Auf einem wilden Trip
Mircea Cărtărescus Roman „Theodoros“ erzählt vom Aufstieg und Ende eines Kaisers
Von Daniel Henseler
Die Apokalypse ist der Welt immer schon eingeschrieben. Diese Ansicht wird nicht nur von Christinnen und Christen geteilt. Das Ende der Welt wird außerdem Anlass sein, um Bilanz zu ziehen: Gerichtet oder gerettet? Mircea Cărtărescus neuster Roman Theodoros endet mit dem Jüngsten Tag: Seine Hauptfigur, der äthiopische Kaiser Tewodoros tritt vor Gott und erwartet sein gerechtes Urteil.
Doch viel wichtiger und interessanter ist, was davor geschieht: Theodoros ist ein wilder Trip durch die Geographie und die Zeiten, angereichert hie und da mit etwas Hanf, Khat und anderen Rauschmitteln. Ein Junge namens Tudor, geboren 1818 in ärmlichen Verhältnissen in der Walachei, ahnt früh, was für ein dürftiges und fremdbestimmtes Leben ihm bevorsteht. Seine griechischstämmige Mutter Sofiana erzählt ihm rumänische Märchen und Sagen sowie die Epen Homers. Tudor beginnt, von Größerem, von Großem zu träumen: „Das hier kann es nicht gewesen sein“, denkt er sich. Und er beschließt, dem ihm vorbestimmten Schicksal zu entfliehen. Man darf wohl genau an dieser Stelle ein Hauptthema von Cărtărescus Roman sehen: Tudor setzt ganz auf den eigenen, unbedingten Willen, auf die persönliche Autonomie und die Freiheit des Entscheidens. Doch eben dies wird ihn später auch zu bösem, brutalem Handeln verleiten: Er wird zum blutrünstigen Tyrannen.
Zunächst aber beginnt eine Odyssee, die Tudor allmählich von seinem Geburtsland wegführt. Angetrieben wird er vom Wunsch, die Bundeslade zu finden. In der Kirche seines walachischen Heimatdorfs Ghergani wird ein prachtvolles Imitat der Bundeslade verehrt. Tudor ist nun geradezu besessen davon, das Original zu finden. Er wird zunächst zum Haiducken, einer Art Outlaw und Freischärler, und zieht mit Gruppen ähnlich gesinnter durch die Gegend. Später macht er als sagenumwobener Pirat Theodoros die griechische Inselwelt unsicher. Dabei verliert er nie sein Ziel aus den Augen: seine Suche zu vollenden und dadurch Geltung zu erlangen. Schließlich verschlägt es ihn ins östliche Afrika, wo er durch einen wagemutigen Identitätstausch gar zum Kaiser Tewodoros von Äthiopien wird. Jetzt hat er die Macht in seinen Händen. Zwei Vorbilder, die Tudor aus den Erzählungen seiner Mutter kannte, haben ihm stets vor Augen gestanden: Alexander der Große und Napoleon.
Der Autor selbst aber ist an diesem Punkt in der Wirklichkeit angekommen, denn Tewodoros (1818-1868) hat tatsächlich existiert. Gänzlich Cărtărescus Vorstellungskraft entsprungen ist aber freilich die angebliche rumänische Herkunft dieses Herrschers. Der Roman setzt mit dem historisch verbürgten letzten Tag im Leben des äthiopischen Kaisers ein. Es ist Ostersonntag 1868: Der Machtmensch Tewodoros hat sich verzockt, denn er hat es sich mit der englischen Königin Victoria verscherzt. Nun hat er sich in der äthiopischen Festung Magdala verschanzt. Gleich wird ein britisches Heer eintreffen, doch der Kaiser will sich seiner Verhaftung durch einen Pistolenschuss entziehen. Von diesem hochdramatischen Moment aus wird also erzählt, wird die Geschichte von Tudor / Theodoros / Tewodoros rückblickend in zahlreichen Einzelheiten und über mehr als 600 Seiten hinweg aufgerollt. Dabei greift der Autor auf einen gewitzten Kunstgriff zurück: Er lässt das Leben des Protagonisten von den sieben Erzengeln erzählen. Diese haben Leben und Taten des Helden von ihrer hohen Warte aus verfolgt und geflissentlich in einem Buch festgehalten, damit der Herrgott dereinst eine Grundlage für seinen Richterspruch haben wird.
Es ist unmöglich, alle Themen dieses aberwitzigen Romans aufzuzählen. Neben der Suche und der Irrfahrt geht es darin auch um Auf- und Abstieg. Bei der Frage von Schicksal und Selbstbestimmung wird überdies thematisiert, wie denn das Buch des menschlichen Lebens überhaupt zustande kommt – und wer es aufschreibt. Der Roman handelt vom wirklichen und vom gestohlenen Leben, vom sich wandelnden und vom verwandelten Leben. Er erzählt ganz besonders von der Verantwortung für das eigene Tun. Ein wenig ist der Roman fernerhin ein Märchen: Tudor muss schwierige Rätsel lösen, weite Räume überwinden, Gefahren wie der Pest entkommen und einen Schatz heben, um sein Glück finden zu können. Doch dieser Held ist natürlich äußerst fragwürdig, problematisch, und richtig glücklich wird er dann doch nicht. Tewodoros erkennt sich schließlich als einen durch seinen Machtwillen Getriebenen. Nicht zuletzt ist Theodoros aber damit ein Roman über die Besessenheit von einer Idee, von einem Vorhaben.
Mircea Cărtărescu hat in Theodoros die Stadt Bukarest weitgehend verlassen, die seine früheren Romane zumeist geprägt hatte. Auch ist nun nicht mehr ein Alter Ego des Autors die zentrale Figur des Geschehens. Das ist das wirklich Neue an diesem Roman. Ansonsten ist vieles gleich geblieben: Cărtărescu hat sich schon immer für „Parallelwelten“ interessiert, überhaupt für die Dimensionen von Raum und Zeit. Und vielleicht schält sich mit diesem Roman endgültig das literarische Lebensthema dieses Schriftstellers heraus: die Verwandlung und die Wandlung des Menschen und der Welt.
In sprachlicher Hinsicht wird einem manches aus Cărtărescus früheren Büchern bekannt vorkommen: Der Stil ist überaus vielgestaltig, mächtig, abwechslungsreich – manchmal rauschhaft, dann barock, altertümelnd und immer wieder fulminant. Der Roman hat mitunter geradezu Lexikoncharakter, er ist gekennzeichnet durch eine enzyklopädische Fülle. Märchenelemente, phantastische Szenen sowie eingeschobene Briefe Tudors an seine Mutter bekräftigen den Eindruck der Vielfalt.
Was den Inhalt betrifft, so kommt Theodoros weniger aus einem Guss daher wie andere Romane Mircea Cărtărescus. Bisweilen wird einem schwindlig ob der Menge an Stoff, an Geschichten, Schicksalen und Einzelheiten. Das ist nicht an und für sich problematisch, doch im vorliegenden Fall scheinen sich die einzelnen Elemente nicht immer zu einem Ganzen fügen zu wollen. Theodoros ist aus diesem Grund vielleicht nicht unbedingt Mircea Cărtărescus bester Roman. Aber seine sprachliche Meisterschaft hat der Autor auch hier wieder eindrücklich bewiesen – und Ernest Wichner hat ihr ein überzeugendes deutsches Gewand verliehen.
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