Klassiker des Andersseins
Zur Neuauflage von Peters Bürgers „Theorie der Avantgarde“
Von Markus Steinmayr
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Gang ans Bücherregal. Ein rotes Buch, zerlesen und damals schon antiquarisch erstanden, die Seiten angegilbt, durchgearbeitet, studiert. Ein Buch, das jeder lesen musste, der sich mit Avantgarde, Theorie und der literarischen Moderne auseinandersetzen wollte. In Hauptseminaren der kulturwissenschaftlichen Fakultäten zum Thema fehlte es in keiner Bibliographie: Die Theorie der Avantgarde von Peter Bürger, erstmals erschienen 1974.
Es erscheint jetzt nicht nur in einem neuen Einband, sondern gänzlich in einem neuen Licht. Der nunmehr in Berlin ansässige Suhrkamp Verlag glaubt wohl nicht mehr an die Aktualität seiner wichtigsten Bücher. Undenkbar schien, dass Bürgers Theorie der Avantgarde an einem anderen Platz stattfindet (und ein Ereignis ist dieses Buch auch heute noch) als bei Suhrkamp. Nun aber hat sich der Göttinger Wallstein Verlag an eine Neuauflage gemacht, ergänzt um das Nachwort von 1978, einen Essay von 2014 und einen Brief von 2015, der das Buch institutionen- und lebensgeschichtlich verortet. Der Tod von Peter Bürger im August 2017 macht das Buch zu einem Vermächtnis der Theorie- und Fachgeschichte.
Über die Thesen des Buches ist in der Literaturwissenschaft so viel diskutiert worden, dass an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung genügen mag. Bürgers Verständnis der Avantgarde geht davon aus, dass die Avantgarde (der Singular ist Programm) eine produktive bis destruktive Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Institution Kunst ist. Eingebettet ist dieses Theorieprogramm bzw. diese Theorieprogrammatik in ein Verständnis der Literaturwissenschaft als Kritische Literaturwissenschaft. Die Theorie der Avantgarde, wie sie Bürger vorlegt, ist nicht denkbar ohne eine Literaturwissenschaft, die die hermeneutische Autorität der Tradition angreift bzw. kritisiert. Mit Walter Benjamin formuliert: „Es gibt kein Dokument der Kultur, das nicht zugleich eines der Barbarei wäre.“ Dieses in den Geschichtsthesen von Benjamin entwickelte Theorem bedeutet ja nichts weniger als dass das Überlieferungsgeschehen, also der hermeneutische Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, nicht als Kontinuität der Tradition denkbar ist. Avantgarde und Kritische Literaturwissenschaft stehen so in einem Verhältnis zueinander, das als wechselseitige Abhängigkeit beschrieben werden kann.
Avantgardistisch sind, so der Autor in bewusster Abgrenzung vom bürgerlichen Werkbegriff, „künstlerische Manifestationen“ dann, wenn sie Kunst als Institution der bürgerlichen Gesellschaft angreifen wollen. Damit sind diese ‚Manifestationen’ ein Angriff auf die Autonomie der Kunst, sowohl auf der Seite der Produktion wie der Rezeption; auf der Seite der Produktion, weil die Autonomie von singulären Werken angegriffen wird, auf der Seite der Rezeption, weil die Autorität des singulären interpretierenden, Kunst rezipierenden Individuums angegriffen bzw. aufgelöst wird. Avantgarde sei „Protest gegen die Vergesellschaftung“, biete allenfalls ein „Realitätsfragment“ und habe, trotz aller Angriffe auf Tradition, eine Diskursgeschichte, die Bürger von Benjamin bis Adorno nachzeichnet.
Interessant für den Leser der Gegenwart sind diese Thesen allemal. Die Neuausgabe wird aber ergänzt durch zwei Nachworte. Im ersten, mit dem Titel Das zwiespältige Ende der Avantgarde, entnommen aus Bürgers Nach der Avantgarde von 2014, zeichnet Bürger die Grundlinien der Rezeptionsgeschichte der Avantgarde im Nachkriegsdeutschland nach. So sind sowohl die Rede vom ‚Erbe’ der Avantgarde als auch die Persistenz des wissenschaftlichen Diskurses über Avantgarde im Grunde Belege des „Scheiterns“ von Avantgarde. Eine Avantgarde nämlich, die sowohl künstlerisch als auch wissenschaftlich kanonisch wird, ist keine mehr.
Das zweite mit dem Titel Auf dem Weg zur Theorie der Avantgarde: Ein Brief zeichnet im Grunde eine Autobiographie der Theorie nach, um die Thomas Hettche Bürger gebeten hat. Ein Brief ist natürlich angelehnt an Hugo von Hofmannsthals Ein Brief aus dem Jahre 1902. Bekanntermaßen klagt Lord Chandos in diesem vielinterpretierten Text darüber, dass ihm die Fähigkeit abhandengekommen sei, über etwas zusammenhängend zu sprechen und zu denken. Der sich hieraus ergebende Hiatus zwischen Sprache und Denken, zwischen Begriff und Darstellung von Gehalten hat, wie man weiß, die Lage der Literatur um 1900 (und darüber hinaus) entscheidend beeinflusst. Avantgarde tritt hier als Krise auf. Der Zusammenhang aber, den Bürger zwischen der Entwicklung seiner Theorie der Avantgarde und der Entwicklung des Faches und der Institution Universität herstellt, ist ähnlich durchwirkt von „modernden Pilzen“, von denen Hofmannsthal weiland gesprochen hat. Es ist die Krise der pädagogisierten Universität. Bürger schildert seine eigene Bildungsgeschichte, seine ersten Kontakte mit der französischen Literatur der Moderne. Im zweiten Brief schildert Bürger, wie das Programm der Kritischen Literaturwissenschaft in Bremen zur Grundlage institutioneller Reformen und Formen gemacht worden ist. Es ist eigentlich eine Geschichte des Scheiterns, die hier erzählt wird. Traurigerweise entpuppt sich das Credo aller Universitätsreform „Institutionen folgen Ideen“ auch hier wieder als Illusion. Denn der Transfer von Theorie in Lehrpraxis scheitert an den „hochschuldidaktischen Planern“ und den politisierten Studierendenvertretern, die allerorten „Formalismus“ wittern. Einmal mehr zeigt sich hier das, wie Jürgen Mittelstraß einst formulierte, „Elend“ der Hochschuldidaktik, von der bis heute niemand weiß, wofür sie eigentlich zuständig ist. Die von Bürger erzählten Auseinandersetzungen haben heute noch Prägekraft, weil Pädagogisierung und Didaktisierung von Inhalten, die in den siebziger Jahren begonnen hat, noch heute die fachwissenschaftliche Diskussion und ihre Institutionalisierung im Seminar immer mehr überlagern: Vermittlung der Vermittlung ist wichtiger als die Vermittlung von oder die Auseinandersetzung mit Inhalten.
Der Status von Klassikern erweist sich an der Aktualität ihrer Thesen. Wenn dies stimmt, dann ist Peter Bürgers Theorie der Avantgarde von 1974 nicht nur ein Klassiker, sondern ein Buch, in dem ein Versprechen davon aufblitzt, was Literaturwissenschaft zu leisten imstande ist. Es ist genau jener „Choc“ der Erkenntnis, von dem Benjamin spricht: Er garantiert nämlich das „Jetzt der Erkennbarkeit“.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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