Wenn Bücher Geschichten über das Erzählen von Geschichten erzählen

Über Roderick Caves und Sara Ayads „Die Geschichte des Kinderbuchs in 100 Büchern“

Von Philipp SchmerheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Schmerheim

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kindern Geschichten zu erzählen oder ihnen Lieder vorzusingen, ist eine anthropologische Konstante. Als Zielgruppe der Buchwirtschaft hingegen wurden Kinder erst im Laufe der Neuzeit entdeckt, einhergehend mit dem wachsenden Lektüre- und Lehrbuchbedarf zunehmend alphabetisierter Gesellschaften. Damit hat sich auch eine reichhaltige Kinderbuchtradition herausgebildet, die im Fokus der Geschichte des Kinderbuchs in 100 Büchern von Roderick Cave und Sara Ayad steht.

Der 272 Seiten starke Bildband ist weniger eine Literaturgeschichte denn ein buchwissenschaftlich geprägter Überblick über die Entwicklung des Buchmarkts für Kinder der vergangenen gut 500 Jahre, der in diesem Rahmen auch auf literarische Entwicklungen eingeht. Dementsprechend dominieren in den elf Kapiteln dieser liebevoll gestalteten und wertig ausgestatteten Kinderbuchgeschichte Beobachtungen etwa zur Entwicklung des Buchdrucks oder zu innovativen Vermarktungsstrategien einzelner Verlage. Jedes der Kapitel besteht aus einem kompakten vier- bis sechsseitigen Einführungstext zum entsprechenden Schwerpunktthema sowie aus einer Reihe von Doppelseiten, auf denen exemplarische Bücher, Buchsorten oder kinderliterarische Genres vorgestellt werden. Mit dieser Kombination aus fundierter Recherche und auch für ein Laienpublikum ansprechender Präsentation füllt Die Geschichte des Kinderbuchs in 100 Büchern eine Lücke im Bereich der Kinder- und Jugendbuchforschung.

Cave und Ayad arbeiten in der Bibliotheks- und Verlagswelt: Der Bibliothekar Cave ist in der angloamerikanischen Welt als Berater für Bibliotheken, Museen und Universitäten tätig, Ayad als Bildrechercheurin für britische Kunstinstitute.

Bereits Einband, Schmutztitel und Titelseite verdeutlichen den Fokus des Bands: Es geht um Bücher als materielle Gegenstände. Betont wird die Materialität und Erscheinungsvielfalt des Kinderbuchs als solchem ebenso wie dessen buchstäblicher Charakter als Gebrauchsgegenstand, der Kinderbuchverleger über die Jahrhunderte hinweg dazu gebracht hat, mit Buchformaten wie Mini-, Pop-Up-, Fühl- oder Stoffbüchern zu experimentieren. Das Resultat ist ein staunenswertes Kaleidoskop buchhafter Erscheinungsformen, das in der Geschichte des Kinderbuchs in 100 Büchern anhand von zahlreichen Abbildungen vorgeführt und mittels kompakter und kenntnisreicher Überblickstexte eingeordnet wird. Damit entsteht ein exemplarischer, lebhafter Eindruck nicht nur der Entwicklung des neuzeitlichen Kinderbuchs, sondern auch des Erzählens und Schreibens für Kinder.

Dem buchwissenschaftlichen Schwerpunkt entsprechend, ist das Buch allerdings explizit keine Zusammenstellung von „Klassikern“:

Die ‚100 Bücher‘ sind ausdrücklich nicht die ‚Klassiker‘ oder die ‚besten‘, manche interessieren uns, weil sie ziemlich schlecht oder unangenehm sind. Viele interessieren heutige Kinder dafür überhaupt nicht mehr. Wir haben versucht, anhand der Bücher wichtige Innovationen der letzten etwa 300 Jahre in der Buchherstellung, im Marketing und Vertrieb vorzustellen.

Dementsprechend diskutieren Cave und Ayad auch Werke, Gattungen und Buchformate, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung eher ein Nischendasein führen. So thematisieren sie im fünften Kapitel kleinformatige Bücher und skizzieren dabei sinnigerweise die Publikationsgeschichte von Erzählungen wie Gulliver’s Travels, Jack the Giant Killer oder The Gigantick History of the two famous Giants, and other Curiosities. Im dritten Kapitel widmen sich die Autoren ausführlich verschiedenen Abecedarien (die als solche in Didaktik und Erziehungswissenschaft gut erforscht sind), thematisieren dabei aber auch die Funktion dieser Buchgattung für die Erziehungssysteme in den ehemaligen europäischen Kolonien in Übersee. Immer wieder deutlich wird dabei das Zusammenspiel zwischen der narrativen und didaktischen Funktion von Kinderbüchern, ebenso der Umstand, dass das Geschichtenerzählen für Kinder immer auch von den jeweiligen gesellschaftlichen Kindheits- und Moralvorstellungen abhängig ist.

Zwar liegt der inhaltliche Fokus des von Anke Albrecht elegant aus dem Englischen übersetzten Bands auf dem anglo-amerikanischen Raum, exemplarisch werden aber auch deutschsprachige Werke thematisiert – und zwar mit dem bereits erwähnten buchwissenschaftlichen Einschlag. Beispielsweise reüssiert Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter weniger als exemplarischer Vertreter einer schwarzen Pädagogik als vielmehr als Beispiel für urheberrechtliche Strategien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, erschien die englischsprachige Ausgabe des Struwwelpeter doch in Leipzig, um zwecks Vermeidung von Raubdrucken ein Urheberrechtsabkommen zwischen dem Staat Sachsen und Großbritannien auszunutzen. Zugleich zitieren Cave und Ayad Hoffmann damit, dass Kinderbücher „nicht allein zum Betrachten und Lesen, sondern auch zum Zerreißen bestimmt“ seien, und dass die Qualität des Buchdrucks dem entsprechen solle. Somit dient auch der Struwwelpeter dazu, das wiederkehrende Leitmotiv des Kinderbuchs als Gebrauchsgegenstand zu thematisieren.

Ebenfalls vertreten ist Friedrich von Rochows Der Kinderfreund (1776) als Beispiel für den aufklärerischen Trend zu Lesebüchern oder Erich Kästners Emil und die Detektive als Beispiel für eines der wenigen deutschsprachigen Kinderbücher, die für den englischsprachigen Raum übersetzt werden. Überhaupt werden nicht-englischsprachige Kinderbuchkulturen exemplarisch aufgegriffen, etwa um den Einfluss sowjetischer Kinderbücher auf die illustratorische Gestaltung westeuropäischer Kinderbücher zu besprechen.

Alles in allem ist Die Geschichte des Kinderbuchs in 100 Büchern ein gelungener Balanceakt zwischen einer Geschichte des Kinderbuchmarkts und einem Kaleidoskop des Geschichtenerzählens für Kinder. Der Bildband eignet sich nicht nur als opulentes Geschenk, sondern dank der kenntnisreichen, durch Glossar, Bibliografie und Register ergänzten Begleittexte auch zur Unterstützung entsprechender Lerneinheiten im Schulunterricht oder in der universitären Lehre.

Titelbild

Roderick Cave / Sara Ayad: Die Geschichte des Kinderbuches in 100 Büchern.
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2017.
272 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783836921237

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