Die Sprachlosigkeit zwischen Vätern und Söhnen

Szilárd Borbély hinterlässt mit „Kafkas Sohn“ Prosatexte – über Kafka wie über sich selbst

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im Herbst 2014 die deutsche Übersetzung von Szilárd Borbélys Roman Die Mittellosen erschien und von der deutschsprachigen Literaturkritik mit Bewunderung, ja auch Erschütterung aufgenommen wurde, da lebte Borbély bereits nicht mehr. Am 19. Februar 2014 hatte sich der ungarische Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler in Debrecen das Leben genommen. Die Mittellosen verblieb als sein literarisches Vermächtnis, als autobiografisch grundierter Debütroman eines ungarischen Autors in den Spuren von Péter Nádas und Imre Kertész. In kalten, knappen Sätzen öffnete Borbély in diesem Buch seinen Lesern die Welt eines ostungarischen Dorfes der 1960er- und 1970er-Jahre, die Welt seiner Herkunft: ihrer Armut, ihrer Feindseligkeit, ihres Schmutzes, ihres Hungers, ihrer Kälte, ihrer Demütigungen, ihrer Stummheit, ihrer Einsamkeit. Es ist die Welt eines Jungen, in der man so nicht zufällig den Autor selbst wiedererkennen konnte, und seiner Versuche, sich angesichts der Brutalität und Rohheit seiner Umwelt selbst zu behaupten. Im Schatten der Diktatoren Miklós Horthy, Mátyás Rákosi und János Kádár regieren ein den Krieg ungebrochen überdauernder Antisemitismus und die Ausgrenzung von Außenseitern, zu denen auch die vielleicht rumänische, vielleicht ruthenische oder huzulische, vielleicht jüdische, jedenfalls nicht von Bauern, sondern von nun enteigneten Grundbesitzern abstammende, griechisch-katholische Familie des Ich-Erzählers gehört. Mithilfe des Zählens versucht der Junge, sich diese Welt zu erschließen. Primzahlen beziffern die stets unteilbaren Trennungsverhältnisse zwischen den Menschen, auch innerhalb der eigenen Familie.

Vom Verlust der gemeinsamen Sprache im Verhältnis zu den Eltern sprach Borbély in einem der im Anhang zu den Mittellosen abgedruckten sehr persönlichen Essays. Er erschien ihm dort als Strafe für einen wahrgenommenen Verrat, den das Verlassen der dörflichen Heimat und der Familie, als Voraussetzung für eine Art kulturelle Migration in andere Verhältnisse, bedeutet habe, und er musste Borbély umso mehr schmerzen, nachdem seine Eltern im Jahr 1999 daheim zu Opfern eines Raubüberfalls wurden, der seiner Mutter das Leben kostete. Offenkundig jedoch litt Borbély auch unter der Gegenwart seines Heimatlandes, in dem nicht zuletzt Literatur und Literaturgeschichte, für die Borbély beruflich einzustehen hatte, politisch in den Dienst genommen wurden. Im Anhang zum Roman Die Mittellosen gaben Heike Flemmings Schilderungen ihres Kontakts mit dem an Depressionen leidenden Borbély davon bedrückendes Zeugnis ab.

Nun, etwa drei Jahre nach dem Tod des ungarischen Autors, folgt seinem Roman eine Sammlung kürzerer Prosatexte unter dem Titel Kafkas Sohn, die aus dem Nachlass veröffentlicht werden. Es handelt sich um zwar weitgehend ausgearbeitete, aber insgesamt noch nicht abgeschlossene Bruchstücke zu einem Kafka-Erzähltext. Er selbst benannte Franz Kafka wiederholt als einen seiner großen Referenzautoren – „Die Geschichte beginnt in einem Badezimmer“, heißt es so auch in der Szene „Kafka im Badezimmer“: „Ein Buch fällt dem Erzähler in die Hände. Er hat es beinahe zufällig ausgewählt, in der Bezirksbibliothek, in die er bis zur Abfahrt des Nachmittagsbusses gewöhnlich einkehrt.“ Wenn wir dem Nachwort der Übersetzerin Heike Flemming vertrauen dürfen, kehrt hier Borbélys Erinnerung an seine Lektüre von Kafkas Prozeß wieder, Urszene einer Kafka-Begegnung, die wir uns wohl im Kontext der in den Mittellosen geschilderten Kindheit und Jugend des Autors vorstellen dürfen. Flemming zitiert aus einem Interview Borbélys aus dem Jahr 2004: „Es war ein starkes, erschütterndes Erlebnis. Die Heimatlosigkeit, Verlorenheit darin, die ich so gut kannte, riss mich mit sich fort. Die Sehnsucht nach Gewissheit, das Ausgeliefertsein, die Schutzlosigkeit und Nacktheit des verachteten und erniedrigten Menschen erheben in diesem Roman auf fast schon schamlose Weise die Stimme.“

Wovon erzählt also dieses Buch Kafkas Sohn, das im Grunde ja aus einer Sammlung kurzer Texte, teils Fragmenten besteht, die ihr Autor nicht mehr abschließen konnte (fast möchte man sagen: nicht anders als bei Kafka)? Im eingangs abgedruckten Stück „An den Leser“ gibt Borbély Leitmotive vor: Vom Reisen, vom Bleiben und vom Spaziergehen werde die Rede sein, und zwar an einem spezifischen Ort, in Osteuropa. Es werde von der Kindheit erzählt, von Vätern und Söhnen, und von dem Zwilling, den ein jeder habe, der mit einem zusammen auf die Welt komme, der genauso sei wie man selbst, den man aber im Laufe der Zeit aus den Augen verliere. Und um das Vergessen und Verstummen werde es gehen, das Vergessen dieses verlorenen Zwillings, den „sprachlosen Verlust der Heimat“ dort, wo man nirgendwo dazugehöre.

Kafkas Sohn also – das ist hier niemand anderer als Franz Kafka selbst, Franz Kafka als Sohn seines Vaters Hermann Kafka, Franz Kafka als Anselm Kafka, wie Borbély hier durchgängig Franz Kafkas jüdischen Vornamen Anschel übernimmt. Das problematische Verhältnis zwischen Vater und Sohn Kafka ist der Literaturgeschichte natürlich weidlich bekannt, insbesondere durch den Brief an den Vater. Die Gegensätze der beiden, was ihren Charakter angeht, die Vorstellungen an bürgerliches Leben, Beruf und Schriftstellerei, Ehe und Familie, schließlich auch das Judentum betreffend, greift Borbély in seinen Texten auf.

Dieser Franz oder Anselm Kafka ist allerdings, wie der Erzähler immer wieder betont, „mit Franz Kafka nicht identisch“. Er ist auch eine Chiffre für den Verfasser Borbély, denn dieser stellt klar: „Wie aber im Falle von Romanen üblich, erscheint darin unvermeidlich auch der Autor. In Wirklichkeit wird also von der Kindheit des Autors die Rede sein.“ Borbély zieht in den einzelnen Szenen, die ein Leben – nicht nur eine Kindheit – als eine „Serie nicht zueinander passender Abschnitte“ abzubilden scheinen, wie schon im Roman Die Mittellosen von vornherein eine enge Parallele zwischen sich als Autor und der titelgebenden Hauptfigur, Kafkas Sohn. Borbély als Kafkas Sohn, der wie Kafkas eigentlicher Sohn, sein Zwilling, nirgendwohin zu gehören scheint, im Konflikt steht mit Vater, Herkunft und Umwelt, der dann im Schreiben seine Heimat findet. „Ausgeliefertsein und Erniedrigung“, so benannte Borbély selbst seine Identifikationsgründe mit Kafka. Und doch heißt es dann auch wieder: Ebenso wie dieser Franz Kafka mit Franz Kafka nicht identisch sei, sei der Verfasser des Buches, von dem im Buch die Rede ist, mit dem Verfasser des Buches nicht identisch.

Wir sehen Kafka – das ist eine häufige Eingangsformulierung der Texte – also, wie er durch Prag spaziert, wie er schreibt, wie er reist, wie er den Friedhof besucht. Wir sehen ihn mit den Worten und Buchstaben ringen, mit seinem Judentum, das der Vater ableugnet, wir sehen ihn beim Ehepaar Brod, wir sehen ihn Briefe an Felice schreiben. Und wir lesen andererseits seines Vaters Briefe. Das Verhältnis zum Vater erscheint zugleich als das Verhältnis zum eigenen Judentum, von dem der Vater sich einerseits abgrenzt, um es dann auf der anderen Seite wieder zu verteidigen.

Die Sprache, das Verstummen und die Schrift kehren schließlich auch auf dieser Ebene der Auseinandersetzung mit der religiösen Identität wieder. Mit einem Rabbi spricht Franz beziehungsweise Anselm Kafka über das Schreiben und das Geschichtenerzählen, und er erhält zur Antwort den Hinweis auf die verlorene Überlieferung und die doch bleibende Hoffnung, dass nicht alles vergebens sei:

Den Großteil der Schriften haben wir verloren. Wir haben auch die Wörter verloren, die aufgeschrieben wurden, ganz zu schweigen von denen, die nie aufgeschrieben wurden. […] Denken Sie also daran, dass es nichts gibt im Vergleich zu dem, was wir schon alles verloren haben. Alles, was wir besitzen, kann nur im Licht der unermesslichen Verluste gesehen werden, die uns treffen. Und so gesehen wird klar, dass unsere Lage eher verzweifelt ist, als auch nur zum geringsten Optimismus Anlass zu geben. Und trotz alledem, und Sie wissen das am besten, trotz alledem müssen wir hoffen, schließlich wären auch Sie nicht hergekommen, wenn Sie nicht hofften, wenigstens auf irgendeine Antwort, wenn schon auf nichts anderes, auf eine Antwort, dass wir das Volk der Hoffnung sind.

Es ist dem Verlag und den beiden Übersetzerinnen zu danken, dass Borbélys nachgelassene Kafka-Texte nun ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden haben. Heike Flemming, die sich nun schon seit über einem Jahrzehnt als Übersetzerin ungarischer Gegenwartsliteratur verdient macht – so beispielsweise von Péter Esterházy, László Krasznahorkai und nicht zuletzt Imre Kertész –, und Lacy Kornitzer haben sich wiederum dieser bemerkenswerten Aufgabe angenommen, die hier noch dadurch erschwert wurde, die einzelnen nicht abschließend redigierten Texte Borbélys in ihrer unfertigen und fragmentarischen Struktur ins Deutsche zu übertragen. Sie haben dadurch dem deutschsprachigen Publikum ein höchst lesenswertes Prosawerk zugänglich gemacht.

Titelbild

Szilard Borbély: Kafkas Sohn. Prosa aus dem Nachlass.
Übersetzt aus dem Ungarischen, mit Kommentaren und mit einem Nachwort versehen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
206 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425909

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