Über das Verlieren und Finden von Heimat

Helga Bürster porträtiert in ihrem neuen Roman „Eine andere Zeit“ die deutsch-deutsche Geschichte einer Familie, durch die sich konstant Verluste ziehen

Von Laura Elisabeth LesonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Elisabeth Leson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helga Bürster lässt die Protagonistin in ihrem Roman auf ihr Familienleben in der Wendezeit zurückblicken. Zeitlich betrachtet ist der Roman aber auch in eine weitere Ebene aufgeteilt: die Gegenwart im Jahr 2019, aus dessen Perspektive bereits zu Beginn des Romans erzählt wird. Bürsters eigenes Aufwachsen in einem Dorf stellt hierbei eine offensichtliche Parallele zu zwei der drei Protagonistinnen ihres Romans dar.

Bei diesen handelt es sich um die in den 1970er-Jahren in Kamp, einem ostdeutschen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, aufwachsenden Schwestern Enne und Suse. Während die jüngere Schwester Suse ständig kränkelt und als Sorgenkind der Familie gilt, wird Enne nur wenig Aufmerksamkeit seitens ihrer Eltern zu Teil.

Christina, die Cousine Ennes und Suses steht ebenfalls im Fokus der Handlung. Sie wohnt im Westen, genauer gesagt im Ruhrgebiet und kann ihrer Heimatstadt nichts abgewinnen. Als sie aufs Gymnasium kommt, findet sie kaum Anschluss. Das mag daran liegen, dass sie anders ist, anders als die anderen Kinder, die in großen Häusern mit schönen Gärten wohnen. Christina hingegen, verbringt viel Zeit allein und muss ihrer alleinerziehenden Mutter Magda ab und an bei ihrer Arbeit in der Wäscherei helfen.

Ein zentrales Thema ist in Eine andere Zeit der Aufbruch: So finden konstant Ortswechsel statt.
Enne ist, gegen den Wunsch ihrer Eltern, nach Berlin gezogen, um Schauspielerin zu werden und dem eintönigen Leben auf dem Dorf zu entfliehen. Nach dem Verschwinden Suses und dem Scheitern ihrer Schauspielkarriere kehrt sie jedoch in ihr Heimatdorf zurück.

Suse, die ihrer Krankheit entwachsen kann, beginnt nach einigen jugendlichen Eskapaden ein bürgerliches Leben, sie bleibt zunächst im Dorf, auch weil sie nicht weiß, was sie anderswo anfangen soll. Bald verlobt sie sich mit Eddy. Dieser wird irritierend schnell in die Geschichte eingeführt, seine Rolle jedoch erst später deutlich, was unnötige Fragen aufwirft.

Als die Grenze zu Ungarn geöffnet wird, verschwindet Suse jedoch ohne Vorwarnung, nachdem sie mit Eddy dorthin gereist ist. Das hinterlässt in ihrer Familie eine tiefe Furche, vor allem Suses Mutter kann den Verlust nicht verkraften.

Auch Christina durchlebt einen Ortswechsel: Die Selbstbestimmtheit, die Enne in Bezug auf ihre Berufswahl besitzt, fehlt ihr und so nimmt sie, der Erwartung ihrer Mutter folgend, ein Lehramtstudium in Bayern auf, das sie jedoch nicht glücklich macht und es daher nach einer Weile aufgegeben wird. Resigniert zieht sie zurück zu ihrer Mutter ins Ruhrgebiet, wo sie ihre Passivität weiterführt und sich selbst in einem Stellengesuch als „Frau […] ohne Ellenbogen“ bezeichnet.

Ihre erste aktive Handlung stellt einige Zeit später der Umzug auf den Kamp dar, jener von dem sie schon seit Kindheitstagen träumt. Alle drei Frauen schlagen also keinen geradlinigen Weg ein, dies tun sie jedoch auf lange oder kurze Sicht aus freien Stücken.

Auch das Konzept von Heimat und seine Wandelbarkeit spielt in Eine andere Zeit eine zentrale Rolle.
So vermisst Christina an ihrem Studienort die eigentlich so verhasste Heimatstadt, und Magda, die von Christina im betagten Alter in das ostdeutsche Dorf ihrer Kindheit gebracht wird, erkennt es trotz der vielen Besuche, nicht wieder.

Bürsters Sprache ist schlicht und nüchtern; ihre Sätze kurz. Weiterhin markant sind die bissigen Kommentare der Mütter Magda und Lore gegenüber Enne, Suse und Christina, die sich durch das gesamte Buch ziehen. So bringen sie mit knappen Sätzen und teilweise Wortaussparungen zum Ausdruck, vieles besser als ihre Töchter bzw. Nichte/n zu wissen.

Eine andere Zeit ist ein Buch, dessen Konstante die Veränderung ist, und das in vielerlei Hinsicht.
Gleichzeitig handelt es sich um einen Roman, der während beziehungsweise nach der Wende spielt, aber nicht zwangsläufig um einen Roman über die Wende. Natürlich ist die Bezugnahme auf das Thema unvermeidbar und so werden verschiedene Haltungen und wichtige Ereignisse im Bezug auf Ost- und Westdeutschland nicht ausgelassen, geht es ihr doch eigentlich um Heimat als übergreifendem Konzept. So liegt der Fokus auf dem Konzept von Heimat.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2023 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2023 erscheinen.

Titelbild

Helga Bürster: Eine andere Zeit. Die berührende Geschichte zweier Schwestern nach der Wende.
Insel Verlag, Berlin 2022.
256 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783458682653

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