Weniger wäre mehr gewesen

Jessie Burtons Protagonistin begibt sich in „Die Geheimnisse meiner Mutter“ auf eine Spurensuche nach der verlorenen Mutter und der eigenen Identität

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben der 34-jährigen Rose ist von der Tatsache überschattet, dass sie ihre Mutter Elise nie kennengelernt hat. Elise verschwand, als sie noch ein Baby war. Das animierte Rose in ihrer Kindheit zu den wildesten Fantasiegeschichten über die Ursache ihres Verschwindens. Zu groß und zu unerklärlich ist für sie der Schmerz, dass eine Mutter einfach so ihr Kind verlassen kann. Auch die liebevolle Fürsorge ihres Vaters Matt kann die Leere nicht füllen.

Diese begleitet sie auch in ihr Erwachsenenleben, in dem sie sich recht ziellos treiben lässt. So jobbt sie mit 34 immer noch als Kellnerin und führt mit Freund Joe eine Beziehung, die mehr von Gewohnheit als von Emotionen geprägt ist. Als sie dann jedoch relativ unvermittelt von ihrem Vater zwei Bücher der Schriftstellerin Constance („Connie“) Holden in die Hand gedrückt bekommt, ändert sich ihr Leben schlagartig. Er erklärt ihr, dass Elise eine Liebesbeziehung zu der einst gefeierten Bestsellerautorin hatte und diese die Letzte war, die ihre Mutter lebend gesehen hat.

Das stachelt Roses Neugier an und sie versucht, Kontakt aufzunehmen. Gut für sie, dass die Schriftstellerin nach jahrzehntelanger Schreibpause nun wieder an einem neuen Werk arbeitet und eine Assistentin zum Kochen und zum Abtippen des Manuskriptes braucht. Unter falschem Namen nimmt sie den Job an und versucht, mehr über ihre Mutter in Erfahrung zu bringen. Beide gewöhnen sich aneinander, bis Roses wahre Identität ans Licht kommt, was zu ihrem Rauswurf führt. Doch am Ende findet Rose nach einer Aussprache zu sich selbst und kann ihrem Leben eine neue Richtung geben.

„Nicht Fisch, nicht Fleisch“ könnte man als Kurzfazit aus Jessie Burtons jüngsten Roman Die Geheimnisse meiner Mutter ziehen. Mit seinen beiden sauber komponierten Zeitebenen, in denen jeweils Elises und Roses Beziehungen zu Connie im Mittelpunkt des Geschehens stehen, ist er handwerklich makellos umgesetzt. Auch der Schreibstil ist eingängig und durchaus mitreißend. Dennoch will beim Lesen der Funke nicht wirklich überspringen. So hat der Roman mit einer Überfülle an Themen zu kämpfen, die die Autorin mit hineinzupacken versucht. Dabei hätte die Grundhandlung der beiden Ebenen ohne Weiteres ausgereicht, um den Spannungsbogen problemlos bis zum Ende aufrecht zu erhalten. Doch Burtons Bedürfnis „nebenher“ noch zahlreiche andere Problemfelder zu beackern, lenken vom eigentlichen Plot ab, sorgen für Längen im Roman und wirken ermüdend.

Ein anderes Problem stellen die beiden Hauptfiguren Elise und Rose dar. Zumindest bei Elise, die als 20-jährige unerfahrene junge Frau in ihre Beziehung mit Connie Holden stolpert, sind deren mangelndes Selbstwertgefühl angesichts ihrer emotionalen Abhängigkeit von der älteren erfolgreichen Frau noch nachvollziehbar. Bei Rose verhält es sich etwas anders. Sie ist immerhin eine Frau von 34 Jahren, scheint aber an vielen Stellen ebenso jung wie ihre Mutter. Ihre Unreflektiertheit sowie ihre Fokussierung auf den Verlust der Mutter wirken mitunter stark überzeichnet und in dem Ausmaß wenig verständlich.

Unklar bleibt darüber hinaus die Ursache der Faszination, die Connie auf beide Frauen gleichermaßen ausübt. In erster Linie scheint sie kalt, herrisch und unnahbar und der Leser fragt sich unwillkürlich, was beide so in ihren Bann gezogen haben könnte. Hätte sich Burton weniger auf Nebengeleisen bewegt und sich mehr der differenzierteren Darstellung ihrer Protagonistinnen gewidmet, hätte dies dem Roman sicher gutgetan. So ist er zwar ein gefälliges Leseerlebnis, hinterlässt aber keinen bleibenden Eindruck.

Titelbild

Jessie Burton: Die Geheimnisse meiner Mutter.
Aus dem Englischen von Peter Knecht.
Insel Verlag, Berlin 2020.
585 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783458178422

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