Der dritte Mann

Günter de Bruyn zeichnet den Dichter Zacharias Werner als einen „Sünder und Heiligen“

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der 1990er-Jahre nahm die Deutsche Kammerakademie Neuss unter Johannes Goritzki Bühnenmusiken E. T. A. Hoffmanns auf. Darunter befindet sich auch die Einspielung von drei Kompositionen Hoffmanns aus dem Jahr 1805 zu Zacharias Werners Drama Das Kreuz an der Ostsee: die Ouvertüre zum ersten Akt in d-Moll, die Zwischenaktmusik für die Überbrückung des zweiten und dritten Akts in D-Dur und schließlich der „Marsch der Deutschen Ritter“, ebenfalls in D-Dur. Es ist energische, bisweilen drängende Musik, neben der üblichen Sinfoniebesetzung sieht sie mehrere Trompeten und Posaunen vor, die dem gleichermaßen militärischen wie religiös-pathetischen Charakter des Trauerspiels Rechnung tragen. Zur Aufführung kam es damals nicht, August Wilhelm Iffland lehnte die Inszenierung an seinem Berliner Theater ab, Hoffmanns Musik blieb, von einem Klavierauszug des Marsches in der Buchausgabe abgesehen, in der Schublade und geriet in Vergessenheit.

Nicht anders erging es dem Dramatiker, dessen Werk Hoffmann musikalisch untermalt hatte. Zacharias Werner, der mit seinem dritten, dem Kreuz an der Ostsee folgenden Drama über Martin Luther 1806 einen gewaltigen Bühnenerfolg feierte, blieb seinen Zeitgenossen vor allem als Kuriosum, als exaltierter Prediger auf dem Wiener Kongress und übereifriger Konvertit in Erinnerung, nicht als Dichter herausragender, innovativer Dramen; nach seinem Tod wurde er rasch vergessen.

Daran könnte sich nun etwas ändern, denn Günter de Bruyn, der sich schon seit längerer Zeit einen Namen als Biograf von Randfiguren der preußischen Geschichte gemacht hat, legt unter dem Titel Sünder und Heiliger im S. Fischer Verlag eine bestens lesbare Biografie Werners vor, die dessen „ungewöhnliches Leben“ (so der Untertitel) mit großem Wohlwollen und ruhiger Stimme erzählt.

Ein anderer hätte aus den biografischen Quellen (in erster Linie die Anfang des vorigen Jahrhunderts von Oswald Floeck vorbildlich besorgten Ausgaben der Briefe und Tagebücher) wahrscheinlich einen Abenteuerroman geformt. Denn schon der älteste überlieferte Brief des 1768 in Königsberg geborenen Werner böte Stoff genug: Der junge Mann, gerade Mitte zwanzig, schreibt einer Geliebten, die als Prostituierte arbeitet, dass sie aus Königsberg fliehen müsse, um nicht von seiner Verwandtschaft belangt zu werden; er könne ihr zwar keine Ehe versprechen, wolle aber stets zu ihr halten und ihr bei erster Gelegenheit unauffällig folgen; sie solle irgendwo in der Provinz zwischen Königsberg und Berlin auf ihn warten. Was bei Werner selbst offenbar hastig hingeworfene Zeilen sind, gewinnt bei de Bruyn eine Abgeklärtheit, die der Situation ihre krisenhaftes Drängen gleichwohl nicht austreibt:

Eine Friederike Schultze, die sich bei Ausübung ihres Gewerbes auch Schmidt oder Meyer nannte, hatte es aus ihrer Heimatstadt Frankfurt an der Oder um 1790 nach Königsberg in Preußen verschlagen, wo sie das Glück hatte, an den Studenten Werner zu geraten, der sie nicht nur wiederholt besuchte und reichlich bezahlte, sondern ihr auch Liebe und Treue schwor. Mit ihrem Einverständnis ließ er sie bei Nacht und Nebel aus dem Freudenhaus entführen und in das Städtchen Schippenbeil bringen, wo sie der Pfarrer […] beherbergte, während Werner in Königsberg das Geld zu beschaffen suchte, das zum geplanten Zusammenleben der Liebenden nötig war.

In diesem die Distanz wahrenden, sich aber nicht abwendenden Ton geht es fort, auch während sich die Ereignisse zuspitzen. Werner, dessen Vater früh verstorben war, erwirkt schließlich die Einwilligung der Mutter zur Ehe und reist Hals über Kopf mit seiner Braut nach Warschau, wo sich das Paar trauen lässt. Die Hochzeit ruiniert den Ruf des Professorensohns, die wenige Jahre später erfolgende Scheidung kostet ihn die Hälfte seines väterlichen Erbes – beides wird dem jungen Mann das Leben schwer machen.

Werner heiratet bald erneut, wird jedoch wieder nicht glücklich. Nach zwei Scheidungen ist sein väterliches Erbe fast aufgebraucht; seine Mutter indessen leidet unter chronischen Krankheiten und Wahnvorstellungen; Gerüchte besagen, sie halte sich für die Mutter Gottes und ihren Sohn für den Heiland. Werner, inzwischen preußischer Beamter und als solcher immer wieder in Polen im Einsatz, heiratet ein drittes und letztes Mal: eine junge Polin, mit der er mehrere Jahre lang glücklich leben wird. Gemeinsam pflegen sie seine kranke Mutter, wofür ihm mehrfacher, langer Urlaub bewilligt wird. Als die Mutter 1804 stirbt, sind Werners Geldsorgen zwar beendet, seine Karriere als preußischer Beamter kann er jedoch nicht fortsetzen. Schließlich kommt es auch in seiner Ehe zur Krise. Nach einer Fehlgeburt trennt sich seine Frau von ihm und heiratet den früheren Erzieher der Brüder Humboldt, Gottlob Kunth; Werner sieht sie nicht wieder, trauert ihr aber sein Leben lang nach.

In diesen Jahren tritt Werner erstmals auch als Schriftsteller in Erscheinung. 1789 hat er bereits einen Band mit Gedichten veröffentlicht, nun folgen seine ersten Dramen, die zweiteiligen Söhne des Thals (1803/04) und der erste (und letztlich einzige) Band des ebenfalls zweiteiligen Das Kreuz an der Ostsee (1806). Er kommt in Kontakt mit Iffland, der sich in ihm einen Ersatz für den 1805 gestorbenen Friedrich Schiller erhofft. Infolgedessen wird 1806 in Berlin Werners Martin Luther oder Die Weihe der Kraft aufgeführt, ein enormer Erfolg, der sich im ganzen deutschen Sprachraum wiederholt. Werner aber, inzwischen in Berlin lebend, kommt auf keinen grünen Zweig, die Erfolge reichen nie aus, um ihn wirklich am literarischen Markt zu verankern. In de Bruyns Worten bleibt er in der Hauptstadt des in die Napoleonischen Kriege verstrickten Preußen „der Fremde, der nicht dazugehörte, weil er an den politischen Spannungen […] keinen Anteil nahm.“ Und tatsächlich finden sich kaum politische Aussagen Werners; die späten, nationalistisch getönten Gedichte anlässlich der alliierten Siege 1813 und 1815 sind in dieser Hinsicht kaum mehr als Pflichtübungen.

Getrieben einerseits von einer tiefen, durchaus schwärmerischen Religiosität, die ihn in jungen Jahren zum Freimaurer gemacht hatte (darauf hoffend, dass die ihm ,urchristlich‘ scheinende Logentätigkeit zu einer besseren Gesellschaft beitragen könne), andererseits von dem unbändigen Wunsch, literarisch anerkannt zu werden, zieht er durch Deutschland und Österreich und findet schließlich Aufnahme bei Goethe, der eine Zeit lang große Stücke auf ihn hält und in ihm, wie zuvor Iffland, einen Erneuerer des Theaters sieht, ehe er ihn wegen seiner christlich-mystischen Anwandlungen verstößt.

Für, mit und gegen Goethe gelangen Wanda, Königin der Sarmaten (1808) und Der vierundzwanzigste Februar (1809) auf die Weimarer Bühne, letzteres sogar mit gewissem Erfolg. Nach einem ersten Streit mit Goethe lebt Werner eine Weile mit Madame de Staël und August Wilhelm Schlegel in Coppet am Genfer See; nach einem zweiten Streit, der zu einem (im Rückblick auch für Goethe wenig vorteilhaften) Weimarer Skandal wird, zieht er über Köln nach Italien, um in Rom zum katholischen Glauben zu konvertieren. „Werner“, so vermutet de Bruyn nicht zu Unrecht, „der seines nicht beherrschbaren Sexualtriebes wegen ständig vom Sündenbewusstsein gequält wurde, [versprach sich] durch Eingliederung in die strenge Ordnung der katholischen Kirche Heilung“. In der Tat sind Werners Tagebücher voll von reuevollen Beichten über Gelegenheitsbekanntschaften und heimliche Treffen mit Frauen, bis er 1810 in die katholische Kirche eintritt. Wie viele andere Konvertiten wird er dafür von den Zeitgenossen geschmäht. Energisch verteidigt sein Biograf nun die Aufrichtigkeit dieser Konversion: Werner sei keineswegs einer Mode gefolgt, seine Werke und Briefe zeigten ihn als überzeugten und mitunter übereifrigen Katholiken.

Vier Jahre später erfolgt in Aschaffenburg gar noch die Priesterweihe. Mit dem Vorsatz, missionarisch tätig zu werden, zieht er nach Wien, wo gerade der große Kongress zur Neuordnung Europas beginnt. Seine literarische Produktion nimmt im selben Maße ab, in dem seine geistliche Tätigkeit sich entfaltet. Rasch erregt er als Prediger Aufsehen; der österreichische Hochadel strömt in die Kirchen, um ihm zu lauschen. Er erwägt, dem Redemptoristenorden beizutreten, für den er 1816 noch einmal nach Polen geht, lässt diesen Vorsatz aber wieder fallen. 1823 stirbt er zurückgezogen in Wien. „Seinem Seelenheil zuliebe verlor er die Welt aus dem Blick“, resümiert de Bruyn und könnte kein treffenderes Schlusswort finden.

Um sich ein Bild von Leben und Charakter Werners zu machen, ist diese Biografie bestens geeignet, und ihr sind viele Leser zu wünschen. Anders steht es leider, wenn man Stichhaltiges über Werners literarisches Schaffen erfahren möchte. Denn hier reproduziert de Bruyn allzu oft die alten Vorurteile, die sich teilweise unmittelbar auf die persönliche Ablehnung der zeitgenössischen Kritiker gegen den im privaten Umgang oft enervierend missionarischen Werner zurückführen lassen. Das ist bedauerlich, denn hier wird die Chance vertan, das zweifellos eigenwillige und sperrige Werk eines der fähigsten Dramatiker der Epoche um 1800 wiederzuentdecken.

Will man einen Eindruck von diesen ungespielten und ungelesenen Werken vermitteln, muss man wohl auf Schillers Die Jungfrau von Orleans zurückgreifen und daran erinnern, dass diese „romantische Tragödie“ nicht nur mit viel Pomp daherkommt, sondern auch mit einer religiösen Handlungsebene, die oft aus der schillerschen Ästhetik herausgerechnet wird, dem zeitgenössischen Publikum aber durchaus als wesentlich erschienen sein wird (Werner selbst rekurriert in seinen Brief immer wieder darauf). Steigerte man nun das Pathetische dieses Stücks bis ins Extreme, all die Feld- und Festzüge, die göttliche Sendung der Hauptfigur, die übernatürlichen Effekte (wie den schwarzen Ritter oder das Donnergrollen, der Johannas Schicksal besiegelt) – am Ende käme etwas heraus, was dem Bühnenwerk Werners ungefähr entspräche.

Günter de Bruyn liefert den Schlüssel zu dieser eigenwilligen Ästhetik, ohne ihn dann im weiteren Verlauf seiner Ausführungen in der Beurteilung anzuwenden: „Werner […] wünschte sich ein Theater, dessen Wirkung der des altgriechischen ähnlich war. So wie der Zuschauer der Antike durch Darstellung heidnischer Mythen geläutert wurde, sollte das gegenwärtige Publikum durch christliche Mythen erfahren können, wie die gottlose und damit unmenschlich gewordene Welt zu verbessern war. Kunst und Religion waren deshalb für ihn identisch.“

In Werners Dramen lässt sich wirklich erst der Drang zu freimaurerisch-urchristlicher, später zu katholischer Überzeugungsarbeit erkennen. Man täte ihnen aber Unrecht, wenn man behauptete, sie erschöpften sich in der Dramatisierung von Glaubenssätzen – so, wie man Schillers Tragödien schwerlich vorwerfen kann, sie buchstabierten die kantische Moralphilosophie dramatisch aus.

Eher ist es so, dass Werner in viel stärkerem Maß als seine Zeitgenossen an den kultischen Ursprung der Tragödie anknüpft und seine durch und durch auf Bühnenwirksamkeit angelegten Dramen mit minutiösen, seitenlangen Regieanweisungen versieht, um das Geschehen auf der Bühne zum rituellen Handlungsablauf zu steigern – nicht, um einen wie auch immer gearteten Gottesdienst zu feiern, sondern um die Kunst in die von ihm angenommene Autonomie des Religiösen zu überführen. Sein Glaubenssatz, dass Kunst und Religion eins seien, und zwar durch die Liebe der Menschen zueinander und zu Gott, produziert eine eigene Dramatik, die sich in kleistsche Extreme nicht der Psychologie, sondern des tragischen Gehalts steigert, in dem nicht mehr nur das Schicksal des einzelnen Helden verhandelt wird, sondern das Aufgehen der ganzen Schöpfung in die Gnade des Schöpfers. Wie nah Werner damit dem frühen Idealismus und insbesondere der Kunstphilosophie Schellings steht, wäre von der Forschung noch zu zeigen.

Nähert man sich Werners Schaffen also aus einer Perspektive, die dessen Eigenarten ernst nimmt, zeigt sich ein Dramatiker, dessen Kunst ebenso das Extreme sucht wie die Kleists, deren Gehalt sich aber ebenso wenig in der Belehrung des Publikums erschöpft wie diejenige Schillers. Er steht damit zugleich näher an Tendenzen der Zeit und ferner von allem, was seine Zeitgenossen für die Bühne schufen – woraus sich auch die ablehnende Irritation erklärt, der seine Werke, nicht anders als die Kleists, zumeist begegneten.

Auf die Besonderheiten des Werks lässt sich de Bruyn kaum ein; stattdessen reformuliert er oft alte, harsche Urteile. Viele Dramen sind für ihn „unaufführbar“; die „dramatische[ ] Eindringlichkeit“ des Debüts werde durch die „faden mystischen Szenen“ beeinträchtigt; Das Kreuz an der Ostsee verliere „das Dramatische weitgehend“ durch das Religiöse der Handlung; das letzte Werk schließlich, Die Mutter der Makkabäer (1816/20) sei „eine grässliche Foltertragödie“, der „sowohl dramatische Momente als auch psychologische Glaubwürdigkeit fehlen“.

Die Liste ließe sich ergänzen. De Bruyn verkennt mit diesen Urteilen, die alle schon zur Zeit der Erstpublikation der Stücke vorgebracht wurden, die Eigenheit der wernerschen Ästhetik, vielleicht lässt er sich auch davon blenden, dass der Bühneneffekt bei der Lektüre unter den langen Regienanweisungen oft erdrückt wird: Eines ist es, den in Fackelschein getauchten, blutig-morbiden Initiationsritus der Templer als Handlung auf der Bühne zu sehen, etwas anderes, ihn in kleinteiliger, sperriger Regieprosa zu lesen, unterbrochen nur von kurzen Versreden. Und tut man der Mutter der Makkabäer wirklich Recht, wenn man dem Stück unterstellt, wie das zeitgenössische Drama arbeiten zu wollen, anstatt es in einer Linie mit den Barockdramen von Gryphius und Lohenstein zu lesen, die ebenfalls „grässliche Foltertragödien“ ohne „psychologische Glaubwürdigkeit“ geschrieben haben? Sollte man nicht eher unterstellen, dass der Dichter hier die letzte Konsequenz seiner Poetologie zieht und zur barocken Form zurückkehrt, um Inhalt und Wirkung seiner Kunst zur Deckung zu bringen? Hier findet sich mithin reichlich Stoff für poetologische und literarhistorische Forschung, was de Bruyns Urteile leider nicht erkennen lassen.

Hoffmann, der in jungen Jahren im selben Haus wie Werner lebte, ohne dass beide einander kennenlernten, ließ seine „Serapionsbrüder“ durchaus wohlwollend über den Dramatiker sprechen. Von dem Fragment gebliebenen und nicht überlieferten zweiten Teil des „Kreuz an der Ostsee“ heißt es gar, „daß diese Dichtung sich zu dem Größesten und Stärkesten erheben werde, nicht allein was der Dichter geliefert, sondern was überhaupt in neuerer Zeit geschrieben worden.“ Wer Hoffmanns Musik zum „Kreuz an der Ostsee“ hört, ahnt, dass damit keineswegs eine Sakralkunst für religiöse Eiferer gemeint ist, sondern ein ganz außerordentliches Talent zur dramatischen Dichtung.

Mit Günter de Bruyns Biografie, die die Person so beleuchtet wie Hoffmanns Komposition den Dichter, bietet sich so ein – freilich manchmal etwas missglückter – Anreiz zu einer neuen Auseinandersetzung mit Werners Schaffen, die sich allerdings von vorgefertigten Urteilen frei machen sollte. Nicht nur für die Literaturgeschichtsschreibung wäre es ein Gewinn, den dritten Mann neben Schiller und Kleist wiederzuentdecken.

Titelbild

Günter de Bruyn: Sünder und Heiliger. Das ungewöhnliche Leben des Dichters Zacharias Werner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972085

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