Die Notwendigkeit des Teilens

Heinz Bude begibt sich auf Spurensuche im Hinblick auf „Solidarität“ und verweist auf die nach wie vor gegebene Bedeutung des Begriffs

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Soziologe Heinz Bude, Lehrstuhlinhaber in Kassel und vielen auch von Podiumsdiskussionen bekannt, geht den Gegenstand seiner jüngsten Publikation im Dreischritt Historie – Gegenwart – Zukunft an. Sein Ziel ist es, Solidarität, verstanden als Oberbegriff zu „Zugehörigkeit“, „Verbundenheit“ und „Nähe“, wieder in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Diskussionen zu rücken, was er dadurch gerechtfertigt sieht, dass Solidarität das „Prinzip der Ordnung des sozialen Daseins“ darstelle, ohne welches kein demokratisches Miteinander möglich sei.

Dabei ist die mühevoll-akribische Arbeit an und mit Statistiken Budes Sache nicht, denn hierüber geht er nonchalant – positiv gewendet: souverän – hinweg. Stattdessen zeichnet er zunächst im Rekurs auf verschiedene Soziologen und Philosophen, hauptsächlich Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Liebknecht, Emil Durkheim und Auguste Comte, die Historie einer „Großen Idee“ nach. Dies geschieht zwar nicht durchgehend flüssig und der Autor tippt einiges auch bloß an, wie zum Beispiel die Problematik des „Bildungsprotektionismus“ oder die gesellschaftliche Grenze „zwischen Allmacht und Ohnmacht“, leitet aber doch über zur zentralen Fragestellung: Wie verhalte ich mich solidarisch? Bude antwortet: Indem ich mit anderen teile und in ein von „wechselseitiger Verantwortung“ zum anderen geprägtes Verhältnis eintrete. Solidarität kann erst dort entstehen, wo „Vertrauen“, „Bindung“ und „Engagement“ gegeben sind und auch dann nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass „Abhängigkeiten begrüßt, Verbindungen gepflegt und Verpflichtungen beherzigt werden.“ Sie steht somit konträr zu egoistischer „Selbstbewahrung.“

In diesem Zusammenhang muss auf die Rolle des Staates verwiesen werden. Ähnlich wie Durkheim und in jüngster Zeit Bourdieu beschreibt auch Bude den Sozialstaat als „Form institutionalisierter Solidarität“, fügt jedoch ergänzend hinzu, dass sich sekundäre Gruppen ausgleichend zwischen den Staat und die Bürger schieben. Zu diesen Gruppen gehören neben Netzwerken und Verbänden selbstverständlich auch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter. Bei seiner knappen Betrachtung der deutschen Nachkriegsgeschichte konstatiert Bude, dass die anfängliche Grundlage beider Gruppen bei Tarifverhandlungen, nämlich die Absicht, einen Beitrag zur „Dynamik des Neubeginns und des Wiederaufbaus“ zu leisten, welcher einer „wechselseitigen Abhängigkeit im Dienste der gemeinsamen Zielverfolgung“ entsprang, zunehmend erodiert sei. In anderen Worten: Die „Verpflichtung auf ein gemeinsames Anliegen, das über uns hinausgeht“, ist mittlerweile weitgehend verloren gegangen.

Gegenwärtig werden die Konsequenzen dieses Prozesses beispielsweise an der weitgehenden Abschaffung des klassischen Fabrikarbeiters wie des traditionell als ausführendes Organ definierten Angestellten deutlich. Dass bestimmte Gruppen von Spezialisten räumlich mobil geworden und dazu hart umworben sind, hat sie in ihren jeweiligen Branchen in eine Marktposition gebracht, welche ihnen eine gegenüber den übrigen (mitunter extrem) erhöhte Vergütung nebst Prämien bescheren kann. Im Zuge dessen ist allerdings die kollektive, „automatische“ Solidarität, wie sie sich in Tarifverträgen manifestiert, der „Individualisierung der Entlohnung“ gewichen, weshalb heutzutage die tradierte Auffassung von Solidarität als pauschale „Schuld oder Verpflichtung fürs Ganze“ nicht mehr trägt. Es geht jedoch laut Bude nicht darum, was man verpflichtet ist zu geben, und auch nicht darum zu fragen, was einem zusteht, sondern um das, was man miteinander teilen kann.

Sodann der letzte Schritt, der Ausblick auf die Zukunft. Angesichts der Vielzahl an Mini-Jobs, der Armutsschere, ungleich verteilter Bildungschancen und zahlreicher weiterer gesellschaftlicher Schieflagen erwartet man an dieser Stelle eine makrosoziologische Perspektive. Bude enttäuscht diese Erwartungshaltung nicht, denn er postuliert, was er ein „drittes Wir“ jenseits von meinem und deinem nennt, ein Übergreifendes, welches er der „exklusiven“, im Sinne von: ausschließlich auf die eigene Peer Group gerichteten, Solidarität gegenüberstellt. Im weiteren Verlauf erweitert Bude den Solidaritätsbegriff nochmals um eine ökologische Komponente, indem er ihn in den universellen Kontext unserer Verbundenheit mit der Umwelt stellt.

Am Ende behält Durkheims Befund seine Gültigkeit: In unserer Sozialstruktur hängt der Einzelne je stärker von der Gesellschaft ab, desto mehr diese differenziert ist. Die Gesellschaft stellt also mehr dar als die schlichte Summe ihrer Individuen und wird durch das zusammengehalten, was Bude in Anlehnung an Habermas eine „Ethik wechselseitiger Verbundenheit“ nennt. Da jedoch noch nicht absehbar ist, wer diese denn konkret in den gesellschaftlichen Diskurs einspeisen soll, wenn bereits Ansätze in diese Richtung als irrational und verstiegen abgestempelt werden, schaut man einstweilen vielleicht eher auf die Mikroebene, denn dort winkt Hoffnung. Schließlich gibt es hinreichend Belege für die These, dass der Drang zu helfen nicht erworben, sondern in der menschlichen Natur angelegt ist. Somit kann Solidarität letztlich zwar nicht staatlich verordnet und auch niemand zu solidarischem Verhalten gezwungen werden, aber sie stellt für jeden Einzelnen eine Option dar, welche er abrufen und durchaus zur Bereicherung des eigenen Lebens einsetzen kann.

Titelbild

Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
176 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261846

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