Nach Homer

Ulrike Draesners postepisches Reiseabenteuer schickt Penelope: Ja, wohin eigentlich?

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ist Odysseus heimgekehrt, schickt Homer ihn mit Penelope ins Bett, der Liebeslust und der Erzählfreude wegen. Aber da, wo die klassische Odyssee endigt, fängt sie für Ulrike Draesner erst an. Sie hat ein langes Gedicht geschrieben, ein Postepos, das den alten Männermythos auf den Kopf stellt und von dem erzählt, was danach kommt. Ähnlich ist die Autorin 2014 schon mit dem Nibelungenlied in einer umstürzenden Nachdichtung umgesprungen.

penelopes sch( )iff heißt Ulrike Draesners Erzählgedicht. Elektrisiert von Emily Wilsons englischer Neuübersetzung der Abenteuer des Lord of Lies“ und Christopher Nolans für 2026 angekündigtem Odysseus-Film, geht es um das Schicksal der Penelope. Aus dem Schatten der braven Ehefrau und Helden-Muse wird sie herausgeholt. Draesners Penelope begibt sich auf eine abenteuerliche Reise. Mit 100 Frauen, ihren Töchtern, ihrer Schwiegermutter, mit Freundinnen und Mägden sticht sie in See, gen Westen. Homer darf auch mit, aber zur Schildkröte verwandelt: ein gezähmtes Maskottchen, das Salatblätter kauen darf.

Erzählt wird von dem, was die Frauen auf dem Meer zusammenhält: Das sind ihre Erinnerungen an Ithaka, die Erfindung des Haushaltsbuchs, die Züchtung seltener Tierarten und das Lesen der Sterne, das sind die Chirurgie und die Einlagerung von Gurken, das Muskeltraining an Rudergeräten. Und nicht zuletzt sind die Wegreisenden erleichtert, sich von posttraumatisch belasteten Kriegsheimkehrern wie Odysseus verabschiedet zu haben.

Ulrike Draesner geht freimütig mit Homers Figuren um. Sie lässt einige beiseite und andere überleben. Sie verteilt die Rollen der Sprecher auf Penelopes Töchter. Darunter ist die Penelopes Seitensprung mit einem Freier entsprungene Medusa, und die aufmüpfige Magd Melantho hat mehr als nur ein Wörtchen mitzureden. Das klingt dann so, mit einem dreifach sich steigernden rhetorischen Verssprung:

melantho denkt : die
königin. melantho macht :
die königin. melantho
sieht : die königin
führt. doch nur das logbuch
der wässrig hinter dem naus
der wässrig über uns
zusammenschlagenden wege

Dass es die Magd ist, die die Königin macht, ist die eine Pointe; die andere ist, dass die Rolle der Penelope aufs Schreiben des Logbuchs, aufs Zurücksehen reduziert ist, während die Magd dieses offenbar sinnlose Schreiben kommentiert, das Ulrike Draesner wiederum mit prosodischem und interlingualem Sinn füllt. „naus“ (ναῦς), das griechische Wort für ‚Schiff‘, reimt sich auf ,Haus‘ und korrespondiert im Buchstabenbestand mit dem „uns“ im Vers darauf.

Das alles ist mehr als postdadaistisches Spiel. Vor allem der Titel „penelopes sch( )iff“ ist ein echter Lesestolperstein. Was hat es mit der Leere in der Klammer auf sich? Da kann man eine Heterotopie im Foucaultschen Sinne hineinlesen, also einen Nicht-Ort. Ist es eine Verweigerung des Schliffs, den eine posthomerische Erzählerfigur da einräumt? Oder sind es rudimentäre Zeichen für einen Schiffsrumpf? Jedenfalls bringt Ulrike Draesner die homerischen Daktylen in Bewegung, lässt sie über die Versgrenze ausgreifen, lädt sie mit einem Groove auf, der wiederum durch griechisch geschriebene Wörter und phönizische Lettern aufgeraut wird. Auf ein paar Seiten lässt die Autorin den sechshebigen Vers als Kommaregen herabrieseln. Solche Formexperimente erhöhen das Lektürevergnügen.

Ulrike Draesners Postepos entdeckt Penelope als listige Kriegerin, als kühne Migrantin und Abenteurerin, als ausbrechende Hausmutter, als Gründungsfigur von Venedig. Eine fabelhafte alternative Weitererzählung des klassischen Mythos, eine wunderbare frauen- und freiheitsbewusste Korrektur der patriarchalischen Vorlage.

Titelbild

Ulrike Draesner: penelopes sch () iff. postepos.
Penguin Verlag, München 2025.
304 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783328603405

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