Das Wesen des Sehens

Teju Coles Foto-Text-Band „Blinder Fleck“

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum fotografieren Menschen? Im Selfie-Zeitalter könnte man meinen, Menschen fotografierten immer wieder die ewig gleichen Motive, um ihr jeweiliges Mittagessen, ein weiteres Katzenbild oder ein Selbstporträt mit anderen zu teilen. Die Grundstruktur des Fotografierens, die dabei fast in Vergessenheit gerät, hat Roland Barthes in Die helle Kammer beschrieben: Es ist der Wunsch, einen bestimmten Anblick festzuhalten. Barthes spricht deswegen von der spezifischen „Melancholie“ des Mediums Fotografie, die stets daran erinnert, dass der von ihr eingefangene Augenblick vergänglich ist, weil er, bereits im Moment der Aufnahme, vergangen ist.

Warum fotografiert Teju Cole, den man in Deutschland vor allem als Autor des Romans Open City kennt? Bei der Lektüre von Blinder Fleck gewinnt man den Eindruck, Fotos erfüllen bei ihm die gleiche Funktion wie bei anderen Menschen Notizzettel: Sie sollen ihn an etwas erinnern, eine Geschichte, einen Gedanken. Wie er selbst im Nachwort schreibt, dient ihm die Kamera als „Verlängerung meines Gedächtnisses“. Entsprechend sind die abgebildeten Fotos in Blinder Fleck nur zum Teil schön im klassischen Sinn. Es sei, schreibt Cole, „kein Verzicht auf Schönheit, vielmehr die Suche nach ihr an dem Typischen vorbei im Gewöhnlichen“. Das ist nach dem Bauhaus, Neuer Sachlichkeit, Pop-Art und so weiter natürlich nichts Ungewöhnliches mehr.

Coles Fotos sehen jedoch mitunter wirklich unprätentiös aus, wie beiläufig entstanden, so wie man auch beim Notizenmachen nicht in Schönschrift schreibt. Etwa sein Foto von dem 2000 Meter hoch gelegenen Gemmipass, den er deswegen mit einem Foto festhielt, weil, wie Cole erläutert, Sherlock Holmes und Doktor Watson dort auf dem Weg zu Professor Moriarty gewesen sein sollen und weil James Baldwin auf dem Pass der Titel für seinen Roman Von dieser Welt eingefallen ist.

Die Themen Erinnerung, Melancholie und Trauer, der Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart durchziehen Coles Romane, und genauso gehören seine eigenen Fotos seit dem Debüt Jeder Tag gehört dem Dieb zu Coles Œuvre. Cole, der als Kunsthistoriker für das New York Times Magazine schreibt, interessiert beim Fotografieren stets das Sehen selbst beziehungsweise das Nichtgesehene, die „Grenzen des Sehens“, das, was einem selbst beim Sehen verborgen bleibt, der blinde Fleck des eigenen Sehfeldes. Insbesondere in seiner Essaysammlung Vertraute Dinge, fremde Dinge hatte Cole dieses Motiv mit dem blinden Fleck der US-amerikanischen und europäischen Gesellschaften und den Themen seiner Romane verknüpft: den Rassismus, die Migration, Flucht, Sklaverei. Das Eigentümliche des biologischen blinden Flecks, des Punkts, an dem der Sehnerv ansetzt und an dem das Auge selbst nichts registriert, ist, woran Siri Hustvedt im Vorwort erinnert, dass wir ihn nicht – etwa als Lücke im Gesichtsfeld – bemerken. So sieht auch eine Gesellschaft nicht, was ihre Ordnung prägt, oder kann ihren Rassismus mühelos ausblenden.

Der Titel Blinder Fleck bezieht sich außerdem auf eine autobiografische Erfahrung: Im Frühjahr 2011 war der damals 35-jährige Cole für einige Zeit auf einem Auge blind. Wer Coles Romane und Essays kennt, wird in Blinder Fleck von den religiösen Sprachbildern und Bibelgeschichten überrascht sein. Als Jugendlicher war Cole tiefreligiös und fühlte sich zugleich zu Höherem berufen, sammelte „Getreue unter den Mitschülern“ um sich. Einen stark kurzsichtigen Mitschüler glaubte der 15-Jährige durch Handauflegen heilen zu können. Das einige Zeit währende eigene Erblinden hat Cole später selbst die Augen auf neue Weise geöffnet: „Gerade die Zufälligkeit und Flüchtigkeit des Sehens erschaffen das lang ersehnte Wunder.“

Die religiöse Sprache in Blinder Fleck kann dabei helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass die Fotografie in ihren Anfängen selbst als ein Wunder erschien, als würde die Natur von selbst, mit ihrem Licht, Bilder malen. Einer der Erfinder der Fotografie, William Talbot Fox, nannte seine Fotografien deswegen „Lichtzeichnungen“. „Fotografieren ist Schattenwerk, kontrollierte Offenbarung“, schreibt Cole: „Mir kommt das Lukasevangelium in den Sinn: ,Darum, was ihr in der Finsternis saget, das wird man im Licht hören; was ihr redet ins Ohr in den Kammern, das wird man auf den Dächern predigen.ʻ Jede Fotografie ist, einmal gesehen, einmal aus der kleinen, dunklen Kammer entlassen, erfüllte Prophetie.“

In Jeder Tag gehört dem Dieb und Open City dient der Satz von William Faulkner, „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“, als Leitmotiv. Über die unvergangene Vergangenheit lässt sich nicht nur schreiben, sie lässt sich auch im Bild festhalten. Von einer Wand in einem Café schreibt Cole, sie „hing voller Postkarten und Bilder aus der Frühgeschichte ihres Landes“. Cole fotografiert häufiger die Bilder Anderer, wie das zum Beispiel Luigi Ghirri seit den 1970er Jahren macht. Manchmal scheint es, als habe Cole den Stil großer Fotografinnen und Fotografen kopiert, um zum Beispiel die Arbeitsweise Stephen Shores besser zu verstehen. An einer Stelle schreibt Cole, er sei „nach São Paulo gekommen, um einem alten Fotomotiv nachzuspüren“. Oder er fotografiert, wie andere Menschen andere sehen. Zu einem Foto aus Berlin, das zwei Männer von hinten zeigt, erklärt Cole: „Nach kurzer Zeit ist der Mann unter den Bäumen weitergegangen. Er hat nichts bemerkt von der Doppelung in seinem Rücken, und der Mann, der ihn doppelt, hat ihn nicht bemerkt, oder wenn doch, gewiss nicht bemerkt, dass er ihn bemerkt. Es gibt in jedem Augenblick Tausende solcher Echos und Entsprechungen.“

Die zitierten Sätze Coles zeigen den Stil der Texte in Blinder Fleck. Kurze, oft poetische Stücke, die Grundsätzliches behandeln, oder kleine Geschichte mit einer philosophischen Pointe. Die Fotografien daneben scheinen ohne lange Vorbereitung entstanden zu sein – aber in Kombination mit den Texten werfen sie grundsätzliche Fragen über das Wahrnehmen und das Für-Wahr-Nehmen, über das Sehen und Gesehenwerden auf. Um zu wissen, ob Coles Fotografien für sich selbst stehen können, müssten sie ohne längere Begleittexte ausgestellt oder abgebildet werden. Eines macht Teju Coles Foto-Text-Band Blinder Fleck erneut deutlich: Er ist ein begnadeter Schriftsteller.

Titelbild

Teju Cole: Blinder Fleck.
Übersetzt aus dem Englischen von Uda Strätling.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
352 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258501

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