Die Grenze ist ein Riss

Francisco Cantú berichtet von seinen Erfahrungen bei der United States Border Patrol

Von Stefanie RoennekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Roenneke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem Essay Auf den Inseln schreibt Joan Didion Ende der 1970er auf Hawaii, dass „gewisse Orte […] vor allem nur deshalb zu existieren [scheinen], weil jemand über sie geschrieben hat“. Ernest Hemingway gehöre der Kilimandscharo, William Faulkner Oxford und Mississippi, und ein großer Teil von Honolulu gehöre James Jones. „Ein Ort gehört für immer dem, der ihn am stärksten für sich fordert, der sich am eindringlichsten an ihn erinnert, sich unter Schmerzen von ihm losreißt, ihn formt, sich ihm hingibt“.

Wem gehört die Grenze zwischen Mexiko und den USA? Gehört sie Politikern? Gehört Sie den Wissenschaftlern, die ihre Entstehung, Entwicklung und gegenwärtige Ausformung beurteilen. Gehört sie den Journalisten, die entlang der Grenzroute fahren und ihre Eindrücke mit der Welt teilen? Gehört sie den Drehbuchautoren, für die das Gebiet ein guter Schauplatz für Dramen und Thriller ist? Gehört sie den Anwohnern, die auf den jeweiligen Nachbarstaat mit bloßem Auge blicken können. Gehört sie den Migranten, die jene Grenze überqueren und hinter sich lassen wollen, doch stets mit ihr verbunden sind? Oder gehört sie den vielen unbekannten Toten, die zu Staub werden, zum Bewusstsein der Wüste?

Francisco Cantú hat die Grenze geprägt und die Grenze ihn. Er ist Enkel mexikanischer Einwanderer, hat sich während seines Politikstudiums mit ihnen beschäftigt und wagte zudem den Einsatz als Grenzschützer bei der United States Border Patrol, um die Theorie mit eigenen praktischen Erfahrungen abzugleichen. Dass er sich schließlich dem Schreiben hinwendet, seine Erlebnisse zum Thema für No Man’s Land macht, erscheint wie eine Übung, die Grenzerlebnisse zu verarbeiten. Denn ein bloßes Verstehen rückt für den Erzähler Cantú schnell in weite Ferne, sein pragmatischer Ansatz ist gescheitert: „Ich dachte, ich würde auf viele Antworten stoßen. Man erlebt so viel, macht alle möglichen Erfahrungen. Aber wie fügt sich das alles zu einem großen Ganzen zusammen? Und welche Rolle spiele ich dabei? Ich habe mehr Fragen als je zuvor.“

Ausgelöst wird dieses Gedankenkarussell durch das ewig währende Katz-und-Maus-Spiel, das für Migranten oft in Gewahrsam und nicht selten mit dem Tod endet: in der Wüste „unter Bäumen und in ausgetrockneten Washes“ oder in den Fängen von Schleppern, die jene, die es über die US-Grenze geschafft haben, in Schattenhäusern festhalten, um Angehörige zu erpressen. Die Polizisten kommen ebenfalls nicht davon, mal körperlich verletzt, oft seelisch ruiniert, in einer Gegend, in der niemand nachts auf den Balkon geht. Zu gefährlich. Cantú knirscht mit den Zähnen, es zieht sogar in seine Träume ein: „Nachts träume ich, dass ich mir die Zähne herausknirsche. Ich spucke die Brösel in die hohlen Hände und suche jemanden, dem ich sie zeigen kann, damit er sieht, was passiert.“ Das Trauma herrscht auf beiden Seiten. Cantú unterstreicht das mit Hilfe von C.G. Jung: „Diese stacheldrahtbewehrte Grenzlinie durchzieht die Seele des modernen Menschen, ob er nun diesseits oder jenseits derselben lebt.“

Sie lässt Cantú auch dann nicht los, nachdem er seinen Dienst beendet hat, Kreatives Schreiben studiert und in einem Coffeeshop in einem Einkaufszentrum arbeitet. Der Hausmeister José – seit Jahrzehnten in den USA, braver Steuerzahler – schafft nach einem Besuch bei seiner kranken Mutter in Mexiko den Grenzübergang nicht mehr und wird festgenommen. Engagierte Versuche, eine Abschiebung zu verhindern, scheitern. Doch der Kreislauf wird dadurch nicht durchbrechen: „Ich werde immer wieder versuchen, über die Grenze zu kommen, bis ich endlich bei meiner Familie bin“, sagt José.

In Form des Memoir, in der der Autor persönliche Erinnerungen, Beweggründe sowie Einschätzungen ebenso in den Text einfließen lässt wie Ansätze von Wissenschaftlern, liefert er ein eindringliches und vielschichtiges Bild der Problematik, dessen Bedeutung über das beschriebene Niemandsland schnell hinausgeht: denn die Grenze ist eine Wüste, ist ein Gebirge, ist ein Meer, ist ein Zaun, ist eine Mauer, ist ein Mensch. Sie formt Staaten und Politik, die mit einem strengeren Grenzregime illegale Migration verhindern will. Mit dem schwerwiegenden Effekt, dass diese nicht verhindert wird, sondern Schlepper mit „jedem potenziellen Migranten mehr Geld verdienen“ können. Staatsgrenzen verhindern nicht, dass Menschen sich bewegen. Eine bisher unerhörte Lehre, es sei denn man ist Tourist mit dem richtigen Pass in der Tasche.

Am Ende von No Man’s Land macht Cantú schließlich einen Abschnitt im Grenzgebiet aus, an dem der Lauf des Rio Grande Mexiko und die USA voneinander trennt. Cantú läuft am Fluss entlang, wechselt ständig die Seiten, bis er die Orientierung verliert. „Die flirrende, atmende Landschaft um mich herum war eins.“ Ein Moment bedrückender Leichtigkeit.

Titelbild

Fransisco Cantú: No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260269

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch