Eine Kindheit in Kansas City
„Amerigo Jones“ ist der Roman einer Kindheit und Jugend, mit dem der afroamerikanische Autor Vincent O. Carter zugleich ein eindringliches Porträt einer Schwarzen Community zu Zeiten der wirtschaftlichen Depression zeichnet
Von Nora Eckert
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVincent O. Carters Roman Amerigo Jones ist 2003 posthum und damit erst vierzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA erschienen. Noch einmal 20 Jahre gingen ins Land, bis jetzt eine deutsche Übersetzung im Limmat Verlag erschienen ist. Natürlich hatte sich Carter, der 1924 in Kansas City (Missouri) geboren wurde, dort aufwuchs und in den 1950er Jahren nach Europa übersiedelte, um sich schließlich im schweizerischen Bern niederzulassen, ab 1963 mehrere Jahre vergeblich bemüht, einen Verleger für sein umfangreiches Manuskript zu finden. Es blieb über seinen Tod 1983 hinaus noch lange ein Schubladen-Buch.
Abgelehnt wurde das Manuskript, weil es zu umfangreich sei und auch, weil die Dialoge darin in Slang geschrieben wurden. Genau das aber war eine stilistische Entscheidung von großer Tragweite, die nicht zuletzt die Frage der Authentizität betraf, und in diesem Punkt seine volle Berechtigung besitzt, denn soziale Herkunft, die zu gesellschaftlichen und rassistisch begründeten Ausschlüssen führt, hängt schließlich auch mit der Sprache zusammen. Sprache bildet nicht nur Machtverhältnisse ab, sie macht die Sozialisation von Menschen im wahrsten Sinne hörbar. Carter lässt darüber keinen Zweifel aufkommen, dass dem so ist, und macht das über annähernd 750 Seiten in all seiner Alltäglichkeit deutlich, mal offen, mal verdeckt. So oder so, es bleibt etwas Gewaltvolles. Aber das verleiht der Literatur gleichermaßen Gewicht.
Carter nimmt sich Zeit beim Erzählen, er beobachtet ganz genau und gibt akribisch wieder, was er an den Menschen und zwischen ihnen beobachtet, ihre Haltungen, ihre Gewohnheiten, ihre Erscheinung und was ihm im Stadtraum dazu auffällt. Physiognomien sind hier wie dort für Carter etwas Essentielles, also im Menschlichen wie in Lebensräumen. Und da ist nichts zu gering, um nicht in diese gewaltige Inventur aufgenommen zu werden. So wie Menschen einen Charakter besitzen, so auch die Straßen, in denen sich die Menschen bewegen und aufhalten, wo sie arbeiten, sich vergnügen und manchmal um ihr Leben bangen. Inventarisiert wird alles – auch die Lichter und Farben, die Gerüche und Geräusche und immer wieder Natur im Wechsel der Jahreszeiten, die mal absichtsvoll als Park und Garten oder ein andermal zufällig als Brache die Hausreihen und Straßen unterbricht. Und ganz wichtig die Musik, der Jazz, der aus den Wohnungen wie aus den Lokalen förmlich quillt, als beschreibe Carter eine Art akustischen Stadtplan samt quietschender Straßenbahnen und vorbeirasender Autos.
Durchdringende Aromen von saurem Wein, Innereien, Gewürzen, frischem und gepökeltem Fleisch, Käse, Sauerrahm in Holzeimern und Dillgurken […] überlagerten den Gestank nach Schweiß, Flaschen mit abgefülltem Schnaps, Fischtran, Bratrost und Bier.
Amerigo wächst Ende der 1920er Jahre in einer kleinen Nebenstraße der Campbell Street im Norden von Kansas City auf, die den Namen Cosy Lane trägt. Dort wohnen fast ausnahmslos Schwarze. Seine Eltern sind Viola und Rutherford Jones. Sie arbeitet in einer Wäscherei, er ist Hausmeister in einem Hotel, trotzdem fehlt es ständig an Geld. In den USA herrscht wirtschaftliche Depression. Auf die Frage, was das sei, bekommt Amerigo die Antwort: „Depression heißt Bohnen mit Speck statt T-Bone-Steak mit roter Soße! Heißt sieben Tage die Woche malochen un am Zahltag bloß der halbe Lohn – oder gar nichts – un noch froh darüber sein […].“
Die Umgebung nimmt Amerigo als Träumer wahr. Einmal heißt es, er wünschte sich, jemand würde etwas Weiches und Tiefes in ihm verstehen. Carter schildert ihn als sinnliches Kind, der mehr und anderes wahrnimmt als die meisten anderen. Mal heißt es, er habe einen Predigerkopf, und ein andermal glaubt sein Vater, Amerigo würde eines Tages Präsident werden. „Warum nicht? Ja! Warum nicht! Man ist nicht größer als seine Träume […].“
Aber der Träumer, den die anderen warum auch immer für etwas Besonderes halten, kann ebenso gut im nächsten Moment der Dummkopf sein. Und dann heißt es: „Hast keinen Funken Verstand im Kopf!“ Bücher ziehen ihn magisch an und er ist fest entschlossen, sie alle lesen zu wollen. Doch die Bücher lassen ihn weder sich selbst noch die Erwachsenen besser verstehen. Er selbst wird nie begreifen, sondern nur mit der Zeit verdrängen, dass er eine kleine Katze so lange vom Balkon der Wohnung auf den Hof geworfen hat, bis sie dort unten tot liegen blieb, und er ihren leblosen Körper in einem leerstehenden Haus versteckt. Der Aasgeruch wird ihn eine Weile daran erinnern, und ebenso der Prediger, der in die Gemeinde ruft: Wer trage von den Anwesenden „kein Geheimnis tief verschlossen in seinem Herzen“. Dabei hieß es, Katzen hätten sieben Leben.
Was sich auf der Straße abspielt, während die Bewohner im Sommer auf den Veranden vorm Haus sitzen, gleicht nicht selten einem anarchischen Straßentheater, das der Autor grell und laut nachinszeniert – da tritt ein völlig verwirrtes Paar auf und wird zum Gespött für die Leute. Lachen und Gewalt gehören zusammen und bringen Stimmungen zum Kippen, alles geht unter in Spott und es dominieren unklare Grenzziehungen des Erlaubten. Auch das eine irritierende Erfahrung für Amerigo über die Relativität ethischen Verhaltens und den ewigen Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Und dann ist da das Schwarzsein: „Er fuhr sich mit den Fingern über das Gesicht, um zu sehen, ob man die Schwärze fühlen konnte und um die Angst zu begreifen, die das Wort schwarz in ihm auslöste.“ Als er sich später neben der Schule ein paar Dollar verdienen will, erfährt er wie Rassismus sich auch anfühlen kann. In einem Hotel wird er keines Blickes gewürdigt, als sei er Luft. Er ist sich sicher, wäre er ein weißer Junge, hätten sie ihm irgendeine Arbeit gegeben. Als er nebenbei als Schuhputzer arbeitet, sagt man ihm, er solle dabei lächeln und die Kunden ansprechen. Doch Amerigo will nicht „Onkel Tom für die Weißen“ spielen.
Sein Körper wand sich unbehaglich in der engen schwarzen Haut. Sie presste seinen Körper zusammen wie ein Gummianzug, der ihm […] zu klein war. Seine Gedanken wollten sich ausdehnen, wurden jedoch von einer festen Wand aus Haut eingeschnürt.
Amerigo lernt noch mehr, als er sich in die Tochter eines wohlhabenden Schwarzen verliebt, dass es nämlich soziale Schranken auch innerhalb der Schwarzen Community gibt, die ihn auf Distanz halten. Darum will er Dichter wie Langston Hughes werden und Gedichte für seine Geliebte schreiben, die sie lesen wird. Und er bekommt mit, wie wichtig immer wieder die Frage ist, wie hell oder dunkel das Schwarzsein ist. Und schließlich das N-Wort, das ihn auf Schritt und Tritt verfolgt. Sein Vater lehrt ihn: „Wenn dich jemand so nennt, achte einfach nicht darauf. Ist schon komisch. Wenn dich ein Weißer so nennt, würdest du ihn am liebsten umbringen, aber untereinander nennen wir uns ständig so.“
Vincent O. Carters Coming-of-Age-Geschichte fließt in einem breiten Erzählstrom dahin. Irgendwann ist im Land die Depression überwunden, aber das Leben wird nicht besser, sondern nur anders. Amerigo ist dabei, erwachsen zu werden, doch die Fragen bleiben und ebenso die Gleichgültigkeit der für ihn unerreichbaren Geliebten. Der nächste Weltkrieg kommt in den Blick. Vorerst sind es noch Tagesmeldungen in den Zeitungen, aber es wird nicht lange dauern und Amerigo wird die Alte Welt als Soldat kennenlernen. Mit genau dieser Szene beginnt der Roman auf den ersten dreißig Seiten, um dann alles tief aus der Erinnerung zu holen.
Man mag dieses dramaturgische Detail bewerten wie immer man will, der Kritiker der New York Times beispielsweise hielt diese halluzinatorische Montage für die am wenigsten gelungenen Seiten im Buch. Nun gut, dafür sind die restlichen siebenhundert großartig zu nennen. Der Übersetzerin pociao ist in Zusammenarbeit mit dem Übersetzer Roberto de Hollanda für eine beeindruckende Übersetzung zu danken, indem sie sich ganz auf Carters panoramatische Detailverliebtheit eingelassen haben, um das Epische immer wieder kammerspielhaft zu verdichten. Ebenso ist dem Limmat Verlag dafür zu danken, diesen Roman ins Programm genommen zu haben – eine literarische Entdeckung.
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