Ein Affe mit Humor und der Fähigkeit zu lügen

T.C. Boyles neuer Roman „Sprich mit mir“ erzählt die Liebesgeschichte von Sam und Aimee

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben Tiere ein Bewusstsein? Reflexionsvermögen? Gar eine Seele? In den 1970er-Jahren haben Verhaltensforscher angefangen, Schimpansen die menschliche Zeichensprache beizubringen. Berühmt wurde Washoe, die mehrere hundert Zeichen beherrschte und sie sinnvoll kombinieren konnte. Sie hat sich sogar mit anderen Affen in dieser Zeichensprache unterhalten und sie ihrem Sohn Loulis beigebrachte. Und dann gibt es noch Sam, der sogar im Fernsehen auftritt und es beinah in die Johnny-Carson-Show schafft.

Auch Sam beherrscht viele Zeichen. Er lebt mit Aimee zusammen, es war Liebe auf den ersten Blick: Als sich Aimee, eine Studentin der Frühpädagogik, bei Guy Schermerhorn bewirbt, einem jungen Dozenten für Psychologie an der University of California in Santa Maria, hat Sam grade seine Betreuerin gebissen und rast durch die zufällig offenstehende Tür nach draußen. Er sieht sie und springt in ihre Arme. Kein Gedanke mehr an Flucht. Und damit beginnt eine seltsame Liebesgeschichte.

So könnte es gewesen sein, aber Sam ist erfunden. In T.C. Boyles neuem Roman, der in den 70er-Jahren spielt, geht es um ihre seltsame Liebesgeschichte, aber vor allem um den Stellenwert der Affen. Die meisten Forscher wollten ihnen keine Würde zugestehen, anders Aimee: Sie kümmert sich liebevoll um Sam, der wie ein Mensch aufwächst, Latzhose trägt, Cheeseburger mag, Gin Tonic trinkt und manchmal einen Joint raucht. Der um Umarmungen bitten, aber auch Angst und Schmerz benennen kann, der Humor hat und sogar lügen kann. Als nach heftiger Kritik anderer Wissenschaftler die Forschungsmittel gestrichen werden und Sam von Guys Chef Moncrief in einen Käfig gesperrt wird und vielleicht für die Aids-Forschung benutzt werden soll, befreit Aimee ihn und versteckt sich mit ihm in einem Trailerpark in Arizona. Dort redet er in Gebärdensprache mit einem Priester über Gott und wird sogar getauft. Für sie ist Sam keine Sache, kein Tier, mit dem man machen kann, was man will, ihn aus Profitgier in die Aids-Forschung stecken, zu Zuchtzwecken gebrauchen oder sogar umbringen. Für Aimee ist Sam zunächst ein Mitwesen, mit dem sie zusammenlebt, zwischen Mutter- und Freundschaftsgefühlen hin und her schwankend. Sie kommuniziert mit ihm, beschützt ihn, ist ihm nah. Und auch Sam fühlt sich eher den Menschen zugehörig: Als er in seinem Käfig sitzt, mit anderen Affen, bezeichnet er sie als „schwarze Käfer“, dass er so wie sie ist, kann er nicht wahrnehmen.

Immer wieder ist T. C. Boyle für seine Romane in die Geschichte seines Landes gereist, in Waffenwahn und Anarchismus wie in Hart auf Hart (2015), in Dr. Sex (2005) in die puritanische Zeit, in der der Kinsey-Report entsteht, in América (1995) in das Problem der illegalen mexikanischen Immigration. Und immer hat das, was er schreibt, auch mit der Gegenwart zu tun, in der er seine Romane geschrieben hat.

So auch in seinem neusten Roman, in dem es um die Experimente mit dem Spracherwerb der Menschenaffen geht, die im Englischen „Great Apes“ heißen. Damals gab es die Schimpansin Washoe, die sehr schnell und sehr viel Gebärdensprache lernte. Linguisten wie Noam Chomsky verneinten entschieden, dass ein Affe ein Bewusstsein haben oder eine Menschensprache wirklich lernen könnte, es gab heftige Kämpfe zwischen den beiden Lagern, denn es ging eigentlich um eine Ideologie: Ob der Mensch einzigartig ist und er sich von allen anderen Tieren im Wesen unterscheidet. Die Diskussion ist auch heute noch nicht beendet, vor allem weil Philosophen wie Peter Singer gegen den Speziesismus wettern:

Speziesismus ist ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies.

Interessanterweise schreibt Boyle auch aus Sams Perspektive. Als er zum ersten Mal Eis, das er sonst nur als Eiswürfel aus dem Kühlschrank kannte, echtes Eis sieht, beginnt er zu fragen:

Er wollte wissen, wie und warum und was es zu bedeuten hatte. Er versuchte es noch einmal, mit Fingern, die vor Kälte bereits steif wurden. WAS EIS?, wiederholte er. Aber das war nicht das, was er meinte, und so versuchte er es mit WARUM EIS? Und dann, weil auch diese Worte es nicht ganz trafen, fragte er: WIE EIS?

Und zeigt damit seine große Reflektionsfähigkeit und seine Unzufriedenheit mit den eigenen ungenauen Fragen.

T.C. Boyle gelingt es in seinem intelligenten und rasant erzählten Roman nicht nur, Sympathie mit dem seltsamen Paar zu wecken. Indem er auch aus Sams Perspektive erzählt, identifiziert sich der Leser sogar mit ihm. Er erlebt seine Angst mit, als er isoliert und eingesperrt ist, ebenso wie seine Einsamkeit, seine Verzweiflung und seine Wut. Und auch seine Einsicht, dass er, der bei den Menschen aufgewachsen ist, doch kein Mensch ist: zu viel trennt ihn von ihnen, nicht nur sein Aussehen, das ihn als einen Fremden sofort sichtbar macht. Auch seine fehlende Impulskontrolle oder seine Unfähigkeit, in der menschlichen Zivilisation ohne Aimees Hilfe zu überleben. Seine ganze Existenz, sein Wesen ist nicht für die Menschenwelt gemacht.

Und auch Aimee muss mit Schrecken feststellen, dass ihre übergroße Sympathie für ihn nicht ausreicht, um eine Beziehung zwischen Gleichen führen zu können. Denn plötzlich bekommt sie auch Angst vor ihm, vor allem, weil sie weiß, zu welcher ungebremsten Brutalität bis hin zum gewissenlosen Töten Sam fähig ist. Mehrmals musste sie das miterleben, als Sam sie vor Angriffen beschützt hat. Aber jetzt weiß sie nicht mehr, was er ist:

Wenn er lächelte, zog er die Lippen zurück, so dass man Zahnfleisch und Zähne sehen konnte, und genau das tat er jetzt. Er war komisch und liebenswert und noch etwas anderes – sie sah es zum ersten Mal, und es jagte ihr einen Schauer über den Rücken: Er war berechnend. Er war kein Mensch, aber auch kein Tier, sondern etwas dazwischen, etwas Unnatürliches, Deformiertes.

Dennoch erlebt man seine Freude über das freie Leben mit Aimee und die Trauer am Schluss. Denn ein gutes Ende kann diese Geschichte nicht haben. Aimee stellt sich ihrer Verantwortung.

Titelbild

T. C. Boyle: Sprich mit mir.
Dirk Gunsteren.
Hanser Berlin, Berlin 2021.
325 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783446269156

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