Franz Kafka an der Ostsee und in Berlin
Zwei Neuerscheinungen beleuchten Kafkas Aufenthalte außerhalb von Prag
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer 100. Todestag von Franz Kafka am 3. Juni ist das wohl herausragende Literaturjubiläum des Jahres, zu dem diverse Neuausgaben seiner Werke und zahlreiche Publikationen zu Leben und Werk des Schriftstellers erschien sind. Kafka, am 3. Juli 1883 in Prag geboren, lebte die meiste Zeit in der Moldaustadt. So arbeitete er hier von 1908 bis 1922 in der halbstaatlichen Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen. Meist verließ er Prag nur zu Dienstgeschäften oder zu Ferien- oder Kuraufenthalten.
Zwei Neuerscheinungen aus dem Quintus-Verlag bzw. dem Verlag für Berlin-Brandenburg beschäftigen sich intensiver mit einigen dieser Aufenthalte. So widmet sich der Germanist Karl Bose dem Ostsee-Aufenthalt Kafkas im Sommer 1923. Er war 1922 vorläufig pensioniert worden. Die Kuren der letzten Jahre hatten keine Linderung seiner Tuberkulose-Erkrankung gebracht. Da entschloss er sich, mit seiner Schwester Elli und deren Kindern einige Wochen an der Ostsee zu verbringen. Die kleine Gruppe reiste im Juli 1923 in das kleine Ostseebad Müritz (heute Graal-Müritz) und bezog Quartier im Haus „Glückauf“. Das Haus warb mit „freiem Blick auf das Meer“ und „Anerkannt guter Verpflegung“.
Nur zwei Häuser weiter befand sich das Kinderheim „Kinderglück“, in dem jüdische Kinder aus Berlin ihre Sommerferien verbrachten. Eine Woche nach seiner Ankunft in Müritz erhielt Kafka eine Einladung des Heimes, um gemeinsam mit den Kindern und ihren Betreuern und Betreuerinnen Sabbat zu feiern. Hier begegnete ihm eine junge Frau, die dort in der Küche gerade das Essen für den Abend vorbereitete: die 20jährige aus Polen eingewanderte Dora Diamant.
Obwohl sich in Kafkas Briefen und Karten aus dem Ostseebad kein Wort über Dora Diamant findet, blieb die flüchtige Begegnung in der Küche nicht ohne Folgen. Kafka und Dora trafen sich fortan fast jeden Tag. Schnell entwickelte sich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und es wurden Pläne für ein gemeinsames Leben in Berlin geschmiedet. Für seine neue Liebe wollte Kafka sich sogar von seiner Familie trennen und Prag verlassen.
Der Aufenthalt in Müritz hatte jedoch nur wenig Besserung für Kafkas Gesundheit gebracht. Zurück in Prag ging er zunächst mit seiner Schwester Ottla in die Sommerfrische nach Schelesen, ehe er im September sein Vorhaben wahr machte und nach Berlin zog, wo Dora inzwischen ein möbliertes Zimmer gefunden hatte. Kurz skizziert Bose die wenigen Monate, die Kafka noch bleiben. Heilung ist nicht mehr möglich und so verbrachte er die letzte Zeit in einem Sanatorium in Kierling in der Nähe von Wien, wo er am 3. Juni 1924 nur 40-jährig verstarb.
Kafkas Aufenthalt in Müritz dokumentiert Bose mit ausgewählten Zitaten und detaillierten Ortsbeschreibungen; daneben beleuchtet er auch den Ostsee-Badebetrieb der damaligen Zeit und das Zeitgeschehen in den frühen 1920er Jahren mit zahlreichen historischen Abbildungen und Zeitdokumenten. Es ist die Zeit der galoppierenden Inflation („Die Preise klettern wie die Eichhörnchen …“ (Kafka)) und des aufkommenden Antisemitismus. Abschließend verfolgt er den Niedergang des Hauses „Glückauf“, das 2006 abgerissen wurde. Eine besondere Aufmerksamkeit der Neuerscheinung widmet sich einer Karte mit dem Faksimile des handschriftlichen Absenders „Dr. Kafka, Haus Glückauf, Ostseebad Müritz“.
Die wenigen Monate (von September 1923 bis März 1924) mit Dora Diamant in Berlin, in denen Kafka finanzielle Schwierigkeiten zu zwei Umzügen nötigten, waren nicht seine einzigen Aufenthalte in der deutschen Hauptstadt. Der Sachbuchautor und Stadtführer Michael Bienert, der seit dreißig Jahren literarische Stadtspaziergänge durchführt und bereits zahlreiche Bücher zur Berliner Literatur- und Kulturgeschichte veröffentlichte, hat die Berlin-Orte des Prager Schriftstellers und Versicherungsangestellten aufgesucht und dazu (in Kooperation mit dem Kleist-Museum Frankfurt (Oder)) ein bibliophiles „Buntbuch“ verfasst.
Im Dezember 1910 war Kafka erstmals als Tourist in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs, wo er verschiedene Theateraufführungen besuchte. 1912 hatte er Felice Bauer in Prag kennengelernt, deren Berliner Firma in Prag eine Filiale unterhielt. Nach einem regen Briefwechsel besuchte Kafka sie in Berlin mehrfach. Mit dem Schnellzug reiste er in nur sechs bis acht Stunden von Prag nach Berlin. Ostern 1914 feierten sie im Familienkreis die Verlobung, die aber bereits im Juli wieder aufgelöst wurde. Im Juli 1916 verbrachten sie gemeinsame Ferientage in Marienbad, wo es zur erneuten Verlobung kam. Der Ausbruch von Kafkas Tuberkulose machte jedoch alle Pläne zunichte, sodass sie sich Ende 1917 endgültig trennten. Berlin war für Kafka ein Sehnsuchtsort: „Für mich hängt wirklich Berlin über Prag, wie der Himmel über der Erde“, schwärmte er in einem Brief. Doch erst 1923 sollte er todkrank gemeinsam mit Dora Diamant wieder nach Berlin kommen.
Neben den Berliner Wohnorten von Franz Kafka, Felice Bauer und Dora Diamant führen Bienerts literarische Spaziergänge auch zu den Hotels, in denen Kafka zeitweise Quartier nahm, oder zu den Überresten des Anhalter Bahnhofs am Askanischen Platz, wo er an- und abreiste, wenn er in Berlin zu Besuch war. Als Theater-Liebhaber besuchte er auch zahlreiche Aufführungen im Deutschen Theater, in den Kammerspielen, im Lessing-Theater und im Metropol-Theater. Mit Felice Bauer ging er im Großen Tiergarten spazieren oder im Grunewald, wo sie das Grab von Heinrich von Kleist aufsuchten. Mit zunehmender Lungenkrankheit ging Kafka auch gerne, soweit es die eigene Kraft zuließ, in den Botanischen Garten. Die markantesten Erinnerungsorte und die letzten Stationen in der Topografie von Kafkas Berlin sind die Wohnungen in zwei kleinen Villen in den gartenstadtähnlichen Vororten Steglitz und Zehlendorf, wo der lungenkranke Kafka seine letzten Monate in Berlin verbrachte, ehe er am 17. März 1924 die Stadt verließ.
An einigen Aufenthaltsorten gibt es Erinnerungstafeln, andere sind längst verschwunden wie das Lessing-Theater (im Zweiten Weltkrieg zerstört), die Flussbadeanstalt Pochhammer am Stralauer Ufer oder das ehemalige Literatencafé Josty am Potsdamer Platz, wo Kafka sich mit seinem Freund Max Brod traf. Sie kann man nur in historischen Ansichten bestaunen, von denen immerhin zwanzig Beispiele in der Neuerscheinung vertreten sind. Zwei historische Stadtpläne auf der Innenseite des Umschlags geben einen Überblick über Kafkas Aufenthaltsorte. Günter Karl Bose hat zudem einige aktuelle Fotos beigesteuert.
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