werde es weit bringen, wenn er so weitermache.“ Ein von Bohrer peinlich empfundenes Lob. Andererseits gelingt es im Jahr 1970 der Zeitschrift „Konkret“ einen kleinen Feuilletonskandal auszulösen, indem sie auf die frühere Freundschaft aufmerksam macht, die den Chef des FAZ-Literaturblatts mit Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl verbunden hat.

Dem Balanceakt auf dem schmalen Grat der deutschen Öffentlichkeit zwischen Links und Rechts entgeht Bohrer dank seiner britisch-französischen Außenperspektive. Diese Position teilt er mit einem anderen einflussreichen liberalen Intellektuellen der Zeit, dem Soziologen Ralf Dahrendorf, der ab 1974 die London School of Economics leitet und von dort aus die bundesdeutschen Debatten zwischen „Tendenzwende“ und „geistig-moralischer Wende“ – und darüber hinaus – begleitet. Beide, Bohrer wie Dahrendorf, werden noch 1979 als eher liberale Autoren zu Beiträgern der von Jürgen Habermas verantworteten Stichworte zur geistigen Situation der Zeit.

Manches aber stellt sich in exzentrischer Position aus England und später Frankreich anders dar. Die 1980er-Jahre bringen die Aufrüstung und den Falklandkrieg, und Bohrer wundert sich über den verantwortungslosen Pazifismus der Westdeutschen und ihr „Gartenzwergbewusstsein“. Als „Merkur“-Herausgeber bietet sich ihm das Forum, gegen den bundesdeutschen „Provinzialismus“ anzuschreiben, gegen eine Kleingeistigkeit, die er bei Konservativen genauso findet wie bei ihren linken Kritikern. Schließlich der Mauerfall, dessen Folgen für Bohrer wiederum dokumentieren, wie sehr sich die westdeutsche Linke längst mit dem Fortbestand der Diktatur im Osten arrangiert hat. Aber die Erwartung, die Wiedervereinigung könnte den Deutschen nun den Weg hinaus aus der Provinz bahnen, erweist sich für Bohrer dennoch als Illusion.

Langeweile sei besser als Faschismus, zitiert Bohrer den „Philosophen“. Er selbst behauptet nun zwar nicht gerade das Gegenteil, aber, Faschismus hin oder her, lieb ist ihm die Langeweile der Deutschen darum nicht geworden. Wie sehr „das romantische und unheimliche Element aus Deutschland ausgetrieben worden sei und eine skandinavisch-sozialdemokratische Ordnung jeden einschlägigen Muckser erstickt habe“ – so die französische Autorin Danièle Sallenave –, kann auch Bohrer nur mit Bedauern feststellen. Je näher er dabei der Gegenwart kommt, desto polemischer sein Unterton, desto harscher auch das Urteil über die deutschen Landsleute: der Moralismus in der Politik, die Flucht aus dem Unbehagen der eigenen Geschichte in eine vage Europa-, wenn nicht Weltzivilisationsideologie, der grassierende Antiamerikanismus im Gefolge des 11. September und dazu eine für Bohrer unverständliche Sentimentalität im Umgang mit dem Islam. Mehr denn je ist Deutschland für Bohrer ein provinzielles „Land der Empörung“ und ein „Land des Ressentiments“, wenngleich es auch um Frankreich und Großbritannien nicht mehr gut bestellt sei.

Nur folgerichtig scheint es da, wenn Bohrer mit Alain Finkielkraut und Peter Sloterdijk die „kulturelle Ahnungslosigkeit und politische Naivität“ der Bundeskanzlerin im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik geißelt – und dabei gleich noch ein „Gesinnungsdiktat“ in der deutschen Öffentlichkeit ausmacht, hinter dem sich der überhebliche Moralismus der deutschen Flüchtlingspolitik verstecken könne. Scharf auch seine Worte an die intellektuellen Fürsprecher der Bundeskanzlerin. Im Falle Herfried Münklers wundert Bohrer sich zum Beispiel, wie es möglich gewesen sei, dass „die Gedanken eines politischen Kopfes von diesem Rang trivialisiert“ werden konnten.

Diese Selbstgewissheit des Bohrerʼschen Urteils über die eigene Gegenwart mag zwar nichts Neues sein, aber sie lässt den Rezensenten doch ratlos zurück. Für Bohrer erscheint der selbstzufriedene bundesdeutsche Provinzialismus als andauernder Versuch, der eigenen Geschichte zu entkommen: eine Flucht aus der historischen Verantwortung in das Bewusstsein einer reinen Gesinnung. Aber es gibt daneben doch wohl auch eine gegenläufige Bewegung in der jüngeren deutschen Geschichte. Und hätte nicht gerade die Merkelʼsche Flüchtlingspolitik die Gelegenheit geboten, dem nachzugehen? War da nicht vielleicht doch mehr Verantwortungsethik im Spiel? Dokumentiert nicht womöglich gerade diese Reaktion einen Schritt über den Provinzialismus der kleinbürgerlichen Wohlstandsdemokratie hinaus? Nein, Bohrer ist da offenbar anderer Ansicht.

Bohrers Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie geht über derartige politische Reflexionen allerdings weit hinaus. Die großen Themen der Ästhetik, die Bohrer in seinem Werk stets verhandelt hat, kehren hier wieder, und damit natürlich auch sein Beharren darauf, Kunst und Literatur seit der Moderne in ihrem eigenen ästhetischen Rang anzuerkennen und gegen politische oder ideologische Inanspruchnahmen zu verwahren. Da stellt er dann sogar eine bemerkenswerte Konvergenz mit dem „Philosophen“ Habermas fest, indem Bohrer aus dessen Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) zitiert: „wo das Ästhetische zur Substanzidee hypostasiert wird und nicht strikt auf seine Sphäre beschränkt bleibt, gerät es zur Ideologie oder Ontologie einer Gegenvernunft“.

Und schließlich sind da auch noch die privaten und intimen Momente des „Abenteuers mit der Phantastie“, wenn Bohrer etwa von seiner verstorbenen Frau Undine Gruenter und ihrem schriftstellerischen Werk berichtet. Etwa in der Mitte des Buches – wir befinden uns am Ende der 80er-Jahre und Bohrer und Gruenter leben zusammen in Paris – schildert er uns seinen Eindruck, stets etwas am Rande, wenn nicht außerhalb der Zeit gestanden zu haben, deren Teil er doch objektiv immer gewesen ist: „Von Anfang an. Als in Köln die Bombennächte einsetzten, hatte ich Granatsplitter wie phantastische Objekte gesammelt und, als Pfarrer verkleidet, vom Jesuskind und von Gott gepredigt, ganz meiner Phantasie hingegeben.“ Wie Bohrer eigensinnig dieses phantastische Verhältnis zu seiner Lebenswelt in der Rückschau sich und damit auch uns Lesern hier noch einmal vergegenwärtigt, das macht sein Buch zu einer überaus lesenswerten Lektüre. Das wird – wie in Paris – gelegentlich nostalgisch. Aber dabei handelt es sich nicht um eine Nostalgie, die einer verklärten Vergangenheit nachhängt, sondern im Gegenteil, gerade weil sie weiß, wie wenig sich unser Jetzt noch über einen Kamm scheren lässt, steht sie mit beiden Füßen darin: Was hier nostalgisch ist, das ist, wie Bohrer feststellt, „das Bewusstsein einer zeitlichen Diffusität der Gegenwart.“

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
542 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425794

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