Brückenbauer zwischen den Kulturen
Über den Einzug des Politischen in die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur
Von Jana Mikota
Seit 2015 bestimmt das Thema „Flucht“ die tagespolitische Debatte: Es wird über Familiennachzug, Umgang mit Flüchtlingen und Öffnung der Grenzen gestritten. Das Phänomen Flucht ist jedoch weder in der Menschheitsgeschichte noch in der Literatur neu und es lassen sich trotz aller Unterschiede auch Gemeinsamkeiten zwischen „früher“ und „heute“ feststellen: Flucht geht immer einher mit Verlust der Heimat, der Freunde und oft auch der Familie; neue Lebensperspektiven müssen an fremden Orten aufgebaut werden. Flucht kann auch die Aufgabe der Identität, der kulturellen Bezüge und Orientierungen bedeuten. Flucht meint eine Mobilität mit vielen Risiken, mit Aufenthalten in Transitorten voller Ungewissheit. Doch letztlich ist mit ihr die Hoffnung auf ein sicheres Leben verbunden.
Auch die Literatur wendet sich der Thematik zu: Seit 2015 erscheinen zahlreiche Bilder-, Kinder- und Jugendbücher, die aktuelle Fluchtbewegungen beschreiben und den Leserinnen und Lesern unterschiedliche Perspektiven und Fluchtursachen wie Kriege, Vertreibungen, Naturkatastrophen sowie politische und religiöse Ursachen nennen. Mit der Wiederaufnahme der Thematik Flucht in die Kinder- und Jugendliteratur werden literarische Texte nach einem phantastischen Boom, der seit dem Erscheinen der Harry Potter-Bände unterschiedliche Trends hervorbrachte und schließlich mit einzelnen Dystopien wie The Hunger Games die Wende zum sozialkritischen Jugendbuch andeutete, politisch. Es werden unmittelbar tagespolitische Ereignisse aufgegriffen, um sie einem kindlichen sowie jugendlichen Publikum zu präsentieren. 2016 lässt sich, vorsichtig formuliert, als ein Höhepunkt der Literatur zum Thema Flucht benennen, 2017 setzen zumindest kinderliterarische Texte stärker auf Fragen des Ankommens und der Integration, während jugendliterarische Texte sich der Thematik des Nationalismus und der politischen sowie religiösen Radikalisierung widmen. Damit hat sich die Kinder- und Jugendliteratur in den letzten Jahren gewandelt: Das realistische Erzählen dominiert; die Bücher nehmen politische Debatten auf und konzentrieren sich stärker auf die Vermittlung von Werten wie Solidarität und Toleranz. Die kinder- und jugendliterarische Produktion setzt so die aufklärerische Tradition literarischer Texte fort und präsentiert sich zugleich als Brückenbauer zwischen den Kulturen. Der folgende Essay zeigt diese Entwicklungen anhand ausgewählter Beispiele im Bereich des Bilder-, Kinder- und Jugendbuches auf. Ausgeklammert werden Graphic Novels, wobei sich auch in dieser Gattung politische Themen wiederfinden.
Das politische Bilderbuch
Das Bilderbuch setzt sich auf vielfältige Weise mit der Thematik auseinander und zeigt Kinder mit und ohne Familien auf der Flucht oder bei ihrer Ankunft. Neben der Flucht und der Ankunft sind Integration und Heimat wichtige Themenfelder des Bilderbuches in den letzten Jahren.
In Die Flucht (2017) von Francesca Sanna wird das Leben einer Familie in einem nicht näher bestimmten Land erzählt. Eine Familie, die ihre Tage gerne am Strand verbringt, wird jäh aus dem Alltag gerissen und mit Krieg und Gewalt konfrontiert. Die Mutter beschließt, mit den Kindern zu fliehen, schließt sich organisierten Schlepperbanden an und kommt schließlich in ein neues Land. Sanna hält die Ängste der Kinder fest, die den Zielort nicht kennen, sondern sich vor diesem fürchten. Sie malen sich Bilder aus über gefährliche Tiere wie Rehe und Hirsche, die dem mitteleuropäischen Leserinnen und Lesern vertraut sind. Die eindrucksvollen Illustrationen im Buch verdeutlichen die Ängste der Flüchtlingskinder vor der neuen Heimat, die sie als fremd empfinden, noch zusätzlich. Sanna verändert so die Perspektive, denn es ist nicht nur der Verlust der Heimat, der die Kinder ängstigt, sondern auch die neue Heimat und die Begegnung mit dem Fremden.
Das Bilderbuch Ramas Flucht (2017) von Margriet Ruurs und Nizar Ali Badr nähert sich auf eine ungewöhnliche Art und Weise der Thematik. Die Abbildungen zeigen Steinbilder des syrischen Künstlers Nizar Ali Badr. Er ordnet die Steine so, dass berührende Geschichten entstehen. Die niederländische Autorin Margriet Ruurs entdeckte seine Kunstwerke zufällig im Internet, war nachhaltig beeindruckt und nahm Kontakt mit dem Künstler, der immer noch in Syrien lebt, auf. Das Nachwort informiert über die Schwierigkeiten im Land und geht auf die ungewöhnliche Zusammenarbeit der beiden Künstler ein. Während die Autorin die Geschichte des Mädchens Rama niederschrieb, komponierte Badr seine Steinbilder. Man sieht glückliche Menschen, die in Frieden und auch Wohlstand leben. Die Kinder haben genug zu essen, können auch drei Tassen Tee trinken und genießen die Liebe ihrer Eltern. Veränderungen deuten sich langsam an, denn die Menschen im Land sind nicht so frei wie die Kinder glauben. Der Krieg naht. Badrs Steinbilder ergänzen den Text, zeigen Menschen hinter Gittern oder auf der Flucht. Sie werden zunehmend düsterer und deuten die Ängste der Flüchtenden an. Dabei werden die Flucht übers Mittelmeer und die Ankunft in Europa ebenso dargestellt wie die Enge auf den Schiffen. Auch die im Mittelmeer Ertrunken werden nicht ausgespart.
Gemeinsam ist den Bilderbüchern, dass sie einen Familienalltag vor der Flucht entwerfen. Dazu gehören Strandaufenthalte, Spiele oder gemeinsame Essen. Erst die Flucht zerstört den Alltag. Diese Perspektive verdeutlicht die Verluste der Menschen, aber auch Gemeinsamkeiten an. Diese werden dann in Sachbilderbüchern wie beispielsweise Nasengruß & Wangenkuss (2017) von Anne Kostrzewa und Inka Vigh vertieft. Der Untertitel So macht man Dinge anders deutet es an, denn obwohl alle Menschen essen, spielen, lachen oder weinen, können bestimmte Dinge wie Begrüßungsrituale sich sehr voneinander unterscheiden. Das Bilderbuch, so der Klappentext, möchte Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorheben, denn „was wir kennen und verstehen, müssen wir nicht fürchten!“ Nach der Darstellung der Flucht folgt somit eine Aufklärung über die unterschiedlichen kulturellen Alltagsrituale, um das Verständnis zwischen den Menschen zu stärken.
Der politische Kinderroman
In aktuellen Kinderbüchern spielen Flucht, Migration und Integration eine große Rolle. Exemplarisch soll das an den Kinderromanen Djadi, Flüchtlingsjunge (2016) von Peter Härtling, Sami und der Wunsch nach Freiheit (2017) von Rafik Schami und King kommt mit (2017) von Andrea Karimé gezeigt werden. Alle drei Romane setzen sich mit Verlust und Ankunft auseinander. „Er kam, von Jan begleitet, unerwartet für die Wohngemeinschaft. Wie vom Himmel gefallen.“ Mit diesen knappen Sätzen beschreibt Peter Härtling, wie jemand Neues die Wohngemeinschaft betritt. Er ist, heißt es einen Satz weiter, „zu klein, zu dünn, krummbeinig“ und wird zunächst von einigen Mitgliedern der WG abgelehnt. Das Setting in Härtlings Roman ist deshalb ungewöhnlich, weil es sich um eine Alters-WG handelt, in die ein Kind – genauer gesagt ein Flüchtlingskind – kommt. Die drei kinderlosen Paare – Jan, Sozialarbeiter, und seine Frau Dorothea, Kinderpsychologin, das Lehrerpaar Wladi und Kordula sowie die Steuerberater Detlef und Gisela – wohnen seit 1969 zusammen. Das, was als alternatives Modell zur bürgerlichen Gesellschaft gedacht war, stellt sich im Jahr 2016 als gutbürgerliches Leben dar. Wladi, mit seinen 75 Jahren der älteste der WG-Bewohner, ist bereits pensioniert und kann sich entsprechend intensiv um Djadi kümmern. Djadi bleibt zunächst stumm und reagiert voller Angst auf bestimmte Situationen wie das Klingelgeräusch an der Wohnungstür. Reflexartig verkriecht er sich aus Angst vor möglichen Angriffen unter dem Sofa, schweigt und beobachtet genau seine Umwelt. Erst langsam gewinnt er Vertrauen zu seiner Umgebung und verrät, dass er besser Deutsch spricht als die WG-Bewohner es ahnen. Immer wieder muss sich die WG mit dem Jugendamt auseinandersetzen. Wladi kümmert sich sensibel um den Jungen, geht mit ihm spazieren und versucht, auch seine Geschichte kennenzulernen. Erst langsam erzählt Djadi von seinem Zuhause, seiner Heimatstadt Homs und macht Andeutungen über die schwierige Flucht. Der Dialog ist zunächst einseitig: Wladi fragt und Djadi antwortet zögerlich.
Erst nach einigen Monaten erfährt der Junge, dass sein älteres Gegenüber selbst ein Flüchtlingskind war und die Situation der Flucht nachvollziehen kann. Als sich in einem Restaurant am Nachbartisch Menschen über Flüchtlinge aufregen, reagiert Djadi darauf und Wladi erzählt seine Geschichte, die den WG-Bewohnern vertraut ist. Wladi hebt besonders hervor, dass die Kinder, die mit ihm auf der Flucht waren, „eine unsichtbare Schutzhaut von Angst und Aufregung“ gehabt hätten. Nur so sei es Ihnen möglich gewesen, sich vor Unruhe und Furcht zu schützen. Djadi, der aufmerksam der Geschichte folgt, bemerkt, dass auch er eine solche Schutzhaut hat. Er freut sich zwar, dass er und Wladi eine gemeinsame Geschichte haben, ist aber auch sichtlich verwirrt. Die Traumata Djadis sind nicht nur zwischen den Zeilen zu spüren, sondern werden explizit genannt, beispielsweise auf der Überfahrt mit der Fähre, die Djadi, Jan und Dorothea auf eine Nordseeinsel bringt. Inmitten von Menschen, die sich auf den Urlaub freuen, erinnert sich Djadi an die Mittelmeerfahrt und kann nur Angst spüren. Zugleich besteht er, da er mit Jan und Dorothea reist, diese Mutprobe und geht gestärkt aus der Situation hervor.
Härtling entwirft in seinem Roman die Integration des Flüchtlingsjungen Djadi, die vor allem mit Unterstützung des „alten“ Flüchtlingskindes Wladi gelingt. Die WG-Mitglieder akzeptieren Djadis Schweigen, ahnen seine Traumata und zugleich scheinen sie wieder ihren früheren Idealismus zu spüren. Djadi macht sie auf die gesellschaftlichen Probleme aufmerksam, die ihnen zwar bekannt sind, die sie aber nur noch vereinzelt hinterfragen. Härtling entwirft in seinem Buch nicht nur einen Dialog zwischen den Generationen, sondern hinterfragt daneben kritisch die gutbürgerliche Lebenssituation der ehemaligen 68er-Generation.
Ähnlich wie bei Härtling spielt auch in Rafi Schamis Roman Sami und der Wunsch nach Freiheit der Dialog zwischen den Generationen eine Rolle. Ein Ich-Erzähler begegnet zufällig Scharif im Hause seiner Freunde in Deutschland, lernt ihn kennen und lässt sich von ihm die Geschichte seines besten Freundes Sami erzählen. Sami und Scharif leben in Damaskus, erleben dort ihre Kindheit in einer Diktatur, ohne diese immer zu verstehen, und lernen Assads Regime kennen. Vor allem hat Sami hat den Wunsch, frei zu sein. Wie bereits in den zuvor genannten Bilderbüchern liegt auch in Schamis Roman der Fokus auf der Zeit vor dem Krieg. In Samis Geschichten wird eine Welt lebendig, die es wegen des Krieges nicht mehr gibt, die aber auch Rafik Schami, der Syrien bereits 1971 verlassen hat, und der in seinem Werk immer wieder Damaskus beschreibt, nicht mehr kennt. Scharif erzählt, wie sich die Freunde immer mehr politisieren, einen Blog initiieren und schließlich im Untergrund arbeiten.
Die Verbindung zwischen Tieren und Kindern ist nicht neu und auch die Literatur, die Fluchtbewegungen thematisiert, wendet sich der engen Verbindung zwischen Tieren und Menschen zu. In Mein Freund Pax (2017) von Sara Pennypacker wird die Geschichte einer Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Fuchs, die während des Krieges getrennt werden, erzählt. In King kommt noch (2017) thematisiert die Autorin Andrea Karimé ebenfalls den Verlust eines geliebten Tieres, das in einem Versteck im Heimatland zurückgelassen wurde, während sich die Familie in Deutschland ein neues Leben einrichten muss. Der Ich-Erzähler fragt immer wieder nach seinem Hund, wird vertröstet, schreibt ihm Briefe und versucht sich in dem neuen Land trotz des „komischen Brotes“ und der „Löcher in den Wänden“ zurechtzufinden. Er beobachtet die Menschen, versucht sie zu verstehen und muss immer wieder bemerken, dass in „dem neuen Land […] Mama nicht mehr viel“ weiß. Anders als die bisher vorgestellten Kinderromane steht eine Familie und ihr Neuanfang im Mittelpunkt, und damit die Schwierigkeit, sich in neues Leben aufzubauen. Ein Merkmal der drei angeführten Romane ist, dass sich alle drei behutsam und aus der Sicht des flüchtenden Kindes der Thematik widmen.
Der aktuelle Fokus in der Kinder- und Jugendliteratur scheint mittlerweile weniger auf dem Phänomen der Flucht zu liegen, sondern vielmehr auf dem der Integration und den Umgang miteinander. Der Blick auf eine multikulturelle Gesellschaft wird gestärkt. Die Autorinnen und Autoren nehmen kindliche Erzählerstimmen mit Migrationshintergrund auf, stellen diese in den Mittelpunkt der Handlung und ermöglichen so eine Perspektivenübernahme. Ihre Texte verharmlosen nicht die Probleme einer multikulturellen Gesellschaft und klammern Vorurteile sowie Rassismus nicht aus. Eines der bekanntesten Beispiele dürfte neben Texten Zoran Drvenkars der Kinderkriminalroman Der Junge, der Gedanken lesen konnte (2012) von Kirsten Boie sein, in dem ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund agieren. 2017 wird diese narrative Struktur fortgesetzt und in Romanen wie Gar nichts von allem von Christian Duda historisiert, der mit dem Satz beginnt: „Es war einmal 1975.“ Doch das, was den Leserinnen und Lesern auf den knapp 160 Seiten begegnet, hat wenig mit dem märchenhaften Anfang zu tun. Der elfjährige Magdi schreibt seine täglichen Erlebnisse zu Hause und in der Schule auf. Es sind Alltagssituationen, die jedoch den alltäglichen Rassismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1970er Jahre vorstellen. Magdis Vater stammt aus einem nicht näher genannten arabischen Land, seine Mutter ist Deutsche. Magdi und seine drei Geschwister müssen sich gegen allerhand Vorurteile behaupten. Der arabische Name enttarnt den „fremden“ Hintergrund und der Junge muss immer wieder erleben, wie überrascht und ungläubig seine Umwelt reagiert, wenn er den Namen seiner Schule – ein Gymnasium – nennt. Sie bezichtigen ihn der Lüge, weil sie denken, dass alle Kinder mit arabischen Nachnamen die Hauptschule besuchen. Auch in der Schule haben die Lehrerinnen und Lehrer bestimmte Vorbehalte, aber Magdi ist ein guter Schüler; vor allem seine Geschwister zählen zu den besten Schülerinnen und Schülern uns ebnen Magdi den Weg.
Doch es sind nicht nur Vorurteile, mit denen der Elfjährige kämpft, sondern auch die Gewalt zu Hause. Seine Eltern möchten, dass es ihre Kinder besser haben und bloß nicht in der Gesellschaft negativ auffallen. Der Vater schlägt seine Söhne brutal beim kleinsten Verstoß, die Mutter schweigt und ist eine Komplizin des Vaters, der von den Kindern gehasst wird. Angst ist gegenwärtig im Hause, denn Magdi ahnt, dass er keine Hilfe bekommt – weder von seiner Mutter noch von seinen Lehrerinnen und Lehrern. Der Junge ist damit dem Rassismus und der Gewalt ausgeliefert. Er beschreibt diese Situation in seinem Heft und fragt nach dem Sinn von Worten. Welchen Sinn haben Worte, wenn er die Wahrheit dennoch nicht aussprechen kann? „Mein Leben macht gar keinen Sinn, dann sollten meine Worte auch sinnlos sein.“, schreibt er. Doch seine Worte sind nicht sinnlos, sondern zeigen seine Hoffnungslosigkeit in einer Welt voller Gewalt und Rassismus, in der er sich behaupten muss. Seine Worte sind durchdrungen von einer Traurigkeit, die er hinter markigen Sprüchen zu verstecken sucht. Doch Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit sind zwischen den Zeilen spürbar ebenso der Wunsch nach einem „normalen“ Leben. Magdi setzt Hoffnungen in sein Idol, den Boxer Mohammed Ali. Ihn bewundert er und ihm möchte er schreiben. Doch sein Englisch reicht nur für einen Satz: „Dear Mister Ali, would you please come and fight with my father?“ Er kann dem Boxer die Gründe nicht erläutern und muss sich deshalb alleine gegen alle Widerstände behaupten.
Christian Duda widersetzt sich in seinem Buch den unausgesprochenen Regeln des Kinderromans, denn er verzichtet auf ein Happy End. Es kommt zu keiner Versöhnung zwischen den Eltern und die gesellschaftlichen Probleme lösen sich nicht auf. Trotzdem gibt es etwas Hoffnung. Immerhin kann Magdi mit einem Mädchen bummeln gehen – und das Schreiben hilft ihm, sich zu wehren. Es bringt ihn und seine Geschwister noch näher zusammen; gemeinsam scheinen sie eine Stimme gegen die familiären Missstände zu finden.
Der Beginn der Pubertät, Verluste, aber vor allem Gewalt und Rassismus legt der Roman offen und wirft einen Blick auf die Gesellschaft in den 1970er Jahren, eine Zeit, die bislang wenig in der Kinder- und auch Jugendliteratur behandelt wurde. Duda gibt Kindern aus binationalen Familien beziehungsweise Familien mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen sind und sich Rassismus, Vorurteilen, aber auch den Wünschen der Eltern stellen mussten, eine Stimme.
Der politische Jugendroman
Ähnlich wie im Kinderbuch erscheinen seit 2015 zahlreiche Jugendbücher, in denen Flucht aus unterschiedlichen Regionen beschrieben, Fluchtursachen benannt und die Ankunft der Flüchtlinge in Europa geschildert werden. Aber: Nicht nur Flucht wird zu einem dominanten Thema der Jugendliteratur, sondern auch die religiöse oder politische Radikalisierung von Jugendlichen. Hinzu kommen Romane, die das Genre der Dystopie wieder aufnehmen, und ein Setting entwerfen, indem radikale Gruppierungen die Macht übernommen und Freiheiten beschnitten haben.
Exemplarisch sollen die Jugendromane Dazwischen Ich (2016) von Julya Rabinowich, grenzlandtage oder Das Glück der Wanderfalter (2016) von Antonia Michaelis und Peer Martin sowie der Roman Exit Sugartown (2016) von Martin Petersen, der 2018 den Heinrich-Wolgast-Preis erhält, hinsichtlich der Themenfelder Flucht und Integration vorgestellt werden. Insbesondere die Romane Dazwischen Ich und Exit Sugartown stellen eine Verbindung zwischen weiblicher Identität und Fluchterfahrungen her und erzählen somit eine weibliche Fluchtgeschichte. Die Fluchtursachen sind unterschiedlich, denn einerseits fliehen die Protagonisten vor der kriegerischen Gewalt, andererseits vor Perspektivlosigkeit. Die Romane erzählen von der Ankunft der Flüchtlinge und fragen nach Integration sowie einer Zukunft in einem Land, in dem man immer wieder Vorurteilen begegnet. Julya Rabinowich schildert die Geschichte der 15-jährigen Madina, die mit ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem jüngeren Bruder vor Krieg und Gewalt geflohen ist. Woher sie genau kommt, bleibt unklar. Das ist auch nicht wichtig, denn Madina steht stellvertretend für die vielen Flüchtlingsmädchen, die in Westeuropa – auch das Ankunftsland wird nicht näher benannt – eine neue Heimat suchen und plötzlich eine neue Identität annehmen, die konträr zu den elterlichen Vorstellungen steht. Wortwörtlich stehen die Mädchen „dazwischen“: zwischen den Erwartungen der Eltern und der neuen Umgebung, zwischen der alten und der neuen Kultur. Madina lebt sich im neuen Land ein, lernt die Sprache, wird selbstbewusster und findet in Laura ihre beste Freundin. Sie fühlt sich wohl, besucht sie gerne – und doch sieht sie immer wieder die Unterschiede zwischen ihnen. Laura ist frei, darf ausgehen und mit Jungen reden, während Madina traditionell erzogen wird, Röcke tragen muss und kaum Freizeit hat. Ihr Vater, der in der alten Heimat nicht streng religiös war, wird immer strenger und betrachtet Madina nur als ein Mädchen. Ihr selbst ist klar, dass die neue Welt ihrem Vater Angst macht: Er lernt die Sprache nur langsam, begegnet überall Frauen, die durchaus Machtpositionen haben, und er fühlt sich in seiner männlichen Rolle minderwertig. Seinen Frust bekommen immer wieder Madina und ihre Mutter zu spüren. Das Mädchen jedoch will sich emanzipieren, sie fordert ihren Vater heraus, macht ihm aber zugleich klar, dass sie ihn liebt. Die Situation wird für alle immer schwieriger und das Warten auf den Asylbescheid zermürbt die Familie. Die Ankunft im neuen Land bedeutet für Madina und andere Flüchtlinge keine Ruhe.
Martin Petersen beschreibt in seinem Roman Exit Sugartown ebenfalls das Leben einer jungen Flüchtlingsfrau und wendet sich, anders als Rabinowich, nicht der Ankunft, sondern der Flucht zu. Er stellt mit der 17-jährigen Dawn eine Hauptfigur vor, die in einem nicht näher benannten afrikanischen Land aufwächst, Hunger leidet und von einem Leben mit Schule, Studium und Ruhe träumt. Doch sie muss im Haushalt helfen; nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter übernimmt sie die Rolle der Ersatzmutter für ihren jüngeren Bruder Charlie. Der Vater, der früher als Schuster ein eigenes Geschäft hatte, verliert seine Arbeit, fängt an zu trinken und verspielt immer wieder seinen Lohn. Dawn schuftet – und doch hungert die Familie. Da tauchen plötzlich zwei Jungen auf, die Menschen nach Europa bringen. Dawn beschließt, mitzugehen. Sie leiht sich Geld und macht sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin Didi auf den Weg. Zunächst eingesperrt im LKW, findet sie sich anschließend auf einem Schlauchboot und schließlich irgendwo in einem Flüchtlingslager in Europa wieder. Sie fälscht ihrer Papiere, bekommt Arbeit und verstrickt sich immer mehr in kriminelle Machenschaften. Dabei wünscht sie sich nur etwas Geld, das sie ihrem Vater und Bruder schicken kann. Die Situation wird immer aussichtsloser. Dawn erkennt, dass sie nur dann richtig Geld verdienen kann, wenn sie sich prostituiert oder kriminell wird. Sie erzählt einem Journalisten ihre Geschichte, bespricht immer mehr Kassetten und liefert den Leserinnen und Lesern ein trostloses Bild ihres Lebens. Sie flieht nicht vor dem Krieg, sondern vor Hunger und Hoffnungslosigkeit. Dawn hat kaum Chancen in ihrer Gesellschaft und sie setzt alle Hoffnungen auf Europa. Immer wieder finden sich im Roman gesellschaftskritische Töne. Die Protagonistin fragt sich, wer für die Armut in ihrem Land verantwortlich ist. Sind es die Europäer, die wohlhabend sind, wie es einer der Flüchtlinge glaubt? Ist es die Politik? Der Roman greift viele Fragen auf, ohne jedoch Antworten zu geben. Im Text wird ein realistisches Bild der Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern dargestellt. Petersen verschweigt weder den Schmutz noch den Gestank, sondern lässt seine Ich-Erzählerin alles sehr eindrücklich beschreiben. Es sind keine „schönen“ Szenen, aber es sind wichtige Szenen. Sie machen klar, was Dawn mit ihren 17 Jahren auf sich genommen hat. Auch die sexuellen Anspielungen und Handgreiflichkeiten, denen Frauen immer wieder auf der Flucht ausgesetzt sind, werden nicht verschwiegen.
Rabinowichs als auch Petersens Roman widersetzen sich einfachen Erzählmustern oder Stereotypen; beide machen sie auf Missstände innerhalb der Gesellschaft aufmerksam und folgen so dem Muster der engagierten Jugendliteratur.
„Für Assmann“. Mit dieser Widmung setzt der Roman grenzlandtage oder Das Glück der Wanderfalter ein, den Antonia Michaelis mit dem AutorPeer Martin verfasst hat. Peer Martins Debütroman Sommer unter schwarzen Flügeln (2015) wurde 2016 mit dem Deutschen Jugendliteratur ausgezeichnet. In dem Roman setzen sich Michaelis und Martin mit dem Thema Flucht auseinander, eröffnen neue Akzente und zeigen weitere Perspektiven auf. Im Mittelpunkt steht Jule, 17 Jahre alt, Deutsche und Abiturientin. Sie kommt aus einem liberalen Elternhaus und möchte zwei Wochen in Griechenland verbringen, um sich für den Abi-Stress zu wappnen. Ihre beste Freundin musste aufgrund einer Blinddarmoperation absagen und so tritt Jule allein die Reise an. Sie wirkt naiv, fast kindlich, und ist voller Vorfreude auf ein paar Tage am Mittelmeer. Doch bereits bei ihrer Ankunft bemerkt sie Veränderungen, fühlt sich beobachtet und lernt schließlich einen jungen Mann kennen, der voller Geheimnisse steckt. Sie nimmt Gerüchte von Flüchtlingen auf griechischen Inseln wahr, erkennt aber nicht die Zusammenhänge. Erst nach und nach erschließt sich ihr die ganze Wahrheit und sie will dem Jungen, der Assmann heißt, helfen. Parallel und in kürzeren Abschnitten lernen die Leserinnen und Leser neben Jules auch Assmanns Perspektive kennen.
Die Handlung setzt in einer Zeit ein, in der die Menschen in Westeuropa noch kaum die Flüchtlinge wahrnehmen. Wir befinden uns im Frühjahr 2015: Man hört Nachrichten aus Syrien, blendet aber vieles aus. Auch Jule machte sich kaum Gedanken über die politische Situation und fliegt sorglos ans Mittelmeer. Zugleich lernt sie auf der Insel auch die Ängste und Sorgen der Griechen kennen, die den Flüchtlingen kaum helfen können, und Angst haben, dass die Touristen und damit das Geld ausbleiben. Jule verändert sich im Laufe der Geschichte und mit ihr verändert sich auch die Sprache im Roman. Zu Beginn lebt die Sprache von Bildern und Metaphern und Sätzen wie „Ich bin unter einer Käseglocke aus Sicherheiten aufgewachsen, und jetzt habe ich mir in den Kopf gesetzt, dass ich einen Typen brauche, der die Welt außerhalb der Käseglocke kennt.“
Ähnlich wie Anna, die ihr Leben in einer Seifenblase beschreibt, erkennt auch Jule, dass in einem wohlbehüteten und geschützten Raum aufgewachsen ist. Je mehr Jule in Assmanns Welt eintaucht, desto wütender und trauriger wird sie und mit ihr Sprache. Fast besessen sucht sie nach Informationen im Internet – und ist dennoch machtlos. Die Naivität bleibt und ihr Handeln wirkt mitunter kopflos, aber eben vor allem verzweifelt. Immer wieder stellt sie sich die Frage, was ein einzelner Mensch in einer solchen Situation machen kann.
Es ist diese Machtlosigkeit, die immer wieder zwischen den Zeilen mitschwingt, aber auch die Schwierigkeiten und Ängste der Umwelt. Martin und Michaelis verharmlosen keineswegs, indem sie die Flucht in eine Liebesgeschichte einbetten. Die Fluchthilfe, die Ursachen der Flucht aus Syrien, die Gewalt, der Flüchtlinge – insbesondere Frauen – ausgesetzt sind, sind wichtige und notwendige Themen im Roman. Sie eröffnen Leserinnen und Lesern neue Perspektiven und entwerfen mit Jule eine authentische 17-Jährige. Aber: Sie machen es sich auf der anderen Seite einfach, denn sie lassen ihren Roman offen und damit die Leserinnen und Leser mit vielen Fragen zurück. Doch genau an dieser Stelle bräuchte man eine Fortsetzung, um den Alltag in Deutschland aufzuzeigen, Schwierigkeiten zu benennen und das Leben nach der Flucht aufzuzeigen.
grenzlandtage hebt sich aus der Literatur, die zum Thema Flucht erschien, aufgrund des Settings und der sprachlichen Gestaltung heraus und zeigt nicht die Ankunft in Deutschland, sondern mit einer griechischen Insel eine Zwischenstation. Die Flüchtlinge werden nicht idealisiert oder als eine homogene Gruppe dargestellt, sondern vielmehr als Individuen mit unterschiedlichen Geschichten und auch unterschiedlichen Handlungsmustern.
Die Radikalisierung von Jugendlichen bestimmt seit einigen Jahren die tagespolitische Agenda: Man liest über Rechtsradikale oder Jugendliche, die sich dem Djihad anschließen und gegen westliche Werte kämpfen. Auch die Jugendliteratur entdeckt den radikalen Jugendlichen und fragt in den Texten nach Beweggründen für die Radikalisierung. Einerseits stehen die Romane in der Tradition der sozialkritischen und aufklärerischen Texte der 1970er Jahre, andererseits bieten sie kaum konkrete Lösungen, sondern eröffnen Deutungsspielräume und zwingen beispielsweise mit offenen Enden die jugendlichen Leserinnen und Leser, selbst Position zu beziehen.
Antonia Michaelis hat sich in ihrem Roman Die Attentäter (2016) der Frage gestellt, wie Jugendliche zu Attentätern werden. Anlass des Schreibens waren die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris, die alle erschütterten. In einem Brief an die Buchhändler, der den Vorabexemplaren des Romans voran gestellt wurde, erläutert Michaelis ihre Beweggründe, einen politischen Jugendroman zu verfassen.
Im Mittelpunkt stehen drei Freunde, die sich seit ihrem vierten Lebensjahr kennen und die an die Figuren aus Michaelis früheren Romanen erinnern. Aufgewachsen in einem Berliner Mehrfamilienhaus, erfahren sie dennoch unterschiedliche Kindheiten. Während Alain und Margarete in einem liebevollen Zuhause älter werden und liberale Eltern haben, muss Cliff nicht nur die Trennung seiner Eltern sowie die Abwesenheit seiner Mutter verarbeiten, sondern auch die Alkoholabhängigkeit seines Vaters erleben. Diese geht einher mit Gewalt, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Vernachlässigung. Cliff ist ein talentierter Zeichner, besitzt ein fotografisches Gedächtnis und wirkt in seiner Welt verloren. Auch Alain liebt die Kunst, gemeinsam malen sie und unternehmen Streifzüge durch Berlin. Margarete, die Dritte im Bunde, ist bodenständig. Als Kinder spielten sie oft und „bauten zusammen Häuser für Zwerge zwischen Blumen im Hinterhof“: „Mit Margarete war alles einfach und schön, wenn ihre blassen, kühlen Hände seine berührten, fühlte er sich sicher.“ So beschreibt Alain seine Freundschaft zu dem Mädchen. Diese Sicherheit fühlt Alain auch mit seinen 19 Jahren noch, denn seine Freundschaft zu Margarete ist sicher und ohne Überraschungen. Doch von Cliff geht etwas Dunkles aus. Von ihm lernt Alain „Regenwürmer durchschneiden“. Cliff scheint Gewalt geradezu anzuziehen und freundet sich mit gewalttätigen Jugendlichen an. Vor allem Alain leidet darunter, denn er liebt Cliff, verehrt ihn und muss erleben, wie dieser immer mehr ins Abseits rutscht. Zunächst sind es Rechtsradikale, dann lernt Cliff den Islam kennen. Er verbringt viel Zeit in der Moschee, konvertiert und geht schließlich nach Syrien. 2015 kehrt er zurück: Alain ahnt, dass er etwas plant.
Der Roman strukturiert sich um die drei verschiedenen Jugendlichen. Abwechselnd wird aus ihrer Perspektive erzählt. Erinnerungen verschwimmen mit Gegenwärtigem und nach und nach lernt man einen zutiefst verunsicherten Cliff kennen, der tatsächlich an das Kalifat glaubt. Seine Unsicherheit resultiert unter anderem auch aus seiner Liebe zu Alain, die er nicht zugeben möchte. Beide Jungen fühlen sich zueinander hingezogen. Doch während Alain seine Homosexualität offen lebt, schämt sich Cliff. Dieses Dilemma verfolgt ihn bis nach Syrien, wo er, um nicht aufzufallen, Frauen vergewaltigt und verletzt. Antonia Michaelis arbeitet nicht mit Klischees, sondern entwirft mit Cliff einen Jugendlichen, der in unserer postmodernen Gesellschaft verloren ist. Anders als Alain oder Margarete stehen ihm nicht alle Möglichkeiten zur Verfügung. Sein Vater, ein alkoholkranker Mann, und seine Mutter, eine Türkin, die eine Uni-Karriere macht und ihren Sohn vernachlässigt, geben ihm keine Stabilität. Stabilität bedeutet für Cliff Regeln, an die er sich halten soll und die ihn Sicherheit geben. Erst im Islam lernt er diese Regeln und findet ein Zuhause.
Durch seinen Blick, den Blick eines zum Islam Konvertierten, erleben die Leserinnen und Leser Berlin: Cliff beschreibt die Party-Abende in dem berühmten Techno-Club Berghain, ist von den sexuellen Eskapaden angewidert und angezogen zugleich. Er kritisiert das Essen bei McDonalds oder beschreibt den Konsumwahn im KaDeWe. Es ist seine Sicht auf die westliche Gesellschaft, in der er bestimmte Werte vermisst. Alain, der Cliff immer wieder folgt, wird zu seinem stummen Schatten. Auch er beschreibt die Szenen, die Cliff sieht. Aber er wählt andere Worte, denn er liebt die Welt, die ihn umgibt. Michaelis arbeitet erneut mit Kontrasten: Alain ist nicht nur blond, er wirkt auch hell und freundlich. Cliff dagegen ist dunkel und es ist ein geheimnisvolles Funkeln, das von ihm ausgeht. Aber es ist gerade das, was Alain so fasziniert.
In ihrem Roman beschreibt sie die Gewalt der Attentäter mit großer Genauigkeit, aber auch die Szenen in Syrien sind ernüchternd. Cliff beschreibt alles, ohne dass es ihn berührt. Hingegen sind seine Gedanken über Religion und das Paradies voller Poesie. Auch die Beschreibungen der Stadt pendeln zwischen Ablehnung und Faszination. Allein diese Sätze zu Beginn des Romans deuten auf seine Zerrissenheit und sein Verlorensein hin: „Der Himmel war hellblau und fadenscheinig wie etwas, das wir so lange benutzt hatten, bis es beinahe riss.“ Cliff hatte die Sehnsucht, zur westlichen Welt dazuzugehören. Diese blieb jedoch unerfüllt, trotz seiner Freundschaft mit Alain und Margarete.
Antonia Michaelis porträtiert in ihrem Roman die Zeit nach den Anschlägen in Paris, aber nicht nur das: Alain und Margarete engagieren sich in der Flüchtlingshilfe während Cliff in Vorbereitung seines Anschlages die Angst der Menschen vor Flüchtlingen missbrauchen möchte. Pegida und die rechte Stimmung werden ebenso erwähnt wie die Sorgen der Menschen, aber eben auch ihre Hilfsbereitschaft. Der Roman zeichnet ein Bild unserer zerrissenen Zeit.
Romane von Manfred Theisen, Christian Linker oder Martin Schäuble legen ihren Fokus auf die politische Radikalisierung der Jugendlichen und diskutieren einerseits die Beweggründe, andererseits stellen sie eine Welt vor, in der autoritäre Bewegungen die Macht bekommen haben. Diese Texte können als Warngeschichten gelesen werden. In Endland (2017) des Journalisten und Schriftstellers Martin Schäuble wird beispielsweise ein Szenario entworfen, in dem eine rechte Partei die Mehrheit in der BRD erlangt, das Land abschottet, die Grenzen schließt und das Nationale hervorhebt. Im Mittelpunkt stehen Fana, Anton und Noah, die zunächst die neue Entwicklung in Deutschland unterschiedlich bewerten. Fana lebt in Addis Abeba, träumt von einem Medizinstudium und musste die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte Äthiopiens miterleben. Sie flüchtet nach Deutschland. Doch Deutschland, aber auch Europa insgesamt, haben sich verändert; die Grenzen wurden geschlossen und in Deutschland regiert die Nationale Alternative. Abschattung, Nationalismus, Tradition sind nur ein paar Schlagwörter der Partei, die, auch das wird im Laufe der Geschichte deutlich, sich keineswegs für die „Abgehängten“ einer Gesellschaft interessiert, sondern die Reichen bevorzugt, das Arbeitslosengeld privatisiert und Angst vor dem „Fremden“ verbreitet. Zu den Anhängern der Nationalen Alternativen gehört auch Anton, der an die Partei glaubt, als Soldat Deutschland schützt und seinem besten Freund Noah, die dritte und zugleich zweifelnde Stimme, von der Partei überzeugen möchte.
Trotz aktueller Bezüge schreibt Schäuble zunächst einen stark dystopisch geprägten Roman, den man als Warnliteratur lesen kann. Doch mit den jugendlichen Stimmen, die sich nach und nach dem politischen System widersetzen, zeigt er zugleich die Hoffnungsträger für die Zukunft auf.
2017 erscheint mit Väterland von Christophe Leon ein weiterer Roman, der sich mit der Rolle rechter Parteien auseinandersetzt. Entworfen wird eine Zukunft voller Intoleranz, in der Menschen, die nicht der Norm entsprechen, verfolgt und stigmatisiert werden. Die Hauptfiguren, die dem Credo, dass „die Liebe weder ein Geschlecht noch eine Hautfarbe“ hat, folgen, widersetzen sich bestimmten Bildern einer heteronormativen Gesellschaft, plädieren für Akzeptanz und verweigern sich intoleranter Gesetzgebung.
Die Handlung in dem dystopischen Zukunftsroman spielt in Paris; erzählt wird von George und Phil sowie Gabrielle. George und Phil sind Künstler, homosexuell und miteinander verheiratet. Sie haben Gabrielle, in Somalia geboren, adoptiert und leben ein offenes und wohlhabendes Leben in Paris. Beide sind erfolgreich und großzügig sowie liebevoll zu ihrer Tochter und ihrer Umwelt. War Homosexualität in der Vergangenheit fast „normal“, so hat sich plötzlich die politische Situation gewandelt und Homosexualität wird strafrechtlich verfolgt. Dieser Prozess geschah, so wird es in Rückblenden reflektiert, langsam und wurde von Phil sowie George zunächst ignoriert. Beide glaubten nicht, dass sich die Gesellschaft in Frankreich verändern würde. Doch sie irrten sich und verlieren schließlich fast alles: Sie müssen ihre Wohnung verlassen, ziehen in einen Vorort, eine Art Ghetto für Homosexuelle, dürfen nicht mehr in die Innenstadt und auch ihre Kunst wird verboten. Auch Gabrielle erlebt Anfeindungen, wird von Freundinnen gemieden und schließlich beschimpft. Phil fasst die Entwicklung in einer Geschichte zusammen:
Wirf einen Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser und schalte die Herdplatte auf kleine Stufe. Der Frosch wird langsam erwärmt, ohne es zu spüren, und er wird an Verbrühung sterben. In kochendes Wasser geworfen, würde er keine Sekunde darin bleiben, sondern aus dem Topf springen. Etwas Ähnliches kommt auf uns zu, Gabrielle. Wenn niemand reagiert, wird es ganz schön heiß für uns.
Mit diesen Worten wird treffend die Situation, in der sich die Familie befindet, beschrieben. Zugleich lässt sich die Passage auch als eine Warnung an den Leser verstehen: Werte wie Toleranz, Offenheit oder Akzeptanz einer Gesellschaft sind wichtige Güter, die nicht auf ewig garantiert sind. Sie können aufgehoben werden und man muss sehr genau beobachten, um sich dem zu widersetzen.
Léon entwirft eine Gesellschaft voller Intoleranz, Gewalt, Angst und Unwissenheit. Aber: Es gibt auch Hoffnung, denn nicht alle Menschen lassen sich verändern und halten an Werten wie Menschlichkeit und Toleranz fest. Phil, Gabrielle und George finden Helferinnen und Helfer, die sie verstecken und unterstützen.
Manfred Theisen, der in Romanen wie Checkpoint Europa: Flucht in ein neues Leben (2016) von der Flucht eines Jungen aus Syrien erzählt, schildert in seinem aktuellen Roman Angst sollt ihr haben (2017) die rechte Szene in Deutschland. Ähnlich wie auch Peer Martin in seinem mehrfach ausgezeichneten Roman Sommer unter schwarzen Flügeln zeigt er die Brutalität der Szene und warnt so vor einer Verharmlosung.
Neben aktuellen Fluchtbewegungen oder der politischen Situation in Deutschland beziehungsweise Europa thematisieren Kinder- und Jugendromane auch historische Fluchterfahrungen. Dazu gehören sowohl Erzählungen über die Zeit des Nationalsozialismus als auch über die unmittelbare Nachkriegszeit. Rüdiger Betrams Der Pfad. Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit (2017) erzählt von der Flucht eines Jungen mit seinem Vater, von Schuld, Unschuld und einer Freundschaft, die Kontinente überdauert. Es ist ein Roman für Kinder, der an Anna Seghers’ Transit erinnert, denn auch Bertram schafft es, die Enge, Bedrohung und Angst der Exilierten ähnlich in Worte zu fassen wie schon Seghers. Während sie jedoch einen der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts für Erwachsene schrieb, adaptiert Bertram gekonnt das Thema für ein jugendliches Lesepublikum, ohne zu verharmlosen oder zu verniedlichen. Und allein schon dafür gebührt ihm Lob und Respekt.
Die Geschichte ist mehr als überzeugend. Im Mittelpunkt stehen Ludwig, Rolf und der Hund Adi. Ludwig Kaiser war in Deutschland ein bekannter Journalist, der immer wieder gegen Hitler und die NSDAP Artikel verfasst hat. Gemeinsam mit seinem Sohn Rolf, seiner Frau und Adi, der – als Witz gedacht – nach Adolf Hitler benannt wurde, flieht er nach Paris. Als jedoch die deutsche Wehrmacht immer näher rückt, muss die Familie weiter; der Mutter gelingt die Ausreise nach New York, während Vater, Sohn und Hund zunächst zurückbleiben und nach Lösungen suchen. Das Anstehen für Visa, aber auch die Geldnot und die Verfolgungen durch die Gestapo ist Rolf, durch dessen Perspektive die Leserinnen und Leser die Geschichte erleben, präsent. Er hilft seinem Vater und ahnt, dass die Situation immer schlimmer werden wird. Hinzu kommt der Hunger. Zunächst in Marseille, erlebt Rolf das Leben in den Caféhäusern, trifft mit seinem Vater Bekannte aus Berlin und er- und überlebt Razzien. Weder Vater noch Sohn machen sich Illusionen und wissen, dass sie das Land verlassen müssen. Und hier lässt Bertram nicht nur Varian Fry, sondern auch Lisa Fittko auftreten. Er nennt sie im Roman anders, aber doch handelt es sich unverkennbar um die Frau, die zahlreichen Exilierten geholfen hat, über die Pyrenäen zu fliehen, und die nach und nach in Vergessenheit geriet. In ihren Erinnerungen Mein Weg über die Pyrenäen ist Bertram auf eine Passage gestoßen, in der von einem Mädchen erzählt wird. Aus diesem wird schließlich Rolf, der mit seinem Fluchthelfer Manuel, dessen Eltern im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft haben, alleine über die Berge nach Spanien muss. Sein Vater, der ihn noch ein Stück begleiten durfte, wird verhaftet. Die Jungen freunden sich langsam an, tauschen sich über ihr Leben aus und retten sich gleichzeitig vor Grenzpatrouillen. In Berichten der Exilierten, die den Pfad gegangen sind – erinnert sei unter anderem an Heinrich Mann oder Alma Mahler-Werfel – weiß man von der Angst, den Strapazen und der Wut auf die Nationalsozialisten. Das alles packt Bertram in die Geschichte von Rolf und bietet so heutigen jugendlichen Leserinnen und Lesern Zugang zu einem Teil der deutschen Geschichte. Dieser wird zudem noch durch die Comics von Heribert Schulmeyer erleichtert, die in die Geschichte ein- und herausführen. In den Panels sieht man die Ereignisse vom Januar 1933 über die Bücherverbrennung bis zum Überfall Frankreichs im Jahre 1940. Das Ende setzt – das kann verraten werden – die weitere Lebensgeschichte von Rolf und Manuel in wenigen Bildern fort. Dazwischen findet sich der Text, in dem sich Rolf, im Gespräch mit Manuel, immer wieder an bestimmte historische Ereignisse in Deutschland erinnert. Diese Dialoge erschließen die historischen Kontexte und wirken weder belehrend noch konstruiert.
Bis in die Nebenfiguren bezieht sich Bertram auf reale Vorbilder, er zeigt beispielsweise Intellektuelle in Cafés, die plötzlich als Kellner arbeiten müssen. In Nebensätzen werden diese Aspekte, die die Mehrfachadressierung des Romans verdeutlichen, aufgenommen und von Rolf kommentiert. Wenn etwa Anna, die Künstlerin aus Berlin, Pässe fälscht und sich so über Wasser hält. Dazwischen fügt Bertram auch lustige Szenen ein, nimmt Witze auf und zeigt etwa Vater und Sohn schwimmend im Mittelmeer. Auch solche Szenen gab es, wie die Kinder der Exilierten, etwa von Bertolt Brecht oder von Anna Seghers, berichteten. Rolf, der nicht zur Schule gehen kann und deshalb wenig Kontakt mit Gleichaltrigen hat, genießt diese wenigen fröhlichen Momente mit seinem Vater.
In Salz für die See (2016) erzählt die US-amerikanische Autorin Ruta Sepetys von den letzten Kriegstagen in Preußen sowie vom Untergang der Wilhelm Gustlof. Im Mittelpunkt stehen Joana aus Litauen, Emilia aus Polen, Florian aus Königsberg und Alfred aus Heidelberg. Erzählt wird abwechselnd aus ihrer Perspektive; nach und nach entfaltet sich das Panorama der unterschiedlichen Schicksale. Joana, die als Krankenschwester arbeitet und Litauen wegen der näher rückenden Roten Armee verlassen musste, leistet Hilfe, hadert aber gleichzeitig mit ihrer Vergangenheit. Auch Emilia, 15 Jahre alt und im achten Monat schwanger, hat ein Geheimnis. Sie bekommt als Polin kaum Schutz und muss eine falsche Identität annehmen. Florian, der als Restaurator gearbeitet hat, ist ebenfalls in Gefahr. Sein Vater war am Attentat an Hitler beteiligt und wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Florian möchte sich an ihnen rächen. Alfred, ein Junge aus Heidelberg, ist ein überzeugter Nationalsozialist und hat seine Jugendliebe verloren. Die jeweiligen Figuren sprechen kaum miteinander; erst aus ihren Gedanken und Erinnerungen werden wie in einem Puzzle die Geschehnisse deutlich. Die distanzierte Sichtweise auf die Ereignisse hilft den Figuren, durchzuhalten und nicht an ihnen zu zerbrechen. Und noch mehr: Sie bewahren trotz der Gewalt auch Menschlichkeit und Solidarität. Ruta Sepetys legt den Schwerpunkt der Geschichte auf die Flucht vor der Roten Armee, die sie gewalttätig entwirft, sowie den Untergang der Wilhelm Gustloff. Sie verfällt jedoch nicht in Stereotypen, sondern hält sich an historische Ereignisse. Der Roman erzählt von den Gräueltaten der Roten Armee, aber auch der Nationalsozialisten, geht unter anderem auf das zerrissene Polen ein und schildert eindrücklich das Elend der Menschen. Der Blick ruht auf den Kindern, den Jugendlichen und den „einfachen“ Leuten, denen gehorsame Nationalsozialisten, die auch im Januar 1945 noch für Hitler kämpfen und nicht aufgeben, gegenübergestellt werden. Die Flucht der Hauptfiguren ist nicht nur wegen der Kriegshandlungen und der Kälte gefährlich, sondern sie ist auch verboten. Die Nationalsozialisten haben den Menschen in den ostpreußischen Gebieten erst spät erlaubt, zu fliehen und damit Tausende in Gefahr gebracht.
Geschichtserzählende Romane sind keine Geschichtsbücher, aber dennoch arbeiten sie mit historischen Ereignissen, verbinden Fakten mit Fiktionalitäten und eröffnen neue Perspektiven. Auch Sepetys, die in Michigan geboren ist, jedoch litauische Vorfahren hat, erzählt aus der Sicht der zweiten Generation und erweitert die Sicht auf Länder wie Litauen. Diese Perspektive ist deshalb so wichtig, weil sie mögliche Erklärungen für die Geschichte und die Entwicklung in den baltischen Ländern nach 1945 liefert.
Fazit
Die Vorstellung der ausgewählten Bilder-, Kinder- und Jugendbücher deutet die Wende zu einer Politisierung innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur an, die sich auch aus der politischen Situation seit 2015 erklären lässt. Den Leserinnen und Lesern wird eine Vielzahl an Geschichten über Flucht angeboten, aber auch über Integration und den Umgang mit Flüchtlingen in einem Land. Ein Teil der Romane versteht sich als engagierte Literatur, die auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen und so die Leserinnen und Leser zum Nachdenken bewegen möchte.
Primärliteratur
Bertram, Rüdiger: Der Pfad. Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit. Mit Comics von Heribert Schulmeyer. München: cbj, 2017.
Duda, Christian: Gar nichts von allem. Mit Illustrationen von Julia Friese. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2017.
Härtling, Peter: Djadi, Flüchtlingsjunge. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2016.
Karimé, Andrea: King kommt noch. Mit Zeichnungen von Jens Rassmus. Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 2017.
Kostrzewa, Anne: Nasengruß und Wangenkuss. So macht man Dinge anderswo. Mit Illustrationen von Inka Vigh. Frankfurt a.M.: Sauerländer, 2017.
Léon, Christophe: Väterland. München: Mixtvision, 2017.
Martin, Peer; Michaelis, Antonia: grenzlandtage oder Das Glück der Wanderfalter. Hamburg: Oetinger, 2017.
Michaelis, Antonia: Die Attentäter. Hamburg: Oetinger, 2016.
Petersen, Martin: Exit Sugartown. Hamburg: Dressler Verlag, 2016.
Rabinowich, Julya: Dazwischen Ich. München: Carl Hanser Verlag, 2016.
Ruurs, Margriet; Badr, Nizar Ali: Ramas Flucht. Hildesheim: Gerstenberg, 2017.
Sanna, Francesca: Die Flucht. Zürich: NordSüd Verlag, 2017.
Schami, Rafik: Sami und der Wunsch nach Freiheit. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2017.
Schäuble, Martin: Endland. München: Carl Hanser Verlag, 2017.
Sepetys, Ruta: Salz für die See. Hamburg: Königskinder, 2016.